von Renate Wilke-Launer
Zu den ersten englischsprachigen Begriffen in der Entwicklungsdiskussion gehörte der brain drain. Bis heute hat man keine gute Übersetzung dafür gefunden, dass bereits ausgebildete Fachkräfte oder junge Menschen mit entsprechendem Potential ihr Heimatland verlassen, weil sie anderswo bessere Arbeitsbedingungen und höhere Einkommen erwarten können. In Deutschland belegte man mit diesem Begriff vor allen Dingen das Phänomen, dass Studenten aus der Dritten Welt nach ihrer Ausbildung lieber hier einer Tätigkeit nach- als in ihre Heimatländer zurückgingen. Dort warteten aber, so die freundliche, keineswegs abweisende Überlegung, wichtige Aufgaben auf sie, die Entwicklung ihrer gerade unabhängig gewordenen Staaten, bei der es mit ihrer Hilfe gewiss bald vorangehen würde. Als man sich schließlich eingestand, dass manch junger Arzt oder Ingenieur lieber in Deutschland blieb, legte man Rückkehrerprogramme auf, um dazu beizutragen, die Schwierigkeiten der Reintegration zu bewältigen.
Eine deutsche Wortschöpfung aus dieser Zeit, der Gastarbeiter, ist dagegen auch in englischsprachigen Texten zu finden. Die freundliche Vokabel benannte nämlich gleich zwei Beschränkungen für die Männer aus Europas Süden: Es sollte sich um einen temporären Aufenthalt handeln und lediglich ein Mangel an Arbeitskräften in bestimmten Bereichen ausgeglichen werden. Ob diese Menschen in ihren Heimatländern fehlten, hat hier kaum jemanden beschäftigt, zu stolz war man auf das deutsche Wirtschaftswunder, an dem man sie auf diese Weise doch großzügig teilhaben ließ.
Erst als die Migranten nach dem Anwerbestop (1973) nicht wieder verschwanden und gleichzeitig Menschen aus allen Kontinenten als Flüchtlinge und Asylbewerber in unser Land drängten, kam die ebenso ungastliche wie weltfremde Rede auf, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Diese Gespensterdebatte ist seit der letzten Legislaturperiode endlich zu Ende, was wir als Einwanderungsland zu tun haben, wissen wir aber noch nicht so recht. Immerhin wird nun mit etwas mehr Realitätsbezug um das Wohl und Wehe des Zuzugs gestritten.
Von periodisch aufflackernden Diskussionen um den brain drain und einem generellen Verständnis für Flucht abgesehen, hat sich die Entwicklungspolitik nicht an der Einwanderungsdiskussion beteiligt. Als vor einigen Jahren immer deutlicher zu Tage trat, dass die Migranten so viel Geld in ihre Heimatländer überweisen, dass die Summe dieser vielen kleinen Beträge die seit langem mehr oder weniger stagnierende Entwicklungshilfe längst übersteigt, herrschte zunächst weiter Schweigen. Einer Branche, die immer wieder neue Rezepte für »Entwicklung« aufgelegt hat, die so viel wert auf Konzepte legt, die lange Jahre viel Vertrauen in staatliche Planung gehabt hat und die öffentliche Wohlfahrt höher bewertet als das individuelle Fortkommen, mußten diese Transfers suspekt sein. Man schmähte die Überweisungen als bloß konsumptiven Zwecken dienend und merkte kritisch an, dass sie die Ungleichheit fördern statt alle gemeinsam voranzubringen.
