Eine Bilanz der marokkanischen Wahrheitskommission
Das Treffen findet mitten im Fischerei-Hafen von Casablanca statt, in der abflauenden Aktivität der Mittagszeit. Die Fischer sortieren ihre Netze und über den Köpfen kreischen die Möwen, die gierig auf Fischreste zielen. Vom Fisch ist jetzt nicht mehr viel zu sehen, nur der Geruch bleibt penetrant.
von Odile Jolys
Kamal Lahbib, 57, ehemaliger Gefangener hat diesen Ort für unsere Verabredung sicher bewusst ausgewählt. Es ist nicht das Marokko der Eliten und der Touristen, auch nicht der bitteren Armut, es ist ein populäres Marokko, das des einfachen, arbeitenden Volkes, und er fühlt sich offensichtlich wohl hier mittendrin. Hier will er über die marokkanische Wahrheitskommission, die erste dieser Art in der arabischen Welt sprechen. Als Mitglied einer maoistischen Organisation verbrachte er in den 1970er Jahren fünf Jahre im Gefängnis.
Kamal Lahbib ist einer der Gründer der Opfervereinigung Forum Marocain Vérité et Justice (FMVJ), die 1998 entstand. Es ging damals um das Recht auf Reintegration der Opfer der "bleiernen Jahre", der 1960-er und 1970-er Jahre unter der Herrschaft des Königs Hassan II. Die Gründung dieser Opfervereinigung war eine Antwort auf die Versuche des Königs, die Vergangenheitsbewältigung mit einer pauschalen Entschädigung erledigen zu wollen. Das wollten die Opfer nicht durchgehen lassen. Vergessen und Versöhnung lassen sich nicht erkaufen. "Entschädigt werden, um mundtot gemacht zu werden" nennt Mohamed Sebbar, Vorsitzender des FMVJ das. "Aber das Regime hatte sich geändert. Und die Frage der Vergangenheit stellt sich immer in einer Übergangsphase."
Mohammed VI., der nach dem Tod seines Vaters 1999 König wurde, stimmte der Schaffung einer Wahrheitskommission zu. Sie wurde als Instance équité et réconciliation (IER) im Januar 2004 gegründet und beendete im Dezember 2005 ihre Arbeit mit einem Bericht. Mit der Entschädigung der Opfer wurde im März dieses Jahres begonnen. Viele Opfer und die anspruchsberechtigten Angehörigen haben kürzlich einen Scheck per Post bekommen.
Der Redefluss von Kamal Lahbib stockt, wenn ich das Thema der Opferentschädigung anspreche. "Haben Sie eine Entschädigungszahlung erhalten?" Er lässt ein wenig Zeit vergehen, beobachtet mich, lächelt ein wenig müde und fängt wieder an zu erzählen - mit einem Gesichtsausdruck, der mehr die Notwendigkeit zu erklären als das Bedürfnis danach verrät.
"Ich habe einen symbolischen Dihram und die Wahrheit verlangt. Sie haben mir eine Entschädigung gezahlt. Bis jetzt ruht die Summe auf meinem Konto. Ich wollte keine Entschädigung, nicht so eine. Es wäre etwas anderes, wenn das Geld dafür aus einer Extrabesteuerung des Reichtums käme, den einige Leute in diesen Zeiten angehäuft haben. Aber sonst, was haben wir davon, wenn das Geld aus der Steuer der Leute, die heute ganz normal arbeiten, gespeist wird. Welche Verantwortung tragen sie für damals? Gar keine." Was er aber immer gefordert hat, ist die Wiederherstellung seiner Rechte: "Seit meiner Entlassung 1979, kämpfe ich dafür, dass der Staat mich für die Jahre, in denen ich meinen Lehrerberuf nicht ausüben konnte, entschädigt. Das kann man messen. Aber diese Kategorisierung des Leids, die die IER aufgestellt hat..."
