Es geht um Hemd und Kragen
Deutschland ist der größte Abnehmer von Kleidung aus Bangladesch in Europa. Als eines der ärmsten Entwicklungsländer darf Bangladesch zollfrei und ohne Mengenbeschränkung Kleidung nach Europa einführen. Bei anderen Ländern hingegen hat die Europäische Union im Einklang mit dem Welttextilabkommen die Einfuhr durch Quoten beschränkt. Ende 2004 aber läuft dieses Abkommen aus. Wird China dann Konkurrenzangebote aus Bangladesch und Tunesien verdrängen?
von Charlotte Schmitz
Ob Blusen oder T-Shirts, ob Hemden oder Jeans - viele Bekleidungsstücke, die man hierzulande in Kaufhäusern und bei Modeketten kaufen kann, sind von Näherinnen in Bangladesch gefertigt worden. Nur weil die Frauen dort für sehr wenig Lohn sehr viel arbeiten, ist es möglich, dass in Europa solche Ware zu Schleuderpreisen erhältlich ist.
Für die Näherinnen in Bangladesch bedeutet dieser Handel trotz niedrigen Verdienstes und schlechter Arbeitsbedingungen einen Segen. Die meisten von ihnen sind froh, ohne formelle Ausbildung überhaupt diesen Arbeitsplatz zu haben und einen eigenen Lohn zu bekommen, der ihnen eine gewisse Unabhängigkeit von Ehemann und Familie ermöglicht. Das Rollenbild der Frau und ihre Stellung in der Gesellschaft haben sich in Bangladesch enorm gewandelt - nicht zuletzt als eine Folge der wirtschaftlichen Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts. Im Durchschnitt wuchs die Wirtschaft mehr als 5 Prozent pro Jahr und der Außenhandel nahm kräftig zu.
Wie war dieser Aufschwung möglich? Die ersten Kleidungsstücke exportierte das Land im Jahr 1977 mit gerade vier Bekleidungsfabriken. Ende der achtziger Jahre erreichten die Textilausfuhren bereits 693 Millionen Euro. Sie machten ein Drittel der gesamten Exporterlöse aus. Als die USA und die Europäische Union (EU) gegen Bekleidungsimporte aus Südkorea Mengenbeschränkungen verhängt hatten, verlegten viele südkoreanischen Unternehmen ihre Produktionsstätten nach Bangladesch. In den neunziger Jahren stiegen die Exportzahlen weiterhin stark an. Im Haushaltsjahr 2002/2003 erreichte die Bekleidungsausfuhr von Bangladesch schließlich einen Wert von rund 4,5 Milliarden Euro.
Heute erwirtschaftet die Textilbranche dort zehn Prozent des Bruttosozialprodukts, macht drei Viertel des Exportvolumens aus und beschäftigt in rund 3500 Fabriken etwa 1,2 Millionen Arbeitnehmer. Berücksichtigt man auch die vor- und nachgelagerten Betriebe der Textilbranche, bietet sie insgesamt zehn Millionen Menschen einen Arbeitsplatz. Mindestens 80 Prozent der Arbeiter sind mittlerweile Frauen, während in den Anfangsjahren Männer die Mehrzahl der Beschäftigten stellten (im weiteren Text wird deshalb die weibliche Form benutzt, stellvertretend auch für die männlichen Arbeiter). Größter Abnehmer der Bekleidung aus Bangladesch sind die Länder der Europäischen Union mit 52 Prozent, gefolgt von den USA mit 42 Prozent.
Wodurch wurde diese Erfolgsgeschichte einer Branche in einem der ärmsten Länder der Welt möglich? Paradoxerweise durch ein Abkommen, das die Textilindustrie in Industriestaaten vor konkurrierenden Billigimporten aus Entwicklungsländern schützen soll, das Multi-Faser-Abkommen (MFA).
Das Abkommen stammt aus dem Jahr 1974, eingeführt zu dem Zeitpunkt, als die Textilexporte aus Entwicklungs- und Schwellenländern in die industrialisierten Staaten immer weiter zunahmen. Es erlaubte Quoten, um den Zugang zu den Märkten der entwickelten Länder zu beschränken. Diese Quoten wurden bilateral zwischen den einzelnen Export- und Importländern ausgehandelt. So wurden Hersteller in den Industriestaaten geschützt, die mit den niedrigen Lohnkosten der Entwicklungsländer nicht mithalten konnten. Die Bekleidungsbranche ist arbeitsintensiv, weil infolge schnell wechselnder und unterschiedlicher Moden und der Struktur der Stoffe eine Automatisierung teuer ist. Lohnkosten sind also in der Textilbranche ein entscheidender Wettbewerbsfaktor.
