Die Entdeckung der Langsamkeit
Wie der, der Euch berufen hat, heilig ist, so sollt auch Ihr heilig sein in Eurem ganzen Wandel.
(1. Petrus 1,15)
Und er sprach zu ihnen: Geht ihr allein an eine einsame Stätte und ruht ein wenig. Denn es waren viele, die kamen und gingen, und sie hatten nicht Zeit genug zum Essen.
(Markus 6,31)
von Eberhard Hitzler
Sind Zeiteffizienz und Schnelligkeit ein Zeichen eines heiligen Lebenswandels? Ist Zeitmanagement und "je schneller desto besser" eine gottgefällige Art zu leben? Ist Zeit der neue Götze der Welt, weil Zeit Geld ist?
"Ganz schnell" ist vielleicht so etwas wie ein nicht selbst gewähltes Lebensmotto, das mir mit auf meinen Lebensweg gegeben wurde: "Mach mal schnell" "Kannst du mal schnell" - klingt mir heute noch die Aufforderung meines Vaters zur Erledigung bestimmter Arbeiten im Ohr. Nicht, dass mir das heute wirklich unangenehm wäre: Meistens bin ich stolz darauf, wenn ich eine Arbeit schnell erledigt habe, eine e-mail-Anfrage in Minuten beantwortet ist, ich bin stolz auf mein computergeführtes Zeitmanagement.
Dabei weiß ich mich in bester Gesellschaft auch mit protestantischen Kirchenvätern, ja sogar solchen, die man eher in mystischer Versenkung als in Beschäftigung mit Zeitmanagement vermutet: "Er überdachte zum Voraus, was für Arbeiten nützlich und nötig wären, und was er für Zeit dafür brauchen dürfte. Sodann machte er sich ein Register von den bevorstehenden Tagen, Wochen und Monaten, und schrieb sich die Arbeiten dazu, die er sich vorgenommen hatte. Einen jeden Tag teilte er wieder nach seinen Stunden ein und merkte sich die zu jeder Stunde gehörige Arbeit. Kam ihm was dazwischen, so suchte er es nachzuholen, und das machte, dass er oft den größten Teil der Nacht zu Hilfe nahm, um sein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wenn er nun einen gewissen Periodum zurückgelegt hatte, so nahm er die entworfenen Register vor sich und sah nach, was er getan habe und worinnen er zurückgeblieben sei. Man fand nach seinem Heimgang unter seinen Briefschaften viele solche Zeitrechnungen und dabei manche Anmerkungen, woraus man deutlich abnehmen konnte, wie er entweder dem Herrn gedanket, wenn er durch seine Gnade und Beistand sein Ziel erreicht; oder mit Tränen um Vergebung gebeten, wenn er etwas, das er für nötig gehalten, schuldig geblieben war. Und man darf getrost sagen, dass er seine Zeit mit größter Treue dem Herrn und seinem Nächsten zum Dienst anzuwenden gesucht und gewusst habe."
So lässt Grete Wehmeyer in "Langsam leben" Nikolaus Ludwig Graf Zinsendorf zu Wort kommen, den Begründer der Herrenhüter Brüdergemeinschaft, der von 1700 bis 1760 gelebt hat. Er hat also bereits vor 250 Jahren schon Zeitmanagement beherrscht und auch von anderen gefordert: "Der Heiland hat gesagt: Es sind des Tages 12 Stunden. Wir können nach unserer Art zu leben in unserem Climate der Arbeit noch mehr Stunden geben - und man danket dem Heiland, wenn man mit soviel Zeit fertig wird; ja mancher kann nicht fertig werden, wenn er auch alle Zeit darauf verwendet. (...) Man arbeitet nicht allein, dass man lebt, sondern man lebt um der Arbeit willen, und wenn man nichts mehr zu arbeiten hat, so leidet man oder entschläft."
Noch früher, bereits 1665, ebenfalls bei Grete Wehmeyer nachzulesen, stellte Richard Baxter in seinem Christian Directory - einem Leitfaden zum christlichen Leben, - fest: "Die Zeit gut anwenden heißt darauf achten, dass wir sie nicht für nichtige Dinge vergeuden, sondern jede Minute als höchst kostbar nutzen ... Gott ist es, der dich zur Arbeit ruft ... Zeitvergeudung ist die schwerste aller Sünden."
Die Calvinisten und die englischen Puritaner krönten das Dogma von der optimalen Zeitausnutzung noch um die Variante, dass sich an der materiellen Ausbeute der so genutzten Zeit, auch die Zustimmung Gottes ablesen lasse. Auch bei den Quäkern, Baptisten und Methodisten war klar: Frömmigkeit ist der sicherste Weg zum Reichtum.
Heute sind Schnelligkeit und optimale Zeitausnutzung zum Gegenstand der Wissenschaft geworden. Für Politiker und Wirtschaftsbosse, Lehrer, Universitätsprofessoren, Pfarrer und Kirchenführer ist Zeitknappheit geradezu zum Statusmerkmal geworden. Das anscheinend urprotestantische Zeitverständnis in seiner kapitalistischen Interpretation ist bis heute nahezu ungebrochen und wird theologisch kaum ernsthaft hinterfragt. Dabei ist das Paradigma, dass man die Zeit effektiv nutzen müsse, dass ungenutzte Zeit vergeudete Zeit sei, relativ neu in der Geschichte und auch in der Bibel so nicht zu finden. Weder Altes noch Neues Testament wissen von der Verfügbarkeit der Zeit und von der angeblichen Notwendigkeit, sie möglichst effektiv zu nutzen zum höheren Lobe Gottes.
