Ein Kommentar
Apartheid-Sammelklagen sind ein gutes Geschäft für die Juristen. Was Südafrika jedoch braucht, sind Firmen, die investieren
von Werner Vogt
Es war im Juni 2002, als der amerikanische Anwalt Ed Fagan in New York eine Sammelklage gegen die beiden Schweizer Großbanken und die amerikanische Citygroup sowie gegen potentiell 1000 weitere internationale Banken und Industriekonzerne einreichte. Der Grund: Die drei Geldinstitute hätten sich trotz Sanktionsempfehlungen der Vereinten Nationen (UN) während der Apartheid-Ära (1948 bis 1994) nicht aus Südafrika zurückgezogen. Damit, so argumentierte Fagan, hätten die betroffenen Gesellschaften ein menschenverachtendes Regime am Leben erhalten, welches andernfalls schon viel früher in die Knie gegangen wäre. Immer wieder wird dabei die Liquiditätskrise von 1986 erwähnt, die durch eine Vermittlungsmission des inzwischen verstorbenen Schweizer Nationalbankpräsidenten Fritz Leutwyler mittels einer Umschuldung gelöst werden konnte.
Fagan arbeitet, zusammen mit südafrikanischen Anwälten, für eine Gruppe von Opfern der Apartheid, die mit aggressiven Werbemaßnahmen rekrutiert wurden. Kurz vor Jahresende reichte der renommierte Anwalt Michael Hausfeld ebenfalls in New York eine Sammelklage ein. Hausfeld arbeitet im Auftrag des südafrikanischen Jubilee South Africa, einem Dachverband nichtstaatlicher Organisationen, sowie für die Opferhilfegruppe Khulumani.
Bevor ich auf die Diskussion eingehe, wie die Apartheid historisch einzuordnen ist, sei mir folgende Bemerkung erlaubt: Wie soll ein fremder Richter in 15.000 Kilometer Entfernung über einen Tatbestand in der Vergangenheit eines Landes urteilen, das er vermutlich nur wenig, falls denn überhaupt, kennt. Grundlage für die auf den ersten Blick absurd anmutende Tatsache, dass ein normales amerikanisches Gericht über Dinge befinden kann, die nicht in den USA passiert sind, ist der Alien Tort Claims Act (ATCA) von 1789. Mit diesem Gesetz wollten sich die damals erst 13 Jahre alten Vereinigten Staaten gegen die Verletzung ihres Territoriums oder Vorgehen gegen ihre Schiffe durch die europäischen Mächte (allen voran die frühere Kolonialmacht Großbritannien) schützen. Bis zum Jahr 1980 wurde der ATCA höchst selten angewendet.
Seither hat sich das geändert. Individuelle Rechtsfälle und Sammelklagen auf der Grundlage des ATCA sind geradezu zu einem einträglichen Geschäftszweig geworden. Das für seine exorbitanten Schadenssummen bekannte amerikanische Rechtssystem kostet die Beklagten jährlich 180 Milliarden US-Dollar, das sind 1,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) der USA - mit steigender Tendenz. Die Investmentbank SchroderSalomonSmithBarney rechnet für das Jahr 2005 bereits mit 2,4 Prozent des BIP. Diese gigantischen Summen sind um so fragwürdiger, wenn man bedenkt, dass durchschnittlich nur gerade 42 Prozent der gerichtlich zugesprochenen Streitsummen auch bei den Opfern (Klienten) ankommen: 58 Prozent der Gelder gehen an die Administration, und vor allem an die Anwälte beider Seiten.
Für jede ausländische Firma, die in den USA Geschäfte tätigt, besteht somit ein erheblich höheres Risiko, aus irgendeinem Grund belangt zu werden als in andern Ländern. Die Auslandsguthaben von überseeischen Firmen in den USA können nämlich auf richterliche Verfügung hin eingefroren und beschlagnahmt werden. Besonders problematisch ist das Rechtsrisiko in den USA deshalb, weil bei der Festlegung von Strafen keinerlei Rücksicht auf die wirtschaftliche Substanz der Firma gelegt wird. So wurden allein mit Klagen wegen Schädigung durch Asbest schon eine Reihe von Firmen in den Ruin getrieben. Sogar der Technologiekonzern Asea Brown Boveri (ABB) wurde zeitweise durch die Flut der Asbest-Klagen in finanzielle Probleme gestürzt. Erst Anfang Januar 2003 zeichnete sich eine Lösung ab - zum Preis von 1,2 Milliarden Dollar, die ABB im Rahmen eines Vergleichs an die Kläger zahlt.