Jedoch genau diesen Punkt heben die Mitarbeiter der IER und des Folgeausschusses stolz hervor. Letzter wurde von der Regierung innerhalb des offiziellen Menschenrates (Conseil Consultatif des Droits de l'Homme CCDH) geschaffen, um die Kontinuität der Arbeit der IER zu gewährleisten. "Die IER hat ein hoch entwickeltes Entschädigungssystem geschaffen. Die Kriterien sind sehr fein," betont Hamid El Kam, der junge Direktor des Dokumentationszentrums des CCDH und frühere Mitarbeiter der IER. So wird zum Beispiel zwischen Gefangenschaft in einem Polizeibüro in Rabat und in der einst geheimen Strafanstalt Tazmamart unterschieden und der Grad der unmenschlichen Behandlung differenziert betrachtet.
Ich sitze im Büro von Hamid El Kam. Es liegt im vierten Stock eines grauen Gebäudes im Herzen von Rabat am Rande der Medina. In diesem typischen Verwaltungsgebäude der 1970er Jahre mit kleinen Büros, die miteinander verbunden sind, besetzte die IER mit ihren über 200 Mitarbeitern drei Stockwerke. Hier klingt der Ton gesetzt.
"Die IER hat sich als Instrument einer transitional justice verstanden und mit den Experten der ICTJ (International Center for Transitional Justice, der führenden internationalen NGO zum Thema Gerechtigkeit nach Konflikt) zusammengearbeitet", sagt El Kam. "Wir haben Mitglieder verschiedener Wahrheitskommissionen der Welt eingeladen und besucht. Wir wollten die Lehre aus deren Erfahrungen ziehen und eine eigene Philosophie formulieren." Ergebnis ist unter anderem, dass Entschädigungen nicht nur an Individuen gezahlt werden. "Die IER", betont er, "ist die erste Wahrheitskommission, die Entschädigung für ganze Regionen empfahl." Es handelt sich um Gebiete wie den Mittleren Atlas, die besonders von der Repression betroffen waren. Derzeit werden die Entwicklungspläne ausgearbeitet. Die Finanzierung steht schon fest. Geldgeber ist neben der marokkanischen Regierung auch die Europäische Union. Die individuellen Entschädigungen berücksichtigen den Genderaspekt: für den gleichen Schaden kriegen Frauen pauschal höhere Summen. Die Opfer sollen ferner Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung haben sowie in ihren Rechten rehabilitiert werden. Die Entschädigungen wurden zügig bezahlt. Nach gut einem Jahr haben jetzt 7000 bis 8000 Personen ihre Entschädigung bekommen", unterstreicht El Kam leicht irritiert, wenn man ihn mit den Kritiken der nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) konfrontiert. Die IER hatte 9779 Dossiers für die Entschädigung empfohlen. Bis zu 25.000 Menschen könnten danach Geld bekommen.
Die Menschenrechtsorganisation AMDH (Association Marocaine des Droits Humains) teilt diese positive Bilanz nicht, auch wenn sie anerkennt, dass es einen Fortschritt gegenüber den Schiedsausschuss von Hassan II. gibt. Sie ist die kritischste der drei NGOs, welche die IER begleitet haben. Laut Abdelilah Benabdessalam, Vorstandmitglieder der AMDH, mangelt es an Transparenz: "Es gibt keine Liste der Entschädigten, und Ablehnungen werden nicht erläutert." Die ausbezahlten Summen wären in einigen Fällen lächerlich klein und würden sogar dem Schariah-Erbprinzip, das die Frauen benachteiligt, folgen. Diese Kritiken regen Hamid El-Kam besonders auf: "Das ist falsch. Die Debatte wird irrational geführt."
Die Opfervereinigung FMVJ übt zurückhaltender Kritik: "Wir wissen nicht, wie viel Geld die einzelnen Opfer bekommen haben. Die meisten wollen es uns auch nicht verraten," kommentiert ihr Vorsitzender. Hier schließt sich Khadija Marouazi, Mitglied des Nationalen Rates der Organisation Marocaine des Droits de l'Homme (OMDH) an: "Wir wissen nur von den Leuten, die protestieren." Die Professorin ist selbstkritisch: "Die IER hat eine gute Arbeit geleistet. Aber wir, die NGOs, sind ein bisschen frustriert, weil wir nicht involviert waren. Wir waren unvorbereitet, als die IER sich an der Arbeit gemacht hatte. Wir haben nur reagiert und keine Vorschläge gemacht. Wir haben eine gute Gelegenheit verpasst. Es ist bitter."
