Der Internationale Strafgerichtshof hat seinen ersten Angeklagten
Nach langem Ringen hat der Internationale Strafgerichtshof im Kongo seine Arbeit aufgenommen, selbst die USA, die ihn nicht mit tragen wollen, kooperieren gelegentlich. Doch die Ermittlungen sind so selektiv und so langwierig, dass die Opfer kein Vertrauen entwickeln oder bald die Geduld verlieren könnten.
von Franck Petit
Die kleine staubige Stadt Bunia ist der Hauptort von Ituri, einer der reichsten Regionen im Osten der Demokratischen Republik Kongo mit ihren Reserven an Gold, Diamanten, Öl und Holz. Im August 2002 übernahm die Union der kongolesischen Patrioten (UPC), die von der Hema-Gemeinschaft beherrscht und von der ugandischen Armee unterstützt wird, in Bunia die Kontrolle. Bis März 2003 herrschte die UPC in der Stadt und in der weiteren Umgebung und bildete eine Regierung unter Leitung von Thomas Lubanga. Durch die massive militärische Intervention der Vereinten Nationen (Monuc) wurde den Massakern der Milizen von Hema und Lendu im Jahre 2005 ein Ende gemacht. Nach Angaben von Human Rights Watch wurden "später an verschiedenen Stellen in der Stadt mehrere Massengräber entdeckt, eines mit 26 Leichen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, mit Schusswunden im Rücken". Lubanga, der erste Angeklagte vor dem Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court ICC), wurde im März 2006 verhaftet und nach Den Haag gebracht. Er ist eines einzigen Kriegsverbrechens angeklagt: der Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten.
Samstagvormittag, 12. August 2006, Tag der wöchentlichen Zusammenkunft der Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte in Bunia. Der ICC stößt hier auf so manche Kritik. Schon vor zwei Jahren hat er den Beginn seiner Untersuchungen in Ituri bekannt gegeben, jedoch bisher nur "einen einzigen kleinen Fisch" in seinem Netz gefangen. Um in der angespannten Situation des Präsidentschaftswahlkampfes nicht zur Zielscheibe zu werden, hat er seine Aktivitäten zu diesem Zeitpunkt schon seit über einem Monat eingestellt und erst fünf Monate später nach dem zweiten Wahlgang wieder aufgenommen. Im Betonbau des Hauptquartiers der Monuc überlegen ein Dutzend Verantwortliche von örtlichen nichtstaatlichen Organisationen (NGO), ob sie sich in einer Bittschrift an den Chefankläger des ICC wenden sollen, doch die Idee wird wieder fallen gelassen. "Wir glauben, wenn man keine Anklagen wegen der Verbrechen erhebt, für die uns hier Beweise vorliegen, dann ist die Justiz keine gute Justiz, weder für uns im Kongo noch für den ICC", meint eine Aktivistin. "Wenn sich rumspricht, dass der Chefankläger nur wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten Anklage erhebt, wird die Bevölkerung dafür kein Verständnis haben", sagt ein anderer. "Wir haben Schwierigkeiten, die Bevölkerung für das Handeln des ICC aufgeschlossen zu machen, denn wir können vieles sagen, doch wenn der Chefankläger nicht das Seine tut, hat das nicht viel Sinn", fährt ein dritter fort. "Im Büro des Chefanklägers wird zu unprofessionell vorgegangen. Es ist ja nicht so, dass es keine Anklagepunkte gäbe, vielmehr arbeitet der Chefankläger schlecht. Trotz der Schwere der Verbrechen gelingt es ihm nicht, die Beweise zusammenzutragen, und wir hier in Ituri zahlen den Preis. Wenn das Büro des Chefanklägers nicht seine Arbeitsweise ändert, nützen alle Bittschriften nichts", bekräftigt der letzte.