Es wäre etwas billig, auf all die zahlreichen manchmal absurd anmutenden Fälle hinzuweisen, in denen amerikanische Gerichte Tabakkonzerne zu gigantischen Bußen verurteilten, weil Kettenraucher in Klagen behauptet hatten, die Werbung hätte sie zum Tabakgenuss verführt und die Firmen hätten es unterlassen, auf die Gefahren des Rauchens hinzuweisen. Und doch muss man den Kopf schütteln, wenn man aus den Medien zur Kenntnis nimmt, dass amerikanische Anwälte, die sich selbst durchaus ernst nehmen, begonnen haben, Fast-Food-Ketten zu verklagen im Auftrag von fettleibigen Klienten, die vorgeben, nichts von der Schädlichkeit übermäßigen Fett- oder Zuckerkonsums gewusst zu haben.
Die Tatsache, dass amerikanische Gerichte über Tatbestände fernab der USA urteilen - und sich viele ausländische Firmen dieser durch keinen UN-Beschluss mandatierten Rechtspraxis beugen müssen, weil sie weiterhin auf dem US-Markt präsent bleiben wollen, ist an und für sich schon fragwürdig. Besonders anstößig ist sie, wenn man bedenkt, dass die USA als Staat sich nicht am Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zur Verfolgung von Völkermord, Vergehen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und militärische Aggression beteiligen und auch bei anderen bedeutenden internationalen Übereinkünften wie dem Kyoto-Protokoll abseits stehen. Insofern müssen zur Frage der Legitimität des Alien Tort Claims Act grundsätzliche Fragen gestellt werden.
Unter den gängigen Sammelklagen wegen Verbrechen, die im Ausland begangen wurden, ist diejenige gegen Firmen, die im Südafrika der Apartheid-Ära aktiv waren, von besonderem Interesse, weil bis vor zwölf Jahren kaum ein politisches Thema die Gemüter derart erhitzte wie das Apartheidsystem in Südafrika.
Die Apartheid war ein übles und menschenverachtendes System der rassischen Segregation, welches schwarze, farbige und indischstämmige Südafrikaner einzig aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminierte. Das Südafrika von 1948 bis 1994 mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu vergleichen, ist jedoch ein historisch unlauterer Unfug. Es besteht sehr wohl ein Unterschied, ob man einen Teil der Bevölkerung - oder gar die Mehrheit, wie in Südafrika - unterdrückt, oder ob man einen systematischen Massenmord verschuldet. Hier wären die Sowjetunion Stalins oder das Kambodscha von Pol Pot zu nennen.
Die entscheidende Frage lautet: Bis wann darf man mit einem Land Handel treiben und dort investieren? Oder genauer, wann sind die politischen Verhältnisse derart katastrophal, dass man mit jeglicher wirtschaftlicher Tätigkeit nur noch eine Diktatur am Leben erhält? Im Prinzip müsste man jedoch weiter fragen: Kennen autokratische oder diktatorische Systeme eine Schmerzgrenze, bei der sie von ihrem politischen Kurs abweichen - oder lassen sie nicht viel eher die Bevölkerung gänzlich verelenden oder verhungern - ohne Rücksicht auf Verluste? Der Blick auf den Irak von 1990 bis heute lässt eher Letzteres vermuten. Zudem kann man guten Glaubens argumentieren, dass die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Südafrikas entscheidend zur Untergrabung des Apartheidsystems beigetragen haben. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass ein freier Warenfluss und ein damit verbundenes Wirtschaftswachstum das System schneller zum Einsturz gebracht hätten als die bestgemeinten Sanktionen.
Interessant ist auch ein Blick auf die Frage des Investitionsboykotts, welcher in den achtziger Jahren von den Befreiungsbewegungen und der Anti-Apartheid-Bewegung in Übersee mit Nachdruck gefordert wurde. Für die Kader des African National Congress (ANC), der heutigen südafrikanischen Regierungspartei, war die Forderung an ausländische Konzerne, das Land am Kap zu verlassen, gewissermaßen ein kategorischer Imperativ. Das Postulat erwuchs aus einer Überzeugung, wonach sich die Regierung in Pretoria durch Druck von außen bezwingen ließe. Diese Annahme war falsch. Präsident Robert Mugabe hat in Simbabwe seit 2000 auf augenfällige Weise demonstriert, dass es in der Politik immer negative Alternativen gibt und dass ein Autokrat eher sein eigenes Land vollständig zu Grunde richtet, als dass er äußerem Druck nachgibt.