Marouazi spricht unverhohlen die noch dominante Protestkultur der NGO-Szene an. Sie gehören noch zu den Generationen, die aktiv gegen den Staat kämpften und dafür einen hohen Preis bezahlt haben. Abdelilah Benabdessalam von der AMDH verbrachte in den 1980er Jahren selbst einige Jahre im Gefängnis. Er hat kein Dossier für die Entschädigung eingereicht. Das Misstrauen gegenüber dem Staat bleibt groß, so dass jede Zusammenarbeit mit diesem eine schmerzhafte Angelegenheit ist. Das Gefühl, durch die Entschädigung von der Macht gekauft worden zu sein, ist unterschwellig präsent. Kamal Lahbib macht sich jedoch keine Illusion: "Aufgrund der Armut wollen 98 Prozent Geld und 2 Prozent die Wahrheit."
Zum Thema Wahrheit sind die Einschätzungen zur Arbeit der IER ebenfalls geteilt. Auf einer Seite wird anerkannt, dass die IER in ihren knapp zwei Jahren Existenz eine enorme Dokumentationsarbeit geleistet hat. Über 22.000 Dossiers wurden von Opfern und Hinterbliebenen eingereicht. Sie hat eigene Nachforschungen betrieben und zahlreiche Interviews geführt. Sie hat sich durch die Archivbestände der Sicherheitsorgane und Ministerien gewühlt. Bestandteil der Untersuchungen waren die schweren Menschenrechtsverletzungen der Regierungszeit von Hassan II (1956-1999): das Verschwindenlassen, die willkürliche Haft, das Foltern, die sexuelle Gewalt, die weiteren unbegründeten Tötungsdelikte und die erzwungene Exilierung. Im Endeffekt schaffte sie es in der kurzen Zeit, 742 Fälle von verschwundenen Personen zu klären.
Auf der anderen Seite bedauern die NGOs die fehlende Aufklärung des Falls Ben Barka, des führenden marokkanischen Oppositionellen, der 1965 in Paris verschwand. Ebensowenig seien der Aufstand in der Rif-Region im Jahr 1958, wo 8000 Menschen durch die brutale Repression ihr Leben verloren, aufgeklärt sowie weitere 66 Fälle von Verschwundenen. Der Folgeausschuss arbeitet noch daran und verspricht eine baldige Aufklärung. Für die Vertreterin der OMDH hätte die IER die Scheinwerfer auf einige der sehr bekannten Fälle richten sollen: "Symbolisch wäre es wichtig gewesen."
Alle Gesprächspartner sind sich einig, dass die öffentlichen Anhörungen ergreifend waren. Zum Beispiel Hanane, 29 Jahre alt, welche die Anhörungen im Fernsehen verfolgt hatte: "Die IER hat Analphabeten das Wort gegeben, das war kein politischer, weiser oder intellektueller Diskurs. Sie haben erzählt, wie sie ihre Kinder verloren haben. Am meisten haben mich die Aussagen der Eltern bewegt." Mourad Errarhib, Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Rabat, die an der Seite der NGOs stark in die Debatte involviert ist, bestätigt: "Wenn die alten Frauen mit ihren traditionellen Kleidern aus ihren Bergen herabstiegen und in Berber-Sprache über ihre verschwundenen Söhne sprachen, dann herrschte eine absolute Stille." Und er fügt hinzu: "Manchmal fragte man sich, ob man nicht träumt. Das war das erste Mal, dass die Opfer als Helden auftraten." Insgesamt fanden sieben Anhörungen statt, in allen Landesteilen. Sie wurden live im Fernsehen und Rundfunk übertragen. Viele ehemalige Aktivisten mit ihren Familien waren bei den Anhörungen dabei. Um die 200 Opfer konnten 20 Minuten lang frei sprechen, ohne von Fragen unterbrochen zu werden.