Anneke Van Woudenberg von Human Rights Watch ist beunruhigt darüber, dass der ICC in der ganzen Hema-Gemeinschaft nur einen einzigen Milizenchef festgenommen hat. "Der Chefankläger hat Untersuchungen über die Massaker und die schwereren Verbrechen vorgenommen", meint sie. "Es liegt ihm Material vor; ich weiß nicht, wie vollständig es ist, doch nach dem, was ich weiß, hatte er nur ein kleines Team. Es fehlt an Personen, die diese Elemente in eine Anklageschrift umsetzen können. Alle sind mit der Akte Lubanga befasst und haben nicht die Zeit, sich mit dem nächsten Fall zu befassen. Wir bedauern, das sagen zu müssen, denn wir haben das Gericht stets gewollt und unterstützt. Doch im Kongo hatte es keinen guten Start. Ich habe dem Chefankläger stets gesagt, wie wichtig es um des ethnischen Gleichgewichts willen ist, dass Verhaftungen in etwa gleichzeitig vorgenommen werden Um nicht einer Gemeinschaft das Gefühl zu geben, dass sie stigmatisiert wird." Der Chefankläger hat seine Absicht bekundet, sowohl die gegen Lubanga erhobenen Anklagepunkte zu erweitern als auch gegen andere Verantwortliche in Ituri und im Kongo vorzugehen.
Doch Luis Moreno Ocampo, der Chefankläger des ICC, äußert sich nur vage zu den Gründen, warum sich die anderen Strafverfolgungen so schleppend vollziehen. "Es gibt manchmal widerstreitende Interessen, die mein Büro zwingen, sich nur mit einem Teil der kriminellen Verantwortung in einem bestimmten Konflikt zu befassen", schreibt er in einem Artikel, der am 24. Januar 2007 in der elektronischen Publikation Jurist erschienen ist. "In der DR Kongo hat mein Büro zunächst Untersuchungen über eine Vielzahl von Verbrechen vorgenommen und dabei versucht, den Begriff Kriminalität so umfassend wie möglich zu begreifen. Danach hat es beschlossen, sich in dieser ersten Sache gegen Thomas Lubanga auf das Verbrechen der Zwangsrekrutierung von Kindern unter 15 Jahren zu konzentrieren."
Vom Kongo aus gesehen lässt es sich zwar akzeptieren, dass der laufende Wahlprozess den Chefankläger zur Vorsicht gegenüber den höchstgestellten Verantwortlichen veranlasst hat, doch ist schwer verständlich, warum er bezüglich eines Milizenchefs wie Lubanga, der seit März 2005 in Haft ist, nach über zweijährigen Untersuchungen nur so magere Ergebnisse erzielt hat. Das hat sicher viel damit zu tun, dass er nur kleine Teams dafür einsetzt. Diese Strategie war zweifellos geeigneter für die Untersuchung, die im Juli 2004 in Uganda gegen die Lord's Resistance Army (LRA) eröffnet wurde, weil die ugandische Regierung diese Untersuchung direkt unterstützte, doch im Kongo hat sie sich als nicht geeignet erwiesen. In einem Land, das so groß ist wie Westeuropa, in dem die politische Klasse so zerstritten ist, in dem es keine funktionierenden Institutionen mehr gibt und die Infrastruktur verfallen ist, und wo bestimmte Milizen weiterhin aktiv sind, konnte sich der ICC auch nicht auf die Monuc stützen, um unabhängige Untersuchungen vorzunehmen. Die Hauptaufgabe der Monuc war eine erfolgreiche Durchführung des Wahlprozesses und nicht Strafverfolgungen, die das brüchige Gleichgewicht des Übergangs gefährden konnten. In diesem Kontext hätte nur ein erfahrenes, mit straffer Führung und ausreichenden logistischen Mitteln ausgestattetes Untersuchungsteam eine Erfolgschance gehabt.