Doch lohnt sich abermals ein Blick auf das zu Recht so bezeichnete "politische Wunder" von 1990/1994 in Südafrika. Sicher half massiver äußerer Druck der Westmächte auf Pretoria und der moribunden Sowjetunion auf den ANC, das Apartheidregime und die Befreiungsbewegungen an einen Tisch zu bringen. Aber es brauchte ebenso die Visionäre auf beiden Seiten, allen voran, Präsident Frederik Willem de Klerk und Nelson Mandela an der Spitze von Hunderten von bemerkenswerten Persönlichkeiten, um den Verständigungsprozess auch wirklich einzuleiten und - trotz aller Widerstände - zum Erfolg zu führen. Denn eines war von Anbeginn klar: Jegliche Verhandlungslösung würde ein mühsam errungener Kompromiss sein. Niemals hätte das alte Sicherheitsestablishment eine Art von Nürnberger Prozessen gegen sämtliche Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen zugelassen. Ganz abgesehen davon haben auch hochgestellte Persönlichkeiten aus den Befreiungsbewegungen aus dieser Periode Blut an den Händen. Gerade weil die alte südafrikanische Armee niemals auf dem Schlachtfeld hätte besiegt werden können, mussten jegliche Vorstellungen einer Siegerjustiz von vornherein begraben werden.
Mit der Truth and Reconciliation Commission (TRC), der Kommission für Wahrheitsfindung und Versöhnung, wurde zwischen 1996 und 1998 ein Forum geschaffen, das den Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen erlaubte, eine psychische Genugtuung zu erfahren, indem ihre Leiden öffentlich anerkannt und die Verbrechen als solche gebranntmarkt wurden. Den Tätern andererseits konnte für eine vollständige Offenlegung politischer Motive auch für schlimmste Verbrechen, wie Folter und Mord, Amnestie gewährt werden. Mit diesem Prozess, der elementare rechtsphilosophische Grundsätze von Schuld, Strafe und Sühne verletzt, wurde im Endeffekt verhindert, dass Südafrika in einen Strudel von blutiger politischer Gewalt abtauchte. Stoßen kann man sich beim TRC-Prozess jedoch daran, dass die gut 20.000 anerkannten Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen aus formaljuristischem Anlass (der Schlussbericht des TRC-Amnestieausschusses liegt noch nicht vor) nach wie vor keine Rente bekommen. Diese Opfer zu entschädigen obliegt einzig allein der heutigen südafrikanischen Regierung, die sich vertraglich zur hundertprozentigen Rechtsnachfolge verpflichtet hat.
Südafrika hat seit de Klerks bahnbrechender Parlamentseröffnung im Februar 1990 Atemberaubendes zustande gebracht. Zweifler mögen zum Vergleich für einen Moment an die Entwicklung des israelisch-palästinensischen Verhältnisses im gleichen Zeitraum denken.
Was das Land definitiv nicht braucht, ist ein Rudel amerikanischer Advokaten, die sich mit ihrer Scheckbuch-Justiz in einen immer noch im Zustand der Vernarbung befindlichen Versöhnungsprozess einmischen. Die erste demokratische Regierung Südafrikas und das Volk, das sie vertritt, werden durch diesen US-Justizimperialismus nur in ihrer Entwicklung behindert. Was das Land hingegen dringend braucht, sind Investitionen und damit Arbeitsplätze - nicht nur, aber in erster Linie von Konzernen, die schon 20, 30 oder 50 Jahre im Land sind. Jede Million, welche diese Firmen für amerikanische Anwälte aufwenden, kann nicht für sinnvollere Tätigkeiten in Südafrika verwendet werden.
aus: der überblick 01/2003, Seite 68
AUTOR(EN):
Werner Vogt:
Werner Vogt ist seit 1996 Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung für das südliche Afrika mit Sitz in Johannesburg sowie Vorsitzender der Foreign Correspondents' Association dort.