Was es für die junge Generation bedeutete, welche die bleiernen Jahre der Herrschaft von Hassan II. nicht erlebte, beschreibt Hanane, die während der Anhörungen noch Studentin war, weiter: "Wir dachten zuerst, es geht uns gar nichts an, es ist Vergangenheit. Dann haben wir angefangen, darüber zu lesen und nachzudenken. Unsere Elterngeneration hat nie davon gesprochen. Es war sehr mutig und gewagt seitens der Regierung. Das war wie eine Gruppentherapie."
Khadija Marouazi gibt gern zu, dass die NGOs selbst darunter auch ihre Organisation die OMDH viel davon gelernt haben: "Wir hatten zwar Listen von Opfern. Was wir die ganzen Jahre aber unbeachtet gelassen haben, wozu sich in unseren Archiven nichts findet, das ist das Schicksal der unpolitischen und unbeteiligten Opfer, zum Beispiel Kinder und Frauen, die während der Streiks 1981 einfach nur am Straßenrand standen oder an ihren Fenstern saßen. Wir haben uns darum nie gekümmert. Diese Opfer haben nie geklagt."
Die Grenze der Wahrheitsfindung liegt für die NGOs im Mandat der IER. Es sei zu schwach gewesen. So habe die IER nicht die Sicherheitsorgane wie Armee, Polizei und Geheimdienste, welche schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, zur Zusammenarbeit zwingen können. Und es war den Opfern während der öffentlichen Versammlungen untersagt, die Täter zu nennen. Es entsteht so der Eindruck, dass diese glimpflich davongekommen sind. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass im Abschlussbericht nicht das politische System angeprangert wird. Die Verantwortung der verschiedenen Sicherheitsorgane wird vage erwähnt und lediglich die "Unverhältnismäßigkeit der ausgeübten Gewalt" festgehalten.
Die sonst moderate Marouazi geht mit diesem Zitat hart ins Gericht: "Diese Schlussfolgerung des Berichts hat den Geist der IER geschwächt. Mit dieser Formulierung verschleiert man, dass es eine systematische Unterdrückung gab." Das trifft auch die Saharaouis, die ausschließlich als Opfer eines bewaffneten Konfliktes gesehen wurden. Das ist die offizielle Position. "Aber es ist falsch," beteuert Mohamed Sebbar von der Opfervereinigung FMVJ. "Was die Arbeit der Wahrheitskommission schwierig machte, ist, dass das System sich nicht geändert hat." "Die IER hat all jene Analysen vermieden, die direkt die Monarchie verwickelt hätten," fügt der ehemalige Gefangene Lahbib hinzu. "Mohammed VI kann keinen Prozess durchführen lassen, der seinen Vater verurteilt. Weil er die Macht geerbt hat. Dies ist eine Grenze der Arbeit. Einige haben die Grenze akzeptiert. Ich nicht."
Vielleicht denkt er an Driss Bensekri, den Vorsitzenden der IER, der 15 Jahren im Gefängnis verbrachte. "Die Auswahl der 17 Mitglieder der IER spiegelt eine Allianz zwischen Teilen der Zivilgesellschaft und der Monarchie wieder", schreibt Pierre Hazan, der 2006 für das United States Institute of Peace eine Studie über die IER verfasste. Neun kamen aus der CCDH, die anderen aus der Zivilgesellschaft. Sechs davon waren ehemalige politische Gefangene. Der politische Wille des Königs war stark: Er hat Driss Bensekri zum Vorsitzenden der IER ernannt. Es war ein Beweis von Ernsthaftigkeit und Unabhängigkeit für die Kommission. "Er ist eine Art marokkanischer Mandela", sagt Mourad Errarhib, der FES-Mitarbeiter.