Wer einmal über den Tellerrand des europäisch-protestantischen Zeitverständnisses hinaus schaut, wird wahrnehmen, dass Afrikaner und Asiaten ein völlig anderes Zeitverständnis haben. Das Wort Zeitverschwendung ist etwa in Kiswahili, Maa und andere afrikanische Sprachen nur sehr umständlich oder schlicht gar nicht übersetzbar.
Es ist für uns Westeuropäer nicht immer einfach, auf den gelasseneren Umgang von Afrikanern mit der Zeit nicht mit Arroganz zu reagieren und auf Sekundärtugenden zu pochen. Doch wer sich einmal auf ein anderes Zeitverständnis eingelassen hat - notgedrungen vielleicht, um in einem Kontext mit ganz anderem Zeitverständnis nicht zu verzweifeln -, der wird merken, dass sich neue Welten und Weltsichten auftun: Auf andere - nach unserem Verständnis unpünktliche - Menschen zu warten, ist dann keine Zumutung mehr, sondern ein Geschenk: geschenkte Zeit zum Reden mit anderen Menschen, zum Nachdenken, zum Sitzen und Nichtstun, zum Hören, Riechen und in die Landschaft schauen. Das Leben wird reicher durch Warten, es wird langsamer, Zeit gibt es plötzlich in Hülle und Fülle, und sie verliert ihre Macht über mein Leben. Doch dieses entspannte Zeitgefühl und die Gelassenheit, die aus ihm resultiert, lässt sich nur schwer erhalten in einer Gesellschaft und einer Arbeitswelt, die Zeit korrekt und objektiv misst, in der Zeit Geld ist, Schnelligkeit alles und Langsamkeit ein Vorwurf.
Bei allem Stolz darauf, wie effektiv wir die Zeit nutzen, wie wir unsere Produktivität von Jahr zu Jahr erhöhen und schneller und effizienter arbeiten, bleibt uns doch ein Unbehagen, ob wir damit wirklich richtig leben. Ob wir, um es altmodisch zu sagen, ein gottgefälliges und den Menschen angemessenes Leben führen, oder ob wir uns nicht einen Götzen gemacht haben, dem wir uns völlig unterwerfen.
So ganz ungebrochene und ungeteilte Bewunderung und Freude scheint meine Schnelligkeit - oder soll ich besser selbstkritisch sagen meine Hektik und Getriebenheit - nicht auszulösen. Nach der Lektüre des Buches "Langsam leben" habe ich mir vorgenommen, wenigstens ab und zu wieder langsam zu sein, mir mehr Zeit zu lassen, nicht mehr stolz zu sein auf einen übervollen Terminkalender, mit Absicht Löcher zu lassen in meiner Terminplanung. Denn eigentlich weiß ich es ja von meinen afrikanischen Erfahrungen: Das Leben ist voller und reicher, spannender und gottgefälliger, wenn ich aufhöre, Herr meiner Zeit werden zu wollen. Und vielleicht ist es auch für meine Arbeit besser, wenn ich wenigstens hie und da etwas langsamer bin. Denn so paradox es klingt, je schneller wir sind, umso weniger Zeit haben wir. Zeit gewinnt, wer langsam ist.
Interessant ist auch, wie Jesus reagiert hat, als die Arbeitsanforderungen und der Arbeitsdruck auf ihn und seine Jünger gestiegen sind: Bei Markus 6, 31 lesen wir, dass Jesus seine Jünger aufgefordert hat, mit ihm zu einem einsamen Ort zu gehen, denn es kamen und gingen nämlich so viele Besucher, dass sie nicht einmal Zeit zum Essen hatten. Jesus ermahnt also nicht die Jünger, effizienter und schneller zu arbeiten, um mehr Besucher empfangen zu können, sondern schützt sie vor dem Arbeitsdruck und lässt sie an einem - wie Luther sagt - wüsten Ort zur Ruhe zu kommen.
Unsere effektive Zeitnutzung, unsere Sucht nach Schnelligkeit sind nicht Ausdruck und Zeugnis christlichen Glaubens und von Gottesnähe, sondern zeitlich und geografisch beschränkter Zeitgeist. Ein Zeitgeist, dem wir uns auch als Christen nur schwer entgegenstellen können, wenn wir in dieser Gesellschaft und ihrer Arbeitswelt mithalten wollen. Aber es wäre ja schon viel, wenn wir uns hin und wieder bewusst werden, dass Zeiteffizienz und Schnelligkeit nicht unbedingt Tugenden sind, wie uns die nach wie vor gängige protestantische Ethik sagt. Wie wäre es, wenn wir hin und wieder den Versuch machten, den Spieß umzudrehen: Zeitknappheit nicht mehr als Statussymbol zu akzeptieren, sondern als Manko, ja vielleicht sogar als Ausdruck von Sünde, als Versagen, die uns von Gott geschenkte Zeit als unverfügbares Geschenk anzunehmen.
Literatur
Grete Wehmeyer: Langsam leben, Freiburg 2000
aus: der überblick 04/2001, Seite 104
AUTOR(EN):
Eberhard Hitzler:
Eberhard Hitzler ist der Geschäftsführer der Kammer für Umwelt und Entwicklung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).