Meditation
Darum gehet hin und lehret alle
Völker ...
(Matthäus 28, 19 in der Übersetzung von Martin
Luther aus dem Jahr 1545)
Macht euch auf den Weg und lasst
alle Völker mitlernen ...
(Matthäus 28, 19 Übersetzung aus der "Bibel in
gerechter Sprache" aus dem Jahr 2007)
von Renate Höppner
Im vergangenen Herbst war ich wieder einmal in Südafrika, ein Land mit großer Faszination. Viel hat sich verändert, seit ich vor sieben Jahren dort war und den Aufbruch aus der Ära der Apartheid noch sehr deutlich spüren konnte. Ärmliche Townships verwandeln sich in ansehnliche Siedlungen. Die Farben der Menschen sind bunt gemischt, in der Stadt, am Strand und in den neu entstandenen Einkaufszentren, die längst nicht nur eine Attraktion in den Touristenvierteln sind, sondern inzwischen Einzug gehalten haben in die Wohnviertel der großen Städte. Der "westliche" Lebensstil erobert sich die Welt.
Wir waren auch in Genadendal, der ersten Missionsstation im südlichen Afrika. Man kann dort die erste Orgel sehen, die in Afrika gespielt wurde, die Schulbänke erinnern mich an früher. Die Bildung der Einheimischen haben die Missionare immer als wichtige Aufgabe angesehen. Und trotzdem lässt mich die Frage nicht los, wie eng die Verbindung zwischen Mission und Kolonisation wohl gewesen ist. Was haben diejenigen, die von Ferne kamen, den dort schon Lebenden gebracht? Was von dem in ihnen steckenden Potential haben sie dabei erstickt oder beiseite gedrängt. Mich bewegt das Problem nicht so sehr als historische Frage, Aufarbeitung von Vergangenheit. Vielmehr sehe ich die neuen Missionare, die Werbestrategen, die mit ihren Produkten die Welt erobern und deren Markennamen und Signets in alle Regionen eindringen, in denen sich Kaufkraft entwickelt und abgeschöpft werden kann. Was bringen wir mit unserem Lebensstil und unseren Produkten eigentlich in diese Welt an Visionen, an Vorstellungen von gutem Leben?
Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt den Missionsbefehl am Ende des Matthäus-Evangeliums, ohne das mit vielen Klischees behaftete Wort Mission zu verwenden so: "Macht euch auf den Weg und lasst alle Völker mitlernen". Unsere Aufgabe als Christen ist es also, die Menschen mit hineinzunehmen in den Lernprozess, in den Gott uns gestellt hat. Es geht also nicht darum, dass einer schon alles weiß, im Besitz der Wahrheit ist, und diese Wahrheit nun den anderen möglichst effektiv beibringen muss. Es geht um partnerschaftliches Lernen. Der Lehrer ist Gott selbst, der Gott, der dem Volk Israel bei ihrer Wüstenwanderung voranging, des Nachts in einer Feuersäule, tags in einer Wolkensäule. Was lehrt er uns nicht nur uns als Christen, sondern auch den Menschen über die klassischen Religionsgrenzen hinweg? Das wäre es doch, was wir mitzubringen hätten in unserem Gepäck, um es neben die Lebens- und Glaubenserfahrungen der anderen zu legen und mit ihnen in einen Dialog zu kommen, herauszubekommen, wo wir gemeinsam Zukunft gewinnen können.
Stattdessen habe ich den Eindruck, das christliche Abendland exportiert vor allem die modernen Götzen unserer Zeit. Wo Identität verloren geht, wird sie durch den Tanz um das Goldene Kalb ersetzt. Statt Befreiung entstehen neue Gefangenschaften. Die Globalisierung der Märkte, gerade dort wo sie als Einbahnstraße praktiziert wird oder der Ausbeutung von Rohstoffen dient, ist die moderne Form von Kolonialisierung. Länder werden nicht mehr mit Kriegen, sondern durch Produkte erobert. In welchen Lernprozess nehmen wir eigentlich die Menschen mit hinein, denen wir als Christen begegnen, gegenüber denen wir unseren Missionsbefehl erfüllen wollen? Das ist die Frage, die sich alle Helferinnen und Helfer immer wieder stellen müssen. Es reicht nicht, sich gute Ziele, wie etwa die Millenniumsziele der Vereinten Nationen, zu setzen. Wenn es konkret wird, dann müssen diese Ziele ebenso wie die Wege dahin aus einem Lernprozess mit allen Betroffenen erwachsen. Dann wird die Frage zu klären sein, wie wir leben wollen und wie wir nach Gottes Willen leben sollen, damit es ein erfülltes und gemeinschaftsdienliches Leben wird.