Abweichend von der liberalen Grundidee des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT (General Agreement on Tariffs and Trade), das freien Marktzugang schaffen sollte, wurde das Multi-Faser-Abkommen eingeführt, um Märkte abzuschotten und zu schützen. Es sollte von vornherein eine Übergangslösung sein und den Betrieben in Industriestaaten Zeit lassen, sich auf die Weltmarktkonkurrenz vorzubereiten.
Der Textil- und Bekleidungsindustrie in Bangladesch aber brachte dieses eigentlich protektionistische MFA Vorteile. Denn das Land ist - wie einige andere ärmste Entwicklungsländer (LDCs) - im Rahmen des “Allgemeinen Präferenzsystems” von Importquoten ausgenommen und darf Bekleidung zollfrei in die EU einführen, sofern wertmäßig mindestens 51 Prozent aus Bangladesch stammen.
Mittlerweile wurde das GATT in die 1995 gegründete Welthandelsorganisation (WTO) integriert. Auch das Multi-Faser- Abkommen wurde 1995 in das Welttextilabkommen überführt. Dieses legt fest, dass innerhalb von zehn Jahren schrittweise alle Mengenbeschränkungen auf dem Textil- und Bekleidungsmarkt abgeschafft werden (ungeachtet der Namensänderung spricht die gesamte Branche aber weiterhin vom MFA, wenn das Welttextilabkommen gemeint ist). Am 31. Dezember 2004 läuft dieses Abkommen aus. Ab Januar 2005 herrscht Freihandel auch im Textil- und Bekleidungssektor.
Was bedeutet das für Länder wie Bangladesch? Zur Zeit genießen sie noch den Vorteil, keiner Quotenbeschränkung zu unterliegen und dadurch Wettbewerbsvorteile gegenüber Ländern wie China haben, deren Einfuhren in die EU und USA Mengenbeschränkungen unterliegen? “Es werden bis zu 800.000 Arbeitsplätze wegfallen”, befürchtet Ingo Ritz, Geschäftsführer von Netz e.V., einer nichtstaatlichen Organisation, die in Bangladesch Projekte zur Armutsbekämpfung fördert. Zwar schätzten die Einkäufer von westlichen Markenfirmen die langjährigen Handelsbeziehungen mit ihren Partnern in Bangladesch, doch ob dies langfristig davor schützt, dass die Produktion in andere Länder verlagert wird, scheint Ingo Ritz fraglich. Seiner Meinung nach ist die Textil- und Bekleidungsindustrie des Landes unzureichend auf das Ende des Abkommens vorbereitet. “Seit zehn Jahren steht dieser Termin fest, aber nach meinem Eindruck ist das Ende des Quotensystems den Unternehmern in Bangladesch erst 2003 so richtig bewusst geworden.” Die Branche habe es verpasst, sich zu modernisieren, insbesondere die Logistik zu verbessern. Anders als das Konkurrenzland China produziert Bangladesch keine eigene Baumwolle, die Stoffe werden importiert, die Fertigungstiefe ist deshalb gering.
Einen Vorgeschmack auf die Auswirkungen des Freihandels gab das Jahr 2001, als die USA ihre Einfuhrpräferenzen zugunsten der karibischen Staaten und zum Nachteil Bangladeschs veränderten. Damals wurden 300.000 Näherinnen in Bangladesch arbeitslos. “Die Frauen haben keine Alternativen zur Arbeit als Näherin”, betont Ritz. Besonders Frauen, die verstoßen wurden oder alleinstehend Kinder ernähren müssen, haben keine Wahl. Sie können sich allenfalls als Hausangestellte verdingen - was noch geringer entlohnt wird -, enden als Prostituierte auf der Straße oder kehren zu ihren Eltern in die Armut des Dorfes zurück. “Die Arbeiterinnen wünschen sich, dass von Europa aus Druck auf die Produzenten ausgeübt wird, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, aber sie fürchten um ihren Arbeitsplatz und wollen auf keinen Fall einen Boykott der Waren”, berichtet Ritz, der etwa zwei Mal pro Jahr nach Bangladesch reist.