Wie frei waren also die Mitglieder der IER? Haben sie Grenzen bei der Wahrheitssuche beachten müssen? Oder womöglich Selbstzensur betrieben? Einer von ihnen war Abdelhay Moudden. "Für eine Beurteilung der Arbeit der IER fehlt mir noch die Distanz" sagt der Professor. Wir sitzen auf einer von Kissen bedeckten Bank in seinem Büro und trinken Tee. Keine Tür und keine Fenster: Der Raum ist offen zum zentralen Patio, der ein fahles Tageslicht von oben in das Gebäude hineinfließen lässt. Wir sind in der alten Medina von Rabat. Dem eleganten, in sich ruhenden Professor bereitet es offenbar Vergnügen, laut über seine Beteiligung an der IER reflektieren zu können. Wieviel Freiheit hatten die Mitglieder der IER bei ihren Vorhaben? Wie schafft man es, über eine Vergangenheit zu richten, obwohl das System, das die schweren Menschenrechtsverletzungen verursacht hat, weiter besteht?
"Es gab keine rote Linie. Wir waren frei. Der König hat keinen Druck auf uns ausgeübt." Prof. Moudden rechtfertigt die Vorgabe, Täter nicht zu benennen: "In den privaten Anhörungen wurden Namen zitiert. Aber das waren nur Ausführende." Und weiter: "Wir hatten auch ein Problem mit den Beweisen. Wir hatten nämlich wenige. Im Endeffekt haben wir die Leute als Opfer anerkannt und entschädigt, ohne Beweise, sobald uns deren Geschichte glaubwürdig klang."
Die NGOs nehmen ihm dieses Argument nicht ab. Kamal Lahbib selbst weiß genau, wer sein Kerkermeister war. "Er hat auch meine Überweisung in das Gefängnis unterzeichnet". Der Mangel an Beweismaterial ist gleichwohl eine objektive Grenze für die Arbeit. Die Archivbestände - sofern sie überhaupt existieren - sind in schlechtem Zustand. Das zweite Manko betrifft die zeitgeschichtliche Forschung. Das Fach Zeitgeschichte existiert in Marokko eigentlich nicht. Und das ist auch ein Argument für Abdelhay Moudden.
Er gesteht aber auch ein, dass die IER keine Macht hatte, die Täter zu Aussagen zu zwingen. "Die Festlegung der individuellen Schuldfrage war nicht Teil unseres Mandats. Die IER war kein Gericht. Wir haben aber die Frage nach der institutionellen Verantwortung beantwortet." Das Thema schien aber in der Feststellung, dass die Sicherheitsorgane "unverhältnismäßig Gewalt" ausgeübt haben, erschöpft zu sein. Ist dies nicht ein bisschen kurz gedacht? "Wir haben den Kontext nicht klären wollen, weil es nämlich in dieser Frage keinen Konsens gibt. Das sollen die Historiker später tun. Es gab zwischen den Mitgliedern der IER endlose Diskussionen: zum Beispiel, ob man von Gewalt des Staates oder von illegitimer Gewalt des Staates sprechen sollte. Wir wollten auch nicht klären, ob die Gewalt des Staates eine Antwort auf die Angriffe der Opposition war. Diese Fragen werden immer polemisch bleiben."
Also keine Täter, die Reue zeigen, keine Anklage des Systems, sondern eine konsensuelle Wahrheit und später womöglich Historikerstreit. Das scheint die Grenze der Arbeit der IER bei der Wahrheitssuche gewesen zu sein. Aber immerhin gibt es keinen Schlussstrich.
Prof. Moudden zeichnet die realen Machtverhältnisse auf und gibt mir einen Hinweis, wie der Weg weiter verfolgt werden könnte: "Das Ziel der IER war es, zu zeigen, dass der Staat schwere Menschenrechtsverletzungen ausgeübt hat, sie zu dokumentieren und den Staat damit zu konfrontieren. Das fand in den öffentlichen Anhörungen statt. Unser Anliegen ist die Entwicklung einer Kultur, welche die Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger." Und weiter, nachdenklich: "Ich habe bei der Mitwirkung an der IER etwas gelernt, auch als Politologe: früher habe ich den Strukturen viel zu viel Bedeutung zugemessen. Die IER ist das Ergebnis von Entscheidungen von Individuen, das Ergebnis von Kämpfen. Die Wirkungsmöglichkeiten waren viel größer als ich dachte. Das Ergebnis der IER stand nicht vorher fest. Es ist mir egal, was der König beabsichtigte und tun wollte. Es ist eine Frage des politischen Wettbewerbs, das hängt von den Akteuren ab. Die Menschenrechtsorganisationen müssen jetzt ihre Arbeit tun: alle Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und die Macht überwachen. Die Opfer können ihre Peiniger vor Gericht anklagen. Wir haben uns nicht über eine Amnestie geäußert. Diese Frage bleibt offen." Somit wirft er den Ball auf die Seite der NGOs und ermutigt sie, den Kampf weiter zu führen.