Das Kongo-Team zählte zunächst fünf, dann zehn und schließlich fünfzehn Mitglieder, die nach und nach bis 2006 rekrutiert wurden. Nur die beiden Leiter haben polizeiliche Erfahrungen, und nur einer stammt aus dem Kongo. Das Team ist jung, kommt von NGOs, und der Chefankläger hat darauf bestanden, dass Frauen gut vertreten sind. Selbst innerhalb dieses Dienstes zweifeln manche am Sinn eines solchen Rekrutierungsprofils, wenn es darum geht, Milizenchefs in einem feindlichen Umfeld zu verfolgen. Zurzeit beschäftigen sich die meisten Team-Mitglieder in Ituri mit einer Gruppe, die der von Lubanga feindselig gegenübersteht, die restlichen teilen sich die Untersuchung über die UPC und die vor einem Jahr angekündigte Zusammenstellung einer dritten Akte anderswo im Kongo. Dieser Arbeitsrhythmus, ohnehin langsam und mühsam, litt auch unter logistischen Problemen. In Bunia arbeitet das Team erst seit 2006 in der relativen Sicherheit eines Massivbaus. In diesem nicht allgemein zugänglichen Komplex wurden Fertigbauten errichtet, um sowohl das Untersuchungsteam als auch Offiziere zu beherbergen, die mit dem Schutz der Opfer und der Zeugen und der sich hier aufhaltenden Verteidiger beauftragt sind. Das ist recht spartanisch, doch das gilt für alle", meinte einer von ihnen Ende 2006. Aber der Unterschied zwischen Bunia und dem Gerichtshof in Den Haag mit seinem ultramodernen elektronischen System ist dennoch augenfällig.
Der ICC, dessen Statut am 1. Juli 2002 in Kraft getreten ist und der im Laufe des Jahres 2003 gebildet wurde, hat 2004 mit Untersuchungen in zwei Ländern begonnen, im Kongo und in Uganda, und ab 2005 wird er auch im Fall Darfur ermitteln. Er untersucht fünf weitere Situationen", darunter die der Elfenbeinkünste und der Zentralafrikanische Republik sowie die Lage in Kolumbien. Er hat fünf Haftbefehle gegen die LRA ausgestellt, ohne dass bisher jemand festgenommen werden konnte, und hat inzwischen auch einen ehemaligen Innenstaatssekretär und einen Milizenführer wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Täter benannt. Doch nach dreijähriger Tätigkeit ist allein Lubanga in Untersuchungshaft. Richter Claude Jorda hat zu Recht im Dezember 2006 darauf hingewiesen, dass "90 Millionen Euro Jahreshaushalt für einen einzigen Angeklagten etwas viel sind". Der Mann ist tatsächlich etwas einsam auf der Etage des Gefängnisses in Scheveningen, wo der ICC 12 Zellen reserviert hat. Seit Juni 2006 teilt er diese Räumlichkeit mit Charles Taylor, dem ehemaligen Diktator Liberias, über den das Sondergericht für Sierra Leone in Den Haag und nicht in Freetown verhandeln will.
Die 624 Beschäftigten des ICC beklagen sich hingegen, dass es für sie in den beiden Flügeln des Arc, eines am Rande der niederländischen Hauptstadt gelegenen weißen Gebäudes in Form eines Bogens, etwas eng ist. Es wurde dem ICC von den Niederlanden zugewiesen, bis ein ständiges Gericht gebaut werden könne. Das Personal stammt nach Angaben der Geschäftsstelle des Gerichts zu 58 Prozent aus Westeuropa, Australien, Kanada oder Neuseeland. 18 Prozent kommen aus seinem wichtigsten Tätigkeitsgebiet, nämlich Afrika. Aufgrund dieser Personalmischung, die dem Finanzbeitrag der 104 dem Gerichtshof angehörenden Staaten entspricht, drängt sich jeden Morgen vor den überlasteten Fahrstühlen ein kosmopolitisches, überwiegend weißes, junges und englischsprachiges Volk. Am hinteren Ende dieses Bogens, der den Frieden symbolisiert, befinden sich die beiden Sitzungssäle, die zur Verhandlung gegen die vom ICC Angeklagten hergerichtet wurden. Der Prozess gegen Thomas Lubanga hat dort dieses Jahr begonnen.