Das hat sich in den letzten drei Jahren geändert: Es gibt inzwischen eine Fülle von Arbeiten, die untersuchen, wie entwicklungsrelevant die Geldtransfers von Migranten (remittances) in ihre Heimatländer sind, und auch die Entwicklungspolitik hat die Bedeutung dieser Finanzströme erkannt. In Großbritannien hat sich das Department for International Development (DFID) mit dieser Frage beschäftigt, in Norwegen das International Peace Research Institute (PRIO), in Dänemark das Dansk Institut for Internationale Studier (DIIS) und in Deutschland hat sich die »Gesellschaft für technische Zusammenarbeit« (GTZ) des Themas angenommen. Nun hat die Weltbank ihren im November 2005 erschienen Weltwirtschaftsbericht Global Economic Prospects (GEP) den volkswirtschaftlichen Folgen dieser Überweisungen gewidmet (Economic Implications of Remittances and Migration). Was da zusammengetragen wurde ist beachtlich, auch wenn immer noch vieles unklar, anderes umstritten ist. Bei den Migranten selbst halten sich diese Studien nicht lange auf. Dabei sind sie es, die in allererster Linie Beachtung und Respekt verdienen. Sie arbeiten im fremden Land, viele davon in schlecht bezahlten Jobs oder unter ungünstigen Bedingungen. Sie sparen sich Monat für Monat von ihrem Lohn etwas ab, um es ihren Verwandten zu schicken. Migration, das darf bei aller Freude über diese neu entdeckten Geldströme nicht vergessen werden, hat einen hohen Preis: Trennung von Männern und Frauen, Eltern und Kindern, von Freunden, von der vertrauten Umgebung der Heimat. Die Wege in die Zielländer sind oft weit, beschwerlich, manche gefährlich, und wer keine Aufenthaltsund Arbeitserlaubnis hat, lebt in der ständigen Unsicherheit der Illegalität.
Das haben einmal mehr und besonders drastisch im September/ Oktober diesen Jahres die Bilder aus Melilla gezeigt. Mit dem Mut der Verzweiflung und selbstgebastelten Leitern überkletterten Afrikaner die damals teilweise noch »nur« drei Meter hohen Zäune, die sie von der spanischen Enklave, also von Europa, trennten. Dass ein paar Hundert das geschafft hatten, hat sofort zu einer veränderten Politik und Praxis geführt: Sie durften nicht bleiben. Dabei gehört es doch zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen Europas, dass die Spielregeln nicht rückwirkend geändert werden. Interviews mit den gnadenlos nach Marokko Zurückgeschafften zeigten dynamische und wortgewandte Menschen, die davon sprachen, wie groß die Hoffnungen ihrer Familien waren, dass der ausgesandte Sohn es nach »Europa« schafft, und die dafür ihre letzten Groschen gegegeben oder sich gar verschuldet hatten. Unter den vielen beklemmenden Fernsehbildern des Jahres 2005 gehörten diese zu den traurigsten.
Von einer Gruppe ist in den Studien so gut wie nicht die Rede: den Migrantinnen. Während die Entwicklungspolitik nach vielen Fehlern gelernt hat, die Geschlechterfrage mit in den Blick zu nehmen, fehlt dieser Blickwinkel in der Entwicklung-durch-Rücküberweisungen- Diskussion fast völlig. Wenn von Migration die Rede ist, dann ist in vielen Köpfen das Bild eines Mannes, der in die Fremde zieht und (vielleicht) eines Tages seine Familie nachholt. Tatsächlich sind aber fast die Hälfte der (geschätzten) 185 Millionen Migranten Frauen. Und das hat viel mit den traditionellen geschlechtspezifischen Arbeitsteilungen zu tun, in den Zielwie in den Herkunftsländern.
Die veränderten Arbeitsmärkte in den Industrieländern verlangen nach Frauen in Haushalt, Kinderbetreuung, Pflege und Sexarbeit; diese werden über global care chains aus dem Ausland importiert. Und dass sich die Frauen aus den Entwicklungsländern aufmachen, hat etwas mit den prekärer gewordenen Lebensbedingungen und Geschlechterverhältnissen in ihren Ländern zu tun. Wer arm ist, kann nicht wählerisch sein. Und oft genug ist aber auch kein Mann (mehr) da, der für die Familie zu sorgen vermag oder will. Aus manchen Ländern, etwa den Philippinen, ziehen weit mehr Frauen zur Arbeit ins Ausland als Männer. Obwohl nur wenige Daten vorliegen, gibt es Grund zu der Annahme, dass Frauen (noch) mehr sparen und ihren Verdienst stärker in die Bildung und gesundheitliche Versorgung von Familienangehörigen investieren. Mit anderen Worten: Es sind die Frauen in den Niedriglohnberufen, die die Last dieser Entwicklungshilfe tragen.
