Ruanda, dreizehn Jahre nach dem Völkermord
In Ruanda - so will es die Regierung - gibt es nur noch Ruander, keine Ethnien. Nur bei der Vergangenheitsbewältigung werden alle Hutu als Täter und alle Tutsi als Opfer betrachtet. Aber weder Hutu noch Tutsi wollen sich mit dieser pauschalen Einteilung abfinden. Die Wut, nicht verstanden oder zu Unrecht bestraft zu werden, wächst. Das ist keine Grundlage für Versöhnung, sondern eher der Nährboden für einen neuen Konflikt.
von Gerd Hankel
Ende Januar 2007 soll es wieder einen Anschlag auf Präsident Paul Kagame gegeben haben. Bei der Rückkehr in die Hauptstadt Kigali soll die Fahrzeugkolonne mit dem Auto des Präsidenten in einen Hinterhalt geraten sein. Kagame habe nur durch einen Zufall überlebt, heißt es, doch seien sechs Leibwächter und wenigstens elf Zivilpersonen getötet worden. Wer die Täter waren, welche Motive sie zu ihrer Handlung trieben und was danach mit ihnen geschah, ist nicht bekannt. Unklar ist auch, wo die Hintermänner des Anschlags zu suchen sind. Die einen vermuten sie in Kreisen ehemaliger ruandischer Spitzenpolitiker und hoher Militärs, die in internen Machtkämpfen unterlegen waren, das Land verlassen mussten und seitdem auf Rache und gewaltsame Rückkehr sinnen.
Andere sehen den ugandischen Geheimdienst am Werk, der, gewissermaßen zur Abstrafung eines zu selbständig gewordenen Schützlings danach trachtet, das Land nach Kräften zu destabilisieren (Kagame war längere Zeit Geheimdienstchef des ugandischen Staatspräsidenten Yoweri Museveni, wofür dieser sich mit der Unterstützung von dessen Machtergreifung in Ruanda bedankt hatte). Wieder andere zögern keine Sekunde, die Schuld bei Frankreich zu suchen, dem Land, das derzeit in Ruanda für das Böse schlechthin steht. Schließlich gibt es noch eine Meinung, die das ganze schlicht für eine getürkte Geschichte hält. Putsch- und Attentatsgerüchte habe es in der Vergangenheit schon des Öfteren gegeben. Jedoch seien die näheren Umstände immer im Dunkeln geblieben, so dass nie überprüft werden konnte, was an den Gerüchten dran gewesen sei. Was also spreche jetzt dagegen, dass es sich wieder um ein Gerücht handele, um ein gezielt gestreutes obendrein? Aus Sicht von Regimegegnern gebe es schließlich wohl kaum ein besseres Mittel, um die Instabilität des Regimes in Kigali zu demonstrieren. Und andererseits könnte das Regime selbst das Attentatsgerücht als Vorwand nutzen, das ohnehin schon enge Netz staatlicher Überwachung noch enger zu ziehen.
Es ist schwer, heute, gut dreizehn Jahre nach dem Völkermord, die aktuelle Situation in Ruanda zu beschreiben, geschweige denn einen zusätzlichen Blick auf die mögliche Perspektive des Landes zu wagen, ohne dass die Beobachtungen und Prognosen sofort in Zweifel gezogen werden. Das liegt nicht nur an der Menge einander widersprechender Meinungen, Vermutungen oder Unterstellungen, die geäußert werden, wenn die Rede auf Ruandas Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kommt.
Der eigentliche Grund ist, dass diese Äußerungen gewöhnlich im Gewand von unverrückbaren Wahrheiten daherkommen, die wegen ihrer moralischen Botschaft keinen Widerspruch dulden. Wo es um hunderttausendfachen Mord, um massenhafte Vergewaltigung und um Formen menschlicher Misshandlung und Erniedrigung geht, die pauschal als Folter zu bezeichnen beinahe einer Erleichterung gleichkommt, ist Eindeutigkeit in der Zuweisung von Verantwortlichkeit und Schuld gefragt. Jeder Versuch der Differenzierung wird schnell als intellektuelle Komplizenschaft gedeutet, jeder selbst vorsichtig vorgebrachte Einwand entweder als unziemliche Kritik an der Aufbauleistung des Landes oder als Zweifel an der doch so offenkundigen Abgefeimtheit der jeweils anderen Seite gewertet.
"Präsident Kagame und die von ihm eingesetzte Regierung sind ein Segen für Ruanda", erklärte mir unlängst Augustin N., ein hoher Mitarbeiter der nationalen Behörde für die die Gacaca-Justiz, jener Form der traditionellen Streitschlichtung, die seit 2002 in erster Linie zur Aufarbeitung des Völkermords genutzt wird. "Kagame und seine Bewegung, die Ruandische Patriotische Front (Front Patriotique Rwandais - FPR)", so fährt er fort, "haben das Land von dem rassistischen, völkermörderischen Regime des früheren Präsidenten Habyarimana befreit. Während das Ausland untätig zuschaute, haben sie uns vor der völligen Vernichtung gerettet. Ihnen verdanken wir alles, ohne sie lebten wir heute noch, wenn wir denn überlebt hätten, in einem ethnisch zerrissenen Land, in Unsicherheit und einem Klima der Gewalt. Ja, man kann sagen, dass die FPR eine Art Religion ist. Wenn die Ruander ihr folgen, werden sie ihr Heil finden."