Die Frage nach einer juristischen Verfolgung ist momentan noch schwierig. Mohamed Sebbar erzählt den exemplarischen Fall einer Untersuchung, die nach der Entdeckung eines Massengrabes in Casablanca gefordert wurde. Der Staatsanwalt aber erklärte den Fall für verjährt. Die Opfervereinigung FMVJ will weiter Druck machen. Einige Klagen seien in Vorbereitung. "Es geht um die Bewahrung der Erinnerungen," sagt Sebbar. Es könnte aber sein, dass die juristische Verfolgung bald einen Aufschwung erhalte, nämlich aus Spanien. Dort prüft derzeit der Richter Garzon, der einst auch die Auslieferung von Pinochet aus England verlangte, die Möglichkeit, gegen vier hochrangige Marokkaner eine Anklage zu erheben. Im Namen des Weltrechtsprinzips haben spanische Staatsbürger saharouischer Herkunft eine Klage dem spanischen Gericht unterbreitet.
Damit es zu Prozessen in Marokko kommt, müssen die Empfehlungen, die im Bericht der IER formuliert sind, umgesetzt werden. Dabei geht es um Verfassungsreformen (Vorrecht der internationalen Menschenrechtsnormen vor nationalen Gesetzen, Stärkung der Gewaltentrennung und der fundamentalen Freiheitsrechte), um die Reformen der Justiz und Sicherheitsorgane und um die Festlegung einer nationalen Strategie zum Kampf gegen die Straflosigkeit", welche die Menschenrechtskultur und die Erinnerungsarbeit stärken soll. Dazu gehören zum Beispiel das Schreiben von neuen Schulbüchern und die Schaffung von Museen und Gedenkstätten.
Und was ist die Bilanz der IER, was diese Fragen betrifft? Der junge Mitarbeiter des offiziellen Menschenrates El Kam glaubt zuerst an die "Unumkehrbarkeit des Erreichten". Die IER werde die Wiederholung von schweren Menschenrechtsverletzungen unmöglich machen. Als weitere Errungenschaften nennt er zum Beispiel die Unterzeichnung der Internationalen Konvention über das Verschwindenlassen durch den marokkanischen Staat im Februar 2007 oder das Gesetz über das Archivwesen, das unter der Ägide des CCDH erarbeitet wurde. "Derzeit passiere viel, es ist bloß noch nicht sichtbar. Die Reform der Justiz wird Zeit in Anspruch nehmen."
Ist die marokkanische Monarchie dabei, sich zu reformieren? Der König hat dem kompletten Bericht, also samt den Empfehlungen, zugestimmt. Ist damit der Weg zu einer parlamentarischen Monarchie offen? Wie stark ist der politische Wille der Monarchie, Reformen durchzusetzen? Diese Fragen stehen im Zentrum der Debatte um die politische Zukunft Marokkos. "Die IER hat eine Bresche geöffnet", gibt der Vorsitzende der Opfervereinigung FMVJ Sebbar gern zu. "Wir sehen die Reformen aber nicht kommen," fügt er hinzu. Es liegt für ihn daran, dass die IER nicht in "einer klaren demokratischen Vision" eingebettet ist. Für Khadija Marouazi, die Vertreterin der OMDH sind die Empfehlungen jetzt das Wichtigste. "Sie müssen von den betroffenen Ministerien konkretisiert werden. Der Wille muss sich noch zeigen." Derzeit bereiten die NGOs ein zweites Symposium vor, nach dem ersten, das 2001 den wichtigsten Impuls für die IER gab. Es soll die Bilanzierung der Arbeit der IER dienen und neue Zielsetzung festlegen. Marouazi ist dabei ein bisschen mulmig. Sie glaubt nicht, dass die NGOs dafür vorbereitet sind. Es fehle an Vision und an Expertise: "Nichts ist festgelegt. Es ist ein Kampf ohne Feinde und es passt nicht zu unserer Protestkultur. Die demokratische Kultur ist ein Lernprozess. Für uns hat die Freiheit immer die rote Farbe, die Farbe des Blutes, nie ist sie mit dem Leben assoziiert."