Die Arbeitsbedingungen lassen in der Tat zu wünschen übrig: Bei Monatslöhnen von umgerechnet 20 bis 46 Euro für eine ausgebildete Näherin in einer Exportförderzone, bei Arbeitszeiten von 12 bis 14 Stunden täglich an sechs bis sieben Tagen die Woche und reglementiertem Toilettenbesuch, stehen die Frauen unter ständigem Druck. Aber in kleinen Fabriken seien die Zustände noch schlimmer als in den Exportförderzonen, betont Heiner Köhnen von TIE-Bildungswerk e.V., einem Netzwerk von Gewerkschaftslinken. Arbeiterinnen werden beispielsweise häufig am Arbeitsplatz eingeschlossen. Aus diesem Grund kamen im November 2000 bei einem Brand in der Firma Chowdhury Knitwears 51 Menschen - überwiegend Frauen - ums Leben. Auch Kinder waren unter den Toten, fünf im Alter von zehn bis zwölf Jahren und drei 14-Jährige. Seit Ende 1990 hat es in Bangladesch 32 Großfeuer in der Branche gegeben, in denen 220 Menschen umkamen und 3213 verletzt wurden.
Wenn ab Januar 2005 Freihandel in der Textilbranche herrscht, werden die niedrigen Lohnkosten in Bangladesch als Wettbewerbsvorteil nicht mehr ausreichen. Denn der Export läuft alles andere als reibungslos: Im Hafen von Chittagong, über den der Außenhandel abgewickelt wird, stehen bei den häufigen Streiks alle Räder still. Gestreikt wird meistens nicht für höhere Löhne, sondern für politische Forderungen. In Bangladesch gibt es um die 50 Gewerkschaften, die in der Regel mit einer bestimmten politischen Partei verbunden sind. Zu den Protestformen der Opposition im Parlament gehören regelmäßig auch Generalstreiks. Lieferungen, die per Schiff ins Ausland gehen sollten, müssen dann zu viel höheren Kosten mit dem Flugzeug transportiert werden.
Außerdem gehört Bangladesch zu den korruptesten Ländern der Welt. Im dritten Jahr hintereinander führt es die Liste von Transparency International an, einer NGO, die Korruption bekämpft. Menschen, die das Land gut kennen, sprechen von mafiaartigen Strukturen, an deren Vertreter die Unternehmer Abgaben zahlen müssen.
Auch das Management ist zuweilen miserabel. “Sehr viele Fabriken in Bangladesch werden nicht professionell geführt, denn die Besitzer sind ehemalige Fußballspieler oder Professoren, die den Betrieb als lukrative Anlagemöglichkeit sehen”, erklärt Petra Dannecker, Entwicklungssoziologin an der Universität Bielefeld, die über Textilarbeiterinnen in Bangladesch promoviert hat. “Manche Fabriken existieren nur als Scheinfirmen, um Nähmaschinen zu niedrigeren Zöllen einführen und auf dem Schwarzmarkt verkaufen zu können.” Buchführung sei in vielen Betrieben unbekannt. Dannecker vermutet, dass vor allem diese unprofessionell geführten Unternehmen der Weltmarktkonkurrenz nicht standhalten werden.
Doch Bangladesch ist nur eines der Länder, die durch das Auslaufen des Welttextilabkommens vor Problemen stehen. Auch das nordafrikanische Land Tunesien lieferte bisher Textilien für europäische Markenhersteller. Neben Autoelektronik gehören Textilien zu den wichtigsten Ausfuhrgütern des Landes. “Tunesien hat eine Chance verpasst”, erklärt Katharina Kattabach von der Deutsch-Tunesischen Industrie- und Handelskammer. Als Expertin für rechnerintegrierte Fertigung urteilt sie: “Das Land hat sich nicht über den Status einer verlängerten Werkbank hinaus entwickelt.” Kattabach verweist auf das Beispiel Südkorea, wo die Unternehmen den ganzen Bereich der Wertschöpfungskette erobert haben und immer mehr nachgelagerte Produktion und Dienstleitungen integrieren. Tunesische Unternehmen hingegen importieren nach wie vor Rohmaterialien, die sie nach den Vorgaben ausländischer Mutterhäuser veredeln.
Abgesehen von der geographischen Nähe zur Europäischen Union hat Tunesien wenig Standortvorteile aufzuweisen: Weder sind die Löhne so niedrig wie in den Billiglohnländern Asiens - der monatliche Mindestlohn liegt bei umgerechnet etwa 130 Euro, ein Arbeiter verdient etwa 200 Euro -, noch ist die Qualifikation der Arbeitskräfte höher als im ähnlich teuren Osteuropa. Eine Arabisierungskampagne, die schrittweise die französische Sprache der ehemaligen Kolonialherren in den Hintergrund drängt, koppelt das Land darüber hinaus von Europa ab.