Wer das für eine in ihrem Pathos übertriebene Einzelmeinung hält, dem sei ein kurzer Blick in die auflagenstärkste Zeitung des Landes empfohlen. The New Times heißt sie, und der Name ist durchaus programmatisch gemeint. Sie versteht sich nämlich ganz als Sprachrohr einer neuen Zeit, welche die Lehren aus der gewaltgeprägten Vergangenheit des Landes ziehen will, rein äußerlich schon an dem Wechsel vom Französischen zum Englischen hin erkennbar, der Sprache, die von der neuen Führung Ruandas gesprochen wird. In dieser Zeitung also ist in jeder Ausgabe eine Reihe von Artikeln zu finden, die von den verschiedensten Seiten das ganz am Wohle Ruandas orientierte Wirken Kagames oder seiner Regierung beleuchten. Naht ein nationaler Gedenktag - wie am 4. Juli der Tag der Befreiung (Tag des endgültigen militärischen Sieges über das Habyarimana-Regime im Jahr 1994) oder am 1. Februar der Heldengedenktag (zur Erinnerung an die Ruander und Ruanderinnen, die in besonders heroischer Weise im Kampf gegen das alte Regime ihr Leben gelassen haben - , dann quillt The New Times förmlich über vor Ergebenheitsadressen an die Regierung, an die FPR und vor allem an deren Führer Paul Kagame. Kein Ministerium, keine nationale Behörde und kein Unternehmen fehlen, wenn es dann einzustimmen gilt in den Ruf: Long live the President, long live Rwanda! Und bisweilen scheint es, als fiele es auch ausländischen NGOs schwer, sich nicht von der sich kollektiv gebenden Begeisterung anstecken zu lassen. Der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) und der Zivile Friedensdienst (ZFD) ließen es sich jedenfalls nicht nehmen, anlässlich der Parlamentswahl im Herbst 2003, deren Ergebnis der vorher sorgfältig betriebenen Auswahl der Wahlkandidatinnen und -kandidaten genauestens entsprach, in einer großformatigen Anzeige Ruanda zu seiner weltweit höchsten Frauenquote im Parlament zu beglückwünschen.
Naives Gutmenschentum und im besten Falle erschreckende Unkenntnis über die wahre Situation in Ruanda sieht Jean Mbanda, ehemaliger Abgeordneter der sozialdemokratischen Partei Ruandas und wegen eines kritischen Briefs an Kagame von 2000 bis 2003 im Gefängnis, in diesen und vergleichbaren Reaktionen. "Das Ausland sollte endlich zur Kenntnis nehmen, wie sehr die Ruander betrogen worden sind. Um der Macht willen haben Kagame und seine FPR den Völkermord ins Kalkül gezogen und akzeptiert, zu keinem Zeitpunkt hat auf ihrer Seite der Wille bestanden, eine friedliche Lösung für eine Rückkehr der Tutsi nach Ruanda zu suchen (Gemeint sind hier die Nachkommen der Tutsi beziehungsweise die Tutsi selbst, die ab 1959 im Rahmen der so genannten sozialen Revolution" von der Hutu-Mehrheit aus dem Land vertrieben wurden und größtenteils nach Uganda und Burundi flüchteten; Anmerkung des Autors). Dass in Ruanda ein Klima des Misstrauens und der Angst herrscht, ist das Ergebnis des Versuchs, mit aller Gewalt die Lüge von der Befreiung des Landes als die alleinige Wahrheit durchzudrücken. Das kann und wird nicht gut gehen, und schon jetzt ist die Stimmung im Land so explosiv wie 1994."
Wer nun meint, es hier mit der Meinung eines unverbesserlichen Hutu-Extremisten zu tun zu haben, irrt. Nicht, dass es eine solche Meinung auf Seiten der Hutu nicht tatsächlich gibt. Es gibt sie, und zwar in weitaus größerer Zahl, als es die offizielle Versöhnungsrhetorik wahrhaben will. Nein, was die Meinung von Jean Mbandas so bemerkenswert macht, ist der Umstand, dass er selbst Tutsi ist. 27 Familienmitglieder hat er während des Völkermords verloren, und er selbst hat nur überlebt, weil ihm rechtzeitig die Flucht nach Burundi geglückt ist.
Wie, so wird man sich jetzt wahrscheinlich fragen, ist es denn überhaupt möglich, dass es im heutigen Ruanda derart gegensätzliche Meinungen gibt? Und diese Frage ist umso berechtigter, als die einerseits geradezu hagiographische, andererseits diabolisierende Sichtweise aus den eingangs erwähnten Gründen nicht nur existiert, sondern dass sie - und das ist ein entscheidender und zugleich verwirrender Faktor - immer stärkere Verbreitung findet. Die innergesellschaftliche Bruchlinie verläuft dabei nicht zwischen Hutu und Tutsi, den - wie gemeinhin und zu pauschal gesagt wird - Tätern und Opfern des Völkermords. Sie verläuft auch, wie im Falle von Augustin Nkusi und Jean Mbanda, selbst innerhalb der jeweiligen Bevölkerungsgruppen der Tutsi und Hutu. Tutsi, die erst nach dem Völkermord nach Ruanda zurückgekehrt sind, stehen solchen gegenüber, die den Völkermord im Land er- und überlebt haben. Hutu, die hohe Positionen wie die eines Ministers oder Staatsekretärs bekleiden, der großen Menge derjenigen, auf die pauschal der Vorwurf der heimlichen Sympathie für den Völkermord lastet.