Ein Test für den Reformeifer der Monarchie ist paradoxerweise ihre Haltung gegenüber dem islamischen Terrorismus und allgemein gegenüber dem wachsenden Einfluss der Islamisten in Gesellschaft und Politik. "Die IER hat die marokkanische Realität nicht geändert. Sie hat Entschädigung für die Opfer gebracht und sonst nichts. Es gab keinen Bruch. Es ist Propaganda," behauptet Mostapha Ramid. Er ist Abgeordneter der einzigen zugelassenen islamischen Partei, der PJD. Er gilt als wichtiger Theoretiker der Partei.
Am 16. Mai 2003 explodierten in Casablanca zwei Bomben. Marokko ist damals zum ersten Mal mit dem islamistischen Terrorismus konfrontiert worden. Die Regierung antwortete mit Massenfestnahmen im islamistischen Milieu. Ramid führt fort: "Wir haben die Bildung der IER gutgeheißen. Aber wieso ein Gremium schaffen, um Entschädigung zu zahlen und vermeiden, dass die Irrtümer der Vergangenheit sich wiederholen, wenn es heute so weiter geht?"
Das Gespräch findet in seiner Anwaltskanzlei in einem Mittelschichtviertel im Zentrum von Casablanca statt. Zwischen Wohnhäusern und Büros ist die Straße recht belebt an diesem Spätvormittag. Am Fuß des Gebäudes befindet sich ein Café, das sowohl von Männern als von Frauen besucht wird. Man trifft sich unter Freunden oder mit der Familie, um süßes Gebäck zu essen. Man ist hier kleinbürgerlich.
"Wir wissen nicht, wieso kein Mitglied der IER die religiöse Sensibilität vertritt. Wir sind nicht über die Ursachen unterrichtet worden." Die Wand hinter dem Büro ist voller Bücher, alle in arabisch. Sonst hängen im Raum Bilder mit Suren des Korans und ein Plakat für die Befreiung Palästinas. Der freundliche Mann hat mir bei der Begrüßung nicht die Hand gegeben.
"Die IER wurden geschaffen, weil die Opfer von damals gut organisiert waren. Die Linken haben die Politik beeinflusst. Heute sind die Opfer nicht gut organisiert: Es gab Entführungen, die Monate lang gedauert haben. Es gab Folterungen und ungerechte Prozesse. Es ist nicht die Verantwortung der IER, aber des Staates. Heute richten wir über gestern und morgen werden wir über heute urteilen."
Die linke Kritik stimmt mit derjenigen der Islamisten überein: "Nach dem 11. September 2001 und nach den Attentaten in Casablanca am 16 Mai 2003, gab es wieder Folter und Menschen ver schwanden. Dies zeigt, dass das Regime sich nicht geändert hat. Die Praxis ist dieselbe geblieben. Die Kultur der Straflosigkeit besteht weiter," klagt Abdelilah Benabdessalam von der AMDH an. Die anderen NGOs sind nuancierter: "Die Fundamentalisten sind jetzt die Opfer der Menschenrechtsverletzungen. Es stimmt, aber es ist nicht vergleichbar. Damals gab es vielmehr Straflosigkeit und man konnte nicht darüber sprechen. Heute es ist möglich," unterstreicht der Vorsitzende der Opfervereinigung FMVJ, "aber der Prozess ist fragil. Wenn ein Schock kommt, kann alles in Frage gestellt werden und die Stimmung kann sehr schnell kippen. Die Gefahr liegt derzeit im Kampf gegen den Terrorismus." Am 11. März dieses Jahres sprengte sich ein Selbstmordattentäter in einem Internetcafé in Casablanca in die Luft. Die Angst vor dem Terror war wieder da. "Nur diesmal", sagt die Menschrechtsaktivistin Marouazi, "hat die Regierung nur gezielte Individuen festgenommen. Der Staat scheint dazu gelernt zu haben. Wir müssen aber noch abwarten."