Vor jeder Diskussion um die Entwicklungsrelevanz von Rimessen, so der schweizerische Begriff von remittances, gilt es festzuhalten: Es sind hart arbeitende Frauen und Männer, die aus eigenem Antrieb und jenseits von Bürokratien so etwas wie Hilfe zum Lebensunterhalt leisten, die ein, wenn auch löcheriges soziales Netz spannen. Migranten halten also Millionen von Familien über Wasser, sind das Rückgrat kleinerer Volkswirtschaften (Tonga, Lesotho, Moldawien) und selbst für große Länder (Mexiko, Indien) eine der wichtigsten Devisenquellen. Zusätzlich bringen sie noch größere Beträge für die Katastrophenhilfe auf, wie sich bei Wirbelstürmen in Mittelamerika und beim Tsunami gezeigt hat, und drittens leisten sie, wenn auch in bescheidenem Ausmaß, selbst Entwicklungshilfe, etwa über hometown associations, mit denen zum Beispiel Migranten in den USA bestimmte Vorhaben in ihren mittel- und lateinamerikanischen Heimatländern finanzieren.
Mehr als 232 Milliarden US-Dollar wurden 2005 über offizielle Kanäle transferiert, davon 167 Milliarden in Entwicklungsländer. Hinzu kommen noch die informell transportierten Beträge, die noch einmal 50 Prozent dieser Summe ausmachen können. Das Geld fließt keineswegs nur aus dem Norden in den Süden, 30 bis 40 Prozent gehen vom Süden in den Süden. »Migration ist ein wirklich globales Phänomen,« so Dilip Ratha, einer der Autoren des GEP-Berichtes, »viele Länder, sowohl in der entwickelten als auch in der unterentwickelten Welt, senden und erhalten Migranten. Und sie sind Quelle und Empfänger von Rücküberweisungen.«
Dass remittances Armut verringern, liegt auf der Hand. Man hat das inzwischen zu quantifizieren gesucht: Für Uganda hat man einen Rückgang von elf Prozent errechnet, für Bangladesh sechs, für Ghana fünf. Das ist, gemessen an der Erfolgsquoe von Entwicklungshilfe, eine ganze Menge. Die übermittelten Geldbeträge fließen in erster Linie in den Lebensunterhalt, sie werden aber auch in Bildung und Gesundheit gesteckt, in Humankapital, wie die Ökonomen sagen. Und schließlich werden sie in Haus & Hof und manch kleinen Handel investiert.
Dass diese Ausgaben auch Risiken und Nebenwirkungen haben, ist ebenfalls leicht zu sehen: Nachfrage kann zu steigenden Preisen führen, Geldüberweisungen an einen Teil der Bevölkerung kann Einkommensunterschiede verstärken, zu Neid und handfesten Konflikten führen, Abhängigkeiten erzeugen. Und schließlich kann ein Land auch finanziell verlieren, etwa, wenn es die Ausbildungkosten der Abwanderer getragen hat (vergl. »der überblick« 3/2005).
Migration hat, allen neu entdeckten positiven Aspekten zum Trotz, Risiken und Nebenwirkungen (vergl. »der überblick« 1/2002). Und Überweisungen aus dem Ausland können eine gesunde ökonomische Entwicklung bestenfalls fördern, aber nicht ersetzen. Will man sie entwicklungspolitisch unterstützen, dann muss an die Stelle der freundlichen Sorge um den brain drain vierzig Jahre später so etwas wie eine umsichtige Politik mit der Diaspora treten. Die Entwicklungspolitik muss darin weniger eine bestimmende als eine dienende Rolle übernehmen, bei Gebern und Nehmern: »Remittances sind hart erarbeitetes Geld, das in den meisten Fällen schon versteuert wurde«, so Weltbank-Chefökonom François Bourguignon, »es sollte nicht noch einmal versteuert werden und Regierungen sollten der Versuchung widerstehen, es als Entwicklungshilfe zu betrachten«.
aus: der überblick 04/2005, Seite 4
AUTOR(EN):
Renate Wilke-Launer