Wie verhält sich diese Gegensätzlichkeit, so ist weiter zu fragen, mit der in Ruanda schon seit Jahren propagierten und in etlichen Projekten praktizierten Politik der Einheit und Versöhnung, wonach es keine Hutu und Tutsi mehr, sondern nur noch Ruander gibt? Und was, wäre schließlich noch zu fragen, hat eigentlich die finanzielle Hilfe des Auslands genutzt, die, nicht zuletzt auch als moralische Kompensation wegen des Versagens im April 1994, als die Weltgemeinschaft den beginnenden Völkermord ignorierte, so reichlich wie in keinem anderen Land in die Bereiche wie "Aufbau einer Zivilgesellschaft", "Stärkung der Justiz" und "Förderung von Demokratie und Menschenrechten" geflossen ist und weiterhin fließt? Was haben die vielen Experten der Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda überhaupt bewirkt?
Wer Kigali heute sehe, müsse unwillkürlich an das Bild vom Phönix aus der Asche denken, meinte mir gegenüber unlängst der deutsche Botschafter Christian Clages, der diesen Posten in Ruanda seit August 2006 innehat. In der Tat ist, wenn man den Zustand der Stadt nach Krieg und Völkermord bedenkt, durchaus eindrucksvoll, was in den letzten Jahren in Kigali geschehen ist. Banken, Versicherungen und sogar die Caritas haben Verwaltungs- und Bürogebäude gebaut, die mit ihren Glasfassaden bruchlos in jede deutsche Großstadt passen. Geschäftszentren sind entstanden und weitere sind gerade im Bau, die Verkaufsstellen der Kleinhändler oftmals war das nur ein Pappkarton auf einem Stein und hygienisch überaus bedenklich sind verschwunden. An ihrer Stelle stehen nun Kioske, in denen unter anderem Handys und Telefonkarten verkauft werden. Am Straßenrand sind Papierkörbe installiert. Viele Straßen, die früher, da mit tiefen Schlaglöchern übersät, zu kurvenreichen Fahrten zwangen, sind ausgebessert worden. Motorradfahrer sind mit Schutzhelm unterwegs und haben, wenn sie als Taxi arbeiten, noch einen Helm für den Fahrgast dabei. Die Verkehrszeichen sind neu - und werden beachtet. Sogar die Zebrastreifen sind, vermutlich einmalig in Afrika, mehr als nur irgendwelche weißen Streifen auf der Fahrbahn, sondern ihrem Zweck entsprechend die zumeist respektierte Aufforderung an die Autofahrer, Fußgängern den Vortritt zu lassen.
Bis zum Jahr 2020 soll das, was derzeit in Kigali geschieht, Auswirkungen auf andere Städte Ruandas gehabt und das Land insgesamt in einen Modernisierungssog gezogen haben. Statt Subsistenzwirtschaft zu betreiben, soll die Landwirtschaft exportieren können, dank des umfassenden Einsatzes von Informationstechnologie soll Ruanda Dienstleistungszentrum und Drehscheibe für den Handel im Gebiet der Großen Seen sein und mit einem Anstieg des durchschnittlichen Jahreseinkommens von gegenwärtig etwa 250 Dollar auf 900 Dollar pro Person die Armut endgültig der Vergangenheit angehören. Ja, wenn in Regierungskreisen an die Zeit jenseits des "Vision 2020" betitelten Projekts gedacht wird, ist sogar manchmal zu hören, dass Ruanda in nicht ferner Zeit gar zu einem Singapur Afrikas werden könne.
Zu diesem Bild eines sich modernisierenden, nicht in pittoresker Folklore erstarrten Landes, das Ruanda von sich vermitteln will, gehört auch ein entsprechendes Selbstbewusstsein auf der internationalen Bühne. In der afrikanischen Entwicklungsbank stellt Ruanda den Direktor. In der "Neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung" (NEPAD), einem Zusammenschluss afrikanischer Staaten, die good governance als Voraussetzung ihrer Entwicklung begreifen, sieht sich Ruanda als die treibende Kraft, und in der Afrikanischen Union war es wieder Ruanda, das sich als erstes Land Afrikas bereit erklärte, eine Friedenstruppe nach Darfur zu schicken. "Unsere eigenen schmerzhaften Erfahrungen der Vergangenheit verpflichten uns, dafür einzutreten, dass anderen Völkern nicht das gleiche Schicksal widerfährt", hieß es dazu von offizieller Seite.
Überhaupt vergeht so gut wie keine Woche, ohne dass in Ruanda nicht eine Konferenz stattfindet, die sich Friedensfragen widmet oder sich, unter Hinweis auf die eigenen Leistungen, mit diversen Aspekten der Frauengleichstellung oder allgemein mit Strategien zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung beschäftigt. Auch in Schulen und Universitäten finden regelmäßig, unterstützt von in- und ausländischen NGOs, Seminare über Menschenrechte und deren Schutz statt, und selbst das Militär wird auf Fortbildungsveranstaltungen mit den Grundsätzen des humanitären Völkerrechts vertraut gemacht.
Ruanda hat, daran soll kein Zweifel bestehen, die Lektionen aus seiner Geschichte gelernt. Das, was zum Völkermord von 1994 geführt hat, der menschenverachtende Hass auf den anderen und besonders auf die Gruppe der Tutsi, soll sich nicht wieder ereignen dürfen. Deshalb auch genießt das Verbot des Divisionismus, der Spaltung der ruandischen Bevölkerung nach ethnischen Kriterien, einen herausgehobenen Rang in der neuen Verfassung von 2003.