Fortschritt lässt sich nicht im Wachstum des Bruttosozialproduktes messen. Wir werden ohnehin bald an die Grenzen quantitativen Wachstums stoßen, Grenzen, welche die Art unseres Wirtschaftens grundlegend verändern werden. Fortschritt muss sich an Lebensqualität messen, am Wachstum von Verwirklichungschancen für alle Menschen. Fortschritt ist überall dort, wo die Würde des Menschen sich entfalten kann statt mit Füßen getreten zu werden. Das ist die Botschaft der Bibel: Gott hat jedem Menschen die gleiche Würde verliehen. Das haben wir in den Lernprozess einzubringen. Ja, in einen Lernprozess einbringen, und nicht immer gleich denken, wir wüssten selbst am besten, wie die Würde des anderen nicht verletzt wird.
Eine kleine Geschichte dazu aus einem Nachtzug in Thailand geht mir nicht aus dem Kopf. Der Zug ist übervoll, die Leute liegen auf den Gängen. Eine deutsche Frau ist im Abteil und wundert sich, dass jeder, der durch den Gang geht, die Schlafenden weckt, sie aufstehen lässt, um vorbeizugehen. Rücksichtslos, denkt sie. Und als sie einmal raus muss, will sie es besser machen. Vorsichtig steigt sie zwischen den Menschen hindurch, die freien Flecken ausnutzend um sie nicht zu wecken. Plötzlich springt eine thailändische Frau auf, schreit sie an, bedroht sie, zieht sogar ein Messer und will auf sie los. Mühsam können andere sie davon abhalten. Die Frau muss verrückt sein, denkt sie, bis sie erfährt: In Thailand gehört es zu den schlimmsten Entwürdigungen, wenn jemand seinen Fuß höher hebt als Gesicht eines Menschen. Das ist mindestens so schlimm, als wenn bei uns jemand dem anderen ins Gesicht spuckt. Erst der Dialog über die Kulturgrenze hinweg machte dieser Frau deutlich, dass sie die Würde der anderen verletzt hat. Mit anderen Worten: Wenn wir die Würde des Menschen nicht verletzten wollen, dann ist der Dialog mit ihm unverzichtbar. Er gehört zu unserem Auftrag, zur Aufgabe, alle Welt mit hineinzunehmen in den Lernprozess, in den Gott uns gestellt hat.
Noch ein anderer Gesichtspunkt scheint mir in diesem Lernprozess von großer Wichtigkeit zu sein, ein Gesichtspunkt, der im neoliberalen Globalisierungsprozess, wie ihn viele erleben, die Botschaft des Evangeliums bis zur Unkenntlichkeit verstellt. Gerade wenn aufblühendes Leben und wachsender Konsum das äußere Bild prägen, muss daran erinnert werden: Der gnadenlose Konkurrenzdruck, das Streben nach maximalen Renditen hinterlässt zu viele Verlierer Menschen, die hoffnungslos ins Abseits gedrängt werden. Das Verhältnis von Gewinnern und Verlierern stimmt nicht mehr, nicht nur in den armen, sondern inzwischen auch in den reichen Regionen dieser Welt. Die biblische Gerechtigkeit, aus der Frieden wächst, bleibt auf der Strecke. Das aber müsste unsere Botschaft sein: Bei Gott bleibt keiner auf der Strecke. Jesus hat sein Leben lang Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind, wieder in die Mitte der menschlichen Gemeinschaft geholt. Arbeit für Gerechtigkeit ist eine Integrationsaufgabe.
Ja, welche Botschaft verbreiten wir, Repräsentanten der ersten Welt? Wie sieht die Mission der Christen aus, macht sie Angst oder setzt sie Zukunft eröffnende Lernprozesse in Gang? Demütigt sie andere Kulturen und löst damit Gewalt aus? Oder löst sie Neugier aus auf die Erkenntnisse anderer, die uns allen weiter helfen könnten. So überschaubar wie damals, als in Genadendal die ersten Missionsstationen gebaut wurden, sind die Verhältnisse nicht mehr. Aber die Fragen sind ähnlich, sind vielleicht noch dringender geworden, gerade dort, wo die Oberfläche fröhlicher, bunter und unserer Welt ähnlicher wird. Es ist die alte Frage nach menschenwürdigen Verhältnissen für alle Menschen.
aus: der überblick 03/2007, Seite 166
AUTOR(EN):
Renate Höppner
Renate Höppner ist Pfarrerin in Magdeburg und Herausgeberin von "der überblick".