Meine Gesprächpartner sprachen von den Emotionen der Anhörungen und gaben mit mehr (OMDH) oder weniger (AMDH) Lippenbekenntnissen zu, dass es unter Mohammed VI einen "kleinen marokkanischen Frühling" gab. Aber von Versöhnung war nie die Rede, obwohl das Wort Bestandteil des Namens der marokkanischen Wahrheitskommission ist. Dabei geht es nicht um Versöhnung zwischen Marokkanern, sondern zwischen dem Volk und einem verabscheuten System, das sich ohne Bruch, ohne Revolution ändern soll, ohne dass das zu erreichende Ziel seitens des absoluten Monarchen explizit angegeben wird.
Es scheint aber, dass zumindest ein Teil der ehemaligen Aktivisten stillschweigend Frieden mit der Monarchie geschlossen hat, auch aus Angst vor den neuen Gefahren, unter anderem des Terrorismus und der Islamisten und ihrer konservativen Gesellschaftspolitik. Khadija Bourarach, Mitte 50, war Anfang der 1970er Jahren bei der sozialistischen studentischen Gewerkschaft UNEM engagiert. "In meinem Umfeld wurden viele festgenommen. Ich sammelte das Geld für die Familien." Was die IER betrifft: "Ich bedauere manchmal, dass keine Namen der Täter preisgegeben worden sind. Aber anderseits... es ist vielleicht besser so, heute würden ihre Familien, ihre Kinder darunter leiden. Sie können nichts dafür. Die Täter sollten in engeren Kreisen um Entschuldigung bitten, es ist wichtiger als das Geld. Damals waren wir gegen die Monarchie. Heute bin ich dafür, dass man sich für die Demokratie innerhalb der Monarchie engagiert." Und lobt den König, dessen Frau kein Kopftuch trägt und der den Harem seines Vaters geschlossen und die Mudwana, das neue Familienrecht, das den Frauen mehr Rechte gewährt, erlassen hat.
Jenseits der großen politischen Reformen erwarten die NGOs einen symbolischen Epilog der IER, nämlich "die Entschuldigung des Königs oder zumindest des Premierministers", sagt Mohamed Sebbar, "das fordern wir für die Opfer und die ganze Gesellschaft". Die OMDH bereitet derzeit einen Entschuldigungsbrief, den sie dem Premierminister vorlegen will.
Gequetscht am Rande eines Tisches im Getöse des Mittagstisch-Restaurants des Hafens, will Kamal Lahbib nichts von einem Epilog hören. Für ihn ist die Frage schwierig, er erwartet keinen Prozess. "Wer sollte vor Gericht stehen? Die sind alle tot oder von ihren Ämtern zurückgetreten." Die Symbolik offizieller Entschuldigung lehnt er ab. Der Staat hat mit der IER schon seine Verantwortung anerkannt. Was bleibt, ist die Zukunft des Landes, demokratisch und ökonomisch. Wichtig ist ihm, dass die jüngere Generation eine bessere Zukunft hat. Dafür engagiert er sich in viele Organisationen. Er ist zur Zeit im Fernsehen in einem Werbespot einer Initiative der Zivilgesellschaft zu sehen. "2007 Daba" heißt sie und tritt für faire Wahlen und für eine Erhöhung der Beteiligung an den Wahlen ein, die im September stattfinden werden. Jenseits der Opfer-Identität, da fühlt er sich wohl.
aus: der überblick 01/2007, Seite 42
AUTOR(EN):
Odile Jolys
Odile Jolys ist Redakteurin beim "überblick".