Angesichts dieser Aufzählung mag der Einwand nahe liegen, ob die hier behauptete Zerrissenheit des Landes nicht doch übertrieben sei und die daraus gefolgerten Fragen nicht vorschnell nur einer bestimmten Sichtweise zuneigten. Schließlich sei das Land in den letzten Jahren zu einem sehr sicheren Land geworden, in dem niemand mehr Angst um sein Leben haben müsse. Hutu und Tutsi lebten friedlich zusammen, was doch zeige, dass die Versöhnung auf einem guten Weg sei. Die wirtschaftlichen Erfolge könnten auch nicht ignoriert werden und seien beispielsweise in der Hauptstadt Kigali buchstäblich mit Händen zu greifen.
Beginnen wir mit dem Hinweis auf Kigali. Mit diesem Hinweis ist nämlich zugleich schon eines der Probleme benannt. Kigali liegt zwar in Ruanda, ist aber nicht Ruanda. Das Gefälle zwischen der Hauptstadt und dem Rest des Landes ist immens. Schon in den Randbezirken der Stadt ist die Armut unübersehbar. Verlässt man aber einen der Hauptverkehrswege und begibt sich auf die Hügel, nimmt die Armut ein erschreckendes Ausmaß an. Donnez-moi à manger oder hört man auf Schritt und Tritt, und diese Bitten um etwas zu essen oder um ein wenig Geld zum Kauf von Essen (die erbetenen 100 ruandische Franken entsprechen etwa 14 Euro-Cent) haben nichts von dem sich am Rande zur Geschäftsmäßigkeit bewegenden Betteln im Zentrum von Kigali. Hier geht es um materielles Elend, das in einigen südlichen Regionen Ruandas bereits zu einer regelrechten Hungersnot geworden ist. Zwar versucht die Regierung, die Not durch die Verteilung von Nahrungsmitteln zu lindern, doch ähnelt das sehr dem berühmten Tropfen auf dem heißen Stein.
Was bleibt, ist bei sehr vielen Ruandern das Gefühl, vergessen zu werden oder einfach nur zu stören, weil sie wegen ihrer ärmlichen Existenz ein reales Korrektiv zu den hochfliegenden Plänen der "Vision 2020" sind. Noch gravierender fällt ins Gewicht, dass auch unter den rescapés, den Überlebenden des Völkermords, dieses Gefühl sehr stark verbreitet ist und sie ihre Klagen häufig in die Form eines Vergleichs kleiden, der die Regierung in arge Legitimationsprobleme bringt. "Die Überlebenden des Völkermords leben heute schlechter als vor 1994", sagt Benoît Kaboyi, Generalsekretär von Ibuka ("Erinnere dich"), der größten Opferorganisation Ruandas. Von den Vertreterinnen der Vereinigung AVEGA, in der sich durch den Völkermord zu Witwen gewordene Frauen zusammengeschlossen haben (Association des Veuves du Génocide d'Avril), ist ähnliches zu hören. Und Francine Rutazana, Leiterin einer bekannten Menschenrechtsvereinigung im Gebiet der Großen Seen (Ligue des Droits de la Personne dans la Région des Grands Lacs) und selbst rescapé, meint fatalistisch: "Bis heute, dreizehn Jahre nach dem Völkermord, gibt es kein Entschädigungsgesetz für die Opfer. Was soll man dazu noch sagen?"
Ja, was soll man dazu sagen? Vielleicht zunächst einmal, dass weniger Geld in wirtschaftliche Vorzeigeprojekte in der Hauptstadt investiert werden sollte und mehr in Maßnahmen zur Verbesserung der ländlichen Infrastruktur und in soziale Projekte. Sich hier auf die externen Geber zu verlassen, deren Finanzierung des Staatshaushalts in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen ist und jetzt bei 57 Prozent liegt, schafft neue Abhängigkeiten und wirkt kontraproduktiv.
Dann sollte man vielleicht noch dazu sagen, dass der ruandische Staat etwas weniger das plakative Gedenken an den Völkermord betreiben und stattdessen mit größerer Ernsthaftigkeit und ohne politisches Kalkül auf die Bedürfnisse der Überlebenden eingehen sollte. Sicher, es besteht eine gesetzliche Regelung, wonach von jedem Bruttoeinkommen in Ruanda fünf Prozent in einen Fond zugunsten der Genozidopfer fließen. Doch ist die Zahl der Bezieher eines regelmäßigen Einkommens nicht besonders hoch und außerdem handelt es sich meist um niedrige Einkommen, so dass das Gesamtaufkommen dieser "Sondersteuer" weit hinter dem tatsächlichen Bedarf zurückfällt. Aber eine Geste der Solidarität ist diese Steuer allemal, und eben deshalb ist es für viele Überlebende umso unverständlicher, jedes Jahr in der nationalen Trauerwoche im April mit ansehen und -hören zu müssen, wie ihr Schicksal zum Gegenstand einer Inszenierung gemacht wird, in der es keinen Platz für das während des Völkermords erfahrene Leid und die damit einhergehende Verzweiflung zu geben scheint. In ihren Augen dienen die mediale Zurschaustellung der Verbrechen, die minutiöse Schilderung von Gräueltaten und die Eindeutigkeit der Schuldzuweisung in erster Linie der Legitimation der aktuellen politischen und militärischen Machthaber. Je größer die Dimension der Verbrechen und die Ruchlosigkeit der Täter und wo ist beides größer als bei einem Völkermord? , desto strahlender ist zwangsläufig der Nimbus derer, die diese Verbrechen und die Täter bekämpft und besiegt haben.