Schon jetzt fordert die Liberalisierung des Welthandels ihren Preis in Tunesien. Von den etwa 2500 Textilbetrieben des Landes haben bereits 250 ihre Tore geschlossen. Manche griffen zu so zweifelhaften Mitteln wie der von einem holländischen Investor gegründete Betrieb Hotrifa in Moknine, der seine Insolvenz erklärte und ausstehende Löhne nicht mehr zahlte. Die Arbeiterinnen besetzten mit Hilfe der Gewerkschaften den Betrieb, um die Löhne der letzten Monate einzufordern. Dies ist kein typischer Fall, denn die Gewerkschaften des Landes gelten eher als zahm.
Mit einer kleinen Gruppe von Mitstreitern will Fathi Chamkhi von Attac-Tunesien, eine die Globalisierung kritisierende NGO, mit handgehefteten Zeitschriften über Hintergründe der Liberalisierung des Weltmarkts aufklären. Gern hätte er die Näherinnen von Hotrifa unterstützt. Aber Attac-Tunesien kann die erforderliche Lizenz als amtlich gemeldete nichtstaatliche Organisation nicht vorweisen und ist den offiziellen Gewerkschaften suspekt. So ließen ihn die Streikposten der Gewerkschaft nicht ins Werk.
Während in den Ländern wie Bangladesch und Tunesien voraussichtlich Werksschließungen und Massenentlassungen anstehen, können sich Unternehmer in Indien und China auf einen Aufschwung freuen. In China liegen die Löhne ähnlich niedrig wie in Bangladesch, die Lieferzeiten allerdings sind nur halb so lang. Der Warentransport vom Exporthafen Chittagong in Bangladesch bis nach Deutschland dauert 90 Tage, von Südchina lediglich 48 Tage, obwohl die Strecke länger ist. Auch bei der Produktivität soll China gegenüber Bangladesch im Vorteil sein. China hat außerdem seine Währung an den Dollar gekoppelt und weigert sich trotz des Drucks der USA, den Kurs freizugeben. Deshalb sind chinesische Waren auf internationalen Märkten, wo in Dollarpreisen gerechnet wird, langfristig besser zu kalkulieren als aus Ländern, wo heftige Kursschwankungen berücksichtigt werden müssen. Der Taka, die Währung Bangladeschs, hingegen ist seit 2003 konvertibel, so dass es zu unkalkulierbaren Kursschwankungen kommen kann. Bei den Waren, die Schritt für Schritt von den beschränkenden Quoten des Multifaserabkommens befreit wurden, etwa Skihandschuhe und Skianzüge, hat China bereits große Marktanteile hinzugewonnen.
Anders als Bangladesch hat China eine eigene Baumwollproduktion und kauft lediglich synthetische Fasern und Stoffe in großem Umfang hinzu. Laut WTO ist die chinesische Textilindustrie bereits heute der größte Bekleidungshersteller weltweit. Nach und nach wird die gesamte Fertigungskette im Inland aufgebaut. Bereits für das laufende Jahr schätzt der chinesische National Textile Industry Council, ein Verband aller Textilbezogenen Industrien, das Wachstum der chinesischen Textilindustrie auf 18 Prozent. Ein Report der deutschen Bundesstelle für Außenhandelsinformation (bfai) rechnet mit einem Anstieg der chinesischen Exporte um elf Prozent. Von den rund 50.000 chinesischen Bekleidungsunternehmen besitzen bereits 1000 moderne CAD- und CAM-Maschinen, computergesteuerte Maschinen, mit denen sich beispielsweise die Verteilung der Zuschnitte auf den Stoffbahnen so ausführen lässt, dass möglichst wenig Verschnitt entsteht. Mit Fug und Recht kann man also annehmen, dass chinesische Hersteller in Zukunft den Weltmarkt beherrschen werden, zum Nachteil der bisherigen Fabrikanten.
Doch Freihandel hin oder her: Die USA haben sich für ihre Hersteller eine Ausnahmeregelung vorbehalten. Noch bis ins Jahr 2008 dürfen die chinesische Textil- und Bekleidungsimporte in die USA nur um höchstens 7,5 Prozent wachsen. Mächtige Staaten wie die USA können den Freihandel teilweise außer Kraft setzen und sich vor Konkurrenz schützen, Bangladesch oder Tunesien hingegen müssen sich der Weltmarktkonkurrenz ungeschützt stellen.
aus: der überblick 03/2004, Seite 57
AUTOR(EN):
Charlotte Schmitz:
Charlotte Schmitz ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Entwicklungspolitik und lebt in Frankfurt.