Die Opfer und die Überlebenden geraten dann schnell aus dem Blick. Sie drohen, wie sie selbst mit untrüglichem Gespür feststellen, zu Statisten in einer hauptsächlich machtpolitischen Inszenierung zu werden. Das ist für viele umso unerträglicher, als sich ihre individuelle Erfahrung erheblich vom offiziellen Narrativ unterscheidet. Sie sind, so erzählen sie, mitnichten von der FPR gerettet worden, sondern verdanken ihr Überleben den zahlreichen Hutu, die sie trotz der Todesgefahr bei sich aufgenommen und versteckt haben. Andere können bis heute nicht verstehen, warum die FPR 1994 drei Monate brauchte, um das Land zu erobern, wo sie doch Anfang 1993 in nur wenigen Tagen bis an die Stadtgrenze von Kigali vorrücken konnte. Es könnte an dieser Stelle noch einiges von der in Ruanda bestehenden Diskrepanz zwischen offiziell verbreitetem Geschichtsbild und kollektiver Vergangenheitserfahrung berichtet werden. Der dem Völkermord vorangegangene Bürgerkrieg, die Lebenssituation der Ruander vor und nach Beginn des Krieges oder die Rolle Frankreichs im Völkermord wären sehr aussagekräftige Beispiele.
Ein Thema aber steht wie kein zweites für das Selbstverständnis ruandischer Politik. Es besteht genau genommen aus zwei Teilen. Der erste verbirgt sich hinter der Forderung nach einem Ende der "Kultur der Straflosigkeit", womit gemeint ist, dass anders als bei früheren Pogromen gegen Tutsi, als die Täter nicht bestraft wurden, der Völkermord nun aufgearbeitet werden soll, vor ruandischen Gerichten und unter möglichst großer Beteiligung aller Ruander. In Ergänzung dazu steht dann das Ziel der "nationalen Versöhnung", das auf dem Weg der gerichtlichen Aufarbeitung erreicht werden soll. Realistischerweise war es zunächst ein Fernziel, doch rückte es mehr und mehr in die nähere Zukunft. Die Botschaft des Begriffs "Versöhnung" erwies sich als attraktiv und nützlich, und zudem fand sie in der Reaktivierung einer traditionellen Form der Justiz, der Gacaca-Justiz, ein Vehikel, welches die Versöhnung planbar und anschaulich erlebbar machen konnte. Zumindest war das die offiziell geäußerte Hoffnung und für die verschiedensten Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit auch Anlass genug, sich tatkräftig und mit finanzieller Unterstützung an dem Vorhaben zu beteiligen.
Der Gedanke, der der Gacaca-Justiz zugrunde liegt, ist einfach. Wie schon in der traditionellen Variante dieser Gerichtsbarkeit steht nicht allein die Bestrafung des Täters im Vordergrund. Ebenso wichtig ist, dass der soziale Friede wiederhergestellt wird, dass also die Rechtsverletzung zwischen den Betroffenen - in erster Linie sind das die Täter und die Opfer beziehungsweise deren Nachkommen - erörtert und eine Lösung gefunden wird, die allseits hinnehmbar erscheint und als Basis für ein konfliktfreieres Weiter- und/oder Zusammenleben dienen kann. Zentraler Punkt des Gacaca-Gesetzes ist daher die folgende Regelung: Je frühzeitiger ein Beschuldigter seine Beteiligung am Völkermord gesteht und bereut - und zwar vollständig gesteht und aufrichtig bereut - , desto größer ist der Straferlass, der ihm gewährt wird. Im günstigsten Fall kann so ein Mörder, auch ein mehrfacher Mörder, statt zu einer Regelstrafe von 25 bis 30 Jahren verurteilt zu werden, mit einer Freiheitsstrafe von 7 bis 12 Jahren davonkommen. Die Hälfte dieser Strafe kann er dann noch - und das gilt bei allen Geständnissen - in Form von gemeinnütziger Arbeit (Travaux d'intérêt général/TIG) verbüßen. Er wird dann eingesetzt im Wohnungsbau, zu Reinigungsarbeiten oder zu sonstigen Tätigkeiten, die mittel- oder unmittelbar der Allgemeinheit zugute kommen.
Es ist wohl nicht übertrieben, die Gacaca-Justiz in ihrer Übertragung auf die Ahndung von Völkermordverbrechen als ein Zeichen zu sehen, dass einer Politik der ausgestreckten Hand" recht nahe kommt. Gut, die Sachzwänge waren groß und forderten eine baldige Lösung. Weit über 100.000 Häftlinge in den Gefängnissen und Haftbedingungen, die jedem international anerkannten Mindeststandard spotteten, übten einen gewaltigen Druck auf das Justizsystem des Landes aus, der auch durch die Durchführung von jährlich etwa 1300 Strafverfahren gegen Völkermordverdächtige, wie seit Mitte der 1990er Jahre geschehen, nicht ernsthaft gemildert werden konnte. Ein beträchtlicher Teil der Häftlinge hätte bei diesem Tempo schlicht nicht mehr den Beginn des eigenen Verfahrens erlebt.
Doch ob nun aus der Not geboren oder auf politischer Weisheit beruhend, Gacaca-Verfahren finden seit Mitte 2002 statt, und das ist das Entscheidende. Endlich konnten die Überlebenden Aufklärung über das Schicksal ihrer Familienangehörigen erlangen. Sie sahen, dass die Täter mit ihren Taten konfrontiert wurden, dass sie sich erklären mussten und dass sie für ihr Handeln bestraft wurden. "Gerechtigkeit" war ein Schlüsselbegriff, und dass es sie vielen offiziellen Verlautbarungen zufolge nun endlich geben sollte, beflügelte die Hoffnung in dem Maße, wie sie sie nach kurzer Zeit schon wieder enttäuschte. Denn es stellte sich bald heraus, dass Gerechtigkeit so einfach nicht zu haben sein würde. Viele Morde hatten, da im Verlauf von Angriffen und Massakern begangen, keine benennbaren Täter. Oft ließ sich nicht einmal die Zahl der Toten genau bestimmen, und selbst wenn dies halbwegs gelang, war doch die Summe der nachgewiesenen oder gestandenen Morde meist nur ein Bruchteil der angenommenen Zahl der Ermordeten. Entsprechend schwer fiel es den Nachkommen dieser Opfer, die "ausgestreckte Hand" der Versöhnung zu erkennen.
Aber auch auf Seiten der Häftlinge gab und gibt es unterschiedliche Reaktionen auf die Gacaca-Justiz. Selbstverständlich waren viele Häftlinge erleichtert darüber, dass ihnen, nach Jahren des bloßen Verwahrtwerdens, eine konkrete Perspektive geboten wurde. Vor allem diejenigen, denen das Gewissen keine Ruhe gelassen hatte und die geständig waren, sehnten die Eröffnung ihres Verfahrens herbei. Gut 60.000 von ihnen sind seit Januar 2003 aus dem Gefängnis entlassen worden, die letzten 10.000 im Februar 2007.
Allerdings waren die Entlassungen nur vorläufig, denn die Häftlinge mussten oder müssen sich noch vor einem Gacaca-Gericht verantworten, das über die Endgültigkeit der Freilassung befindet, also die Angeklagten auch wieder ins Gefängnis zurückschicken kann. In rund der Hälfte der Fälle ist das auch tatsächlich geschehen, sehr zum Missfallen der Betroffenen und ihrer Familien, zumal die Aussagen der neuen Belastungszeugen oft wie bestellt wirkten und die Laien-Richter und -Richterinnen überforderten.
Für viele bestätigte das noch einmal die häufig zu hörende Einschätzung, dass ein gutes Drittel der Häftlinge infolge falscher Zeugenaussagen im Gefängnis sitzt und folglich - mangels einer gestehbaren Tat - keine Hoffnung auf baldige Freilassung hat. Da war die andere Hälfte der Freigelassenen, denen die Gacaca-Justiz die Freiheit brachte, in einer unvergleichlich besseren Lage. Problematisch wurde es nur dann, wenn das Urteil ihnen bescheinigte, dass ihnen, gemessen am rechtlichen Maßstab, deutlich Unrecht geschehen war.
Beispiele dafür gibt es zuhauf, so den Fall des heute 33-jährigen Albert B.. Er war im Mai 1995 aufgrund des Verdachts der Teilnahme am Völkermord verhaftet worden. Anfang 2003 hatte er schließlich einen Mord an einem jungen Tutsi gestanden begangen im Rahmen eines Angriffs auf ein Krankenhaus im April 1994. Im Juli 2005 wurde er mit der Maßgabe aus dem Gefängnis entlassen, sich vor einem Gacaca-Gericht verantworten zu müssen. Von diesem wurde er dann nach insgesamt über zehn Jahren Haft wegen seines Geständnisses zu lediglich acht Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte also zwei Jahre länger als verurteilt gesessen.
Oder nehmen wir den Fall des 50-jährigen Aloïse M., der 1994 mit einer Tutsi verheiratet war und mit ihr zusammen fünf Kinder hatte. Mit der Drohung, dass bei einer Weigerung seine Frau getötet wird, zwingen ihn örtliche Hutu-Extremisten, an einem Angriff auf Tutsi-Flüchtlinge teilzunehmen. Aber schon zu Beginn des Angriffs, bevor er selbst aktiv werden konnte, wird er verletzt und die Verletzung erspart ihm während des Völkermords weitere "Kampfaktionen". Seine Frau überlebt, er selbst wird 1996 verhaftet und gesteht 1998 seine kurze Beteiligung an dem Angriff. Im Januar 2003, nach sieben Jahren Haft, kommt er aus dem Gefängnis frei, und wird dann von einem Gacaca-Gericht zu genau dieser siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht sah sehr wohl, dass die Tatumstände die Verhängung einer geringeren Strafe nahelegten, aber die Tatsache der verbüßten Haftzeit konnte es nicht aus der Welt schaffen und so bestätigte es sie einfach.
Genauso verfuhr ein anderes Gacaca-Gericht in einem extremen und dennoch alles andere als seltenen Fall. Bonefide M., heute 52, war zur Zeit des Völkermords mit einem Tutsi verheiratet. Von Mitgliedern der Interahamwe-Miliz vor die Wahl gestellt, zwei ihrer vier, nach dem patrilinearen Verständnis in Ruanda ebenfalls als Tutsi geltenden Kinder entweder selbst zu töten oder von den Milizionären töten zu lassen, langsam und mit der Machete, band sie die beiden eineinhalb und zweieinhalb Jahre alten Mädchen aneinander und ertränkte sie in einem Fluss. Im Oktober 1995 wurde sie unter dem Vorwurf, Völkermordhandlungen begangen zu haben, verhaftet. 2002 gestand sie die Tötung ihrer Töchter. Im Sommer 2006, nach beinahe elfjähriger Haftzeit, wurde sie aus dem Gefängnis entlassen und von einem Gacaca-Gericht zu ebendieser Freiheitsstrafe verurteilt.
Alle drei sind voller Freude und Dankbarkeit über ihre neu gewonnene Freiheit. Die "ausgestreckte Hand der Versöhnung"? Ja, sie ergreifen sie gerne. "Gut, dass es Gacaca gibt", sagt Albert B., Aloïse M. dankt der Regierung dafür, "dass sie Gacaca macht" und Bonefide M. meint "Gacaca hat mir die Freiheit gebracht". An die Fragwürdigkeit ihrer Bestrafung, an die ihnen geraubte Lebenszeit beziehungsweise ihr mehrfach zerstörtes Leben denken sie nicht. Noch nicht, wäre hinzuzufügen. Denn es ist davon auszugehen, dass sie, einmal dahin zurückgekehrt, wo sie vor ihrer Inhaftierung lebten, bald eine Situation kennenlernen werden, die mit der offiziellen Gacaca-Politik nichts gemein hat.
Zwei Überlebende des Völkermords, zwei von vormals über dreißig, leben noch auf dem Hügel, auf den Bonefide M. zurückgekehrt ist. Alle anderen, rund vierhundert Menschen, sind Hutu. Es sind keine Extremisten, keine Sympathisanten einer aggressiven Hutu-Ideologie, keine Völkermordkonspiranten. Aber mit den Appellen zur Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung haben sie gleichwohl nichts im Sinn. Die Enttäuschung über Gacaca führt letztlich zu ihrer Ablehnung. "Die landauf und landab plakatierten Botschaften wie 'Wenn wir sagen, was wir gesehen haben, wenn wir gestehen, was wir getan haben, wird das unsere Wunden heilen' oder 'Wahrheit - Gerechtigkeit - Versöhnung', stimmen nicht", sagen sie. "Diese Botschaften setzen nur eine Wahrheit voraus, und das ist nicht die Wahrheit, die wir kennen." Der Völkermord sei Teil eines Bürgerkriegs gewesen, in dem von allen Seiten, und nicht nur von Seiten des damaligen Hutu-Regimes, Verbrechen begangen worden seien. Darauf hinzuweisen, sei jedoch nicht nur unerwünscht, es sei sogar bei Strafe verboten.
Werfen wir einen Blick in die aktuelle Fassung des Gesetzes über die Gacaca-Gerichtsbarkeit, stellen wir fest, dass nach dessen Wortlaut die Gacaca-Justiz für die Ahndung von Völkermordverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig ist, die zwischen dem 1. Oktober 1990, dem Beginn des Bürgerkriegs, und dem 31. Dezember 1994, als der Sieg der FPR gefestigt war, begangen wurden. Damit ist der zeitliche Rahmen bedeutend weiter gesteckt als beim Internationalen Strafgerichtshof in Arusha, der in sachlicher Hinsicht zwar die gleichen Kompetenzen hat, in seiner Tätigkeit aber auf die Ereignisse des Jahres 1994 beschränkt ist. Von ihrem gesetzlichen Auftrag her müssten beide Gerichtsbarkeiten also auch bei Verbrechen, die nicht im direkten Zusammenhang mit dem Völkermord stehen und sich gegen Hutu richteten, tätig werden. Das geschieht allerdings nicht. Nicht nur auf dem Hügel von Bonefide M., auf keinem Hügel im Land, auch nicht in Arusha, und das, obschon die Zahl der getöteten Hutu nach niedrigsten Schätzungen bei mehreren zehntausend, nach anderen, nicht minder seriösen Schätzungen bei mehreren hunderttausend liegen soll.
Hinzu kommt noch etwas anderes. "Wer weiß von Morden aus rassischen Gründen oder wegen einer Sympathie des Opfers für die FPR?" lautet die Frage, die zu Beginn eines jeden Gacaca-Verfahrens der lokalen Bevölkerung gestellt wird, wenn es darum geht, das Geschehen in einer der gut 10.000 cellules, der kleinsten Verwaltungseinheit Ruandas, zu rekonstruieren. Bei der Nennung und Auflistung der Ermordeten wird dann nicht danach unterschieden, ob das Opfer Hutu oder Tutsi war." Wir sind alle Ruander, keine Hutu oder Tutsi mehr", heißt die bekannte Erklärung. Das klingt gut, ist aber von fataler Konsequenz. Nicht nur, dass auf diese Weise die Hutu-Opfer des Völkermords verschwinden oder allenfalls in der ergänzenden, unbestimmten Formulierung "und an den gemäßigten Hutu" auftauchen, wenn vom Völkermord an den Tutsi die Rede ist. Viel schlimmer ist, dass im Umkehrschluss die Hutu pauschal als Täter erscheinen und dass eine Vergangenheitsaufarbeitung, die unter diesem Vorzeichen steht und nach Überzeugung vieler eine machtpolitische, nach der finanziellen Unterstützung des Auslands gierende Inszenierung ist, mit einiger Wahrscheinlichkeit scheitern wird.
Nehmen wir dann noch die tabuisierte Frage nach den eigenen Opfern hinzu, verdichtet sich diese Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit, der sich auch die vielen Menschen wie Augustin Nkusi, die voller Engagement und Elan für ein neues, friedliches Ruanda arbeiten, nicht werden entgegenstemmen können. Ihr fast verzweifelt-beschwörender Hinweis, der Versuch einer Aufrechnung der Opfer müsse unterbleiben, weil er zu einer Relativierung der Dimension des Völkermords führe, bricht sich an der Kraft eines Opferdiskurses, der bei den Hutu eine zunehmende Dynamik entwickelt und - in einer Gegenreaktion auf Tabuisierungen und Verbote - Feindbilder reaktiviert und stabilisiert. Dass dabei die Phase der verbalen Entrüstung schon überschritten ist, zeigt die ansteigende Zahl der Gewalttaten gegen Tutsi. Über hundert Angriffe, bis hin zum Mord, hat es 2006 gegeben.
Von den Gefahren der Radikalisierung wissen auch Gérard M. und Samuel N., beide Anfang vierzig und ehrenamtlich an einem Gacaca-Berufungsgericht tätig, Gérard M. als Präsident des Gerichts, Samuel N. als dessen Sekretär. Soweit es ihnen möglich ist, versuchen sie, ein Scheitern der Gacaca-Prozesse zu verhindern. Mal gelingt es ihnen dank ihrer großen persönlichen Integrität, mal gelingt es ihnen nicht. Gelingt es ihnen nicht, und in letzter Zeit ist das immer häufiger der Fall, ist bei beiden die Enttäuschung groß. "Sollen sie doch machen, was sie wollen", meint Samuel N. dann, und es ist nicht klar, ob er in diesem Moment die lokale Bevölkerung meint, die sich trotz gesetzlicher Verpflichtung weigert, aktiv an den Verhandlungen teilzunehmen, oder ob er an den Staat denkt, der ihn, einen Überlebenden des Völkermords, in erbärmlichen materiellen Verhältnissen leben lässt.
Dieselbe Zweideutigkeit ist auch bei der Reaktion von Gérard M. feststellbar, seinem Freund schon aus der Zeit vor dem Völkermord, der als Hutu sechs Jahre nachgewiesenermaßen unschuldig im Gefängnis gesessen hat. "Viele, sehr viele haben noch nicht begriffen, worum es geht", sagt er, und fährt fort: "Wir können nicht alles gleichzeitig aufklären, das müssen die Menschen verstehen. Wir müssen Prioritäten setzen, dürfen aber die weiteren Schritte nicht aus den Augen verlieren."
Letzteres wird Gérard M., wie es derzeit aussieht, wohl schwerfallen. Etwas mehr als 750.000 Angeklagte warten noch auf ihr Urteil (50.000 Urteile sind bereits ergangen), und es ist niemandem so recht klar, wie diese große Verfahrenszahl bewältigt werden soll. Das ist das eine. Das andere ist, dass im Gefolge der heftigen Auseinandersetzung mit Frankreich, das von Kagame und seiner Regierung offen der tatkräftigen Mithilfe am Völkermord beschuldigt wird, noch einmal die Grundfesten des in Ruanda herrschenden politischen Selbstverständnisses deutlich gemacht wurden. Leisere Töne, Nuancierungen und allgemein die Darstellung einer Perspektive, welche die komplexe Realität des Landes zur Kenntnis nimmt, sucht man dort vergeblich. Stattdessen findet man wie in der Vergangenheit eine ausgeprägte Schwarz-Weiß-Sicht, die auch vor horrenden Simplifizierungen und historischen Entstellungen nicht halt macht und beständig den neuen Staat glorifiziert. So wird etwa zur Rechtfertigung der am 1.10.1990 beginnenden "Befreiung" das damalige Ruanda mit dem Apartheid-Staat Südafrika gleichgesetzt und die verbrecherische Rolle Frankreichs vor und während 1994 betont, die gewiss zweifelhaft, aber bei weitem nicht so en bloc verbrecherisch war wie die ruandische Politik behauptet. Aber warum sollte sich die ruandische Staatsgewalt auch zurücknehmen? Kritik hat sie nicht zu befürchten. Die Medien arbeiten unter dem Damokles-Schwert des Divisionismus-Vorwurfs. Der Internationale Strafgerichtshof bestätigt in seinen Urteilen das neue ruandische Geschichtsverständnis und die internationale Entwicklungshilfe geriert sich, - teils aus Unkenntnis, teils wider besseres Wissen - als Erfüllungsgehilfin des Staates.
Zurück aus Ruanda, diesen Bericht noch einmal überfliegend, überlege ich: Wo bleibt das Positive? Ich denke wieder an das Gespräch mit der Menschenrechtsaktivistin Marie-Christine M. Sie hatte empfohlen, meinen Bericht über Ruanda ausgewogen zu halten. Die Regierung möge es nicht, nur kritisiert zu werden. Auch das Positive solle herausgestellt werden. Gemeinsam haben wir dann überlegt, welches denn die positiven Punkte seien, die auch einer sorgfältigeren Nachprüfung standhielten. Wir kamen auf die nach wie vor große Sicherheit im Land, für die traumatisierten Opfer des Völkermords sicherlich ein hohes Gut. Doch dann dachten wir an den Preis, den Ruander dafür zahlen müssen. Jean-Paul N. zum Beispiel, der es gewagt hatte, die angeblichen Erfolge der Nationalen Kommission für Einheit und Versöhnung in Frage zu stellen. Noch einen Monat nach seiner Verhaftung sind die Schwellungen an seinem Körper zu sehen, so sehr wurde er auf einer Polizeistation mit Stromkabeln geschlagen. Wir beendeten daraufhin die Suche nach den Leistungen des neuen Ruanda. Sie erschien uns zu makaber.
aus: der überblick 01/2007, Seite 78
AUTOR(EN):
Gerd Hankel
Gerd Hankel ist promovierter Völkerrechtler und Sprachwissenschaftler und Mitarbeiter des Hamburger
Instituts für Sozialforschung. Seit 2002 arbeitet er im Gebiet der Großen Seen in Afrika, vor
allem in Ruanda.