Im November 2006 wurde der kongolesische Verdächtige drei Wochen lang im Hauptsitzungssaal erstmals verhört. In diesem rechteckigen, mit hellem Holz ausgestatteten Raum, relativ eng für einen Gerichtshof und recht kalt beleuchtet, saß Lubanga rechts von den Richtern in der letzten Reihe der für die Verteidigung reservierten Bänke, nach afrikanischer Art in einheitlichen Farben oder in Weiß gekleidet. Das war eine neuartige Verfahrensweise, denn in einem Vorverfahren sollte die Gelegenheit gegeben werden, alle Parteien anzuhören, bevor die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestätigt wurden oder nicht. Es handelte sich nicht um einen Prozess, wie der Sitzungspräsident Claude Jorda unterstrich, sondern um eine öffentliche Bewertung der Beweismittel, wonach der Verdächtige am 29. Januar 2007 zu einem Angeklagten wurde. Das erklärte Ziel dieser Verfahrensweise, die als "Bestätigung der Anklagepunkte" bezeichnet wurde, bestand darin, Formfragen zu erledigen, um den Prozess zu erleichtern und um zu ermöglichen, dass sich dieser auf die wesentlichen Fragen konzentriert und rascher abläuft. Diese erste Etappe war jedoch erst zehn Monate nach der Überstellung von Lubanga nach Den Haag abgeschlossen, und dadurch wurden einer Akte, die bereits mehrere zehntausend Seiten umfasste, noch weitere 200 Gerichtsbeschlüsse hinzugefügt.
Ein sich endlos hinziehender Prozess, wie man das von früheren internationalen Gerichtshöfen kennt, dieses Gespenst sucht auch den ICC heim. "Man darf sich nicht am Nürnberger Prozess orientieren, wo alles in neun Monaten vorbei war, aber es ist auch nicht denkbar, dass ein Prozess über vier Jahre dauert wie der gegen Slobodan Milosevíc", meinte Richter Jorda in einem Gespräch mit der International Justice Tribune Ende 2005. "Die Frage der Dauer des Prozesses ist von entscheidender Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der internationalen Strafjustiz. Die Zeit arbeitet schließlich dem Angeklagten in die Hände. Bisher ging ich von rund vier Monaten für die Vorphase, vier Monaten für den Prozess und vier Monaten für die Berufung aus. Ich weiß nicht, ob das nicht zu ehrgeizig ist. Doch wie auch immer: Ein Prozess sollte niemals länger als insgesamt 18 Monate dauern. Das ist von kapitaler Bedeutung für die Opfer, insbesondere vor einem Gericht, das in seinem Statut ihre Beteiligung vorsieht."
Von 105 Anträgen auf Beteiligung wurden vier kongolesische Opfer im Prozess gegen Lubanga akzeptiert. Drei Kinder und ihre Eltern sowie ein Elternteil, dessen Kind tot ist. Sich im Prozess Lubanga zu einem Opfer zu erklären, ist nicht gefahrlos, denn der ICC akzeptiert nur diejenigen, die von der UPC rekrutiert wurden, die somit gegen ihren ehemaligen Chef aussagen, der vor Ort weiterhin viel Unterstützung hat. "Man bürdet sich die Gemeinschaft auf", meint der belgische Anwalt Luc Walleyn, der sie vertritt.
Diese drei Sitzungswochen waren vor allem die Gelegenheit zu einer Generalprobe. "Thomas Lubanga war und ist ein Politiker", beschrieb Ekkehard Withopf, der erste Vertreter des Chefanklägers, den Angeklagten. "Ein Politiker mit nationalen Ambitionen, der von der internationalen Gemeinschaft hofiert wurde. Ein Politiker, der gern an Friedenskonferenzen teilnahm, der gerne von Frieden und Befriedung sprach. Er wollte als solcher gesehen werden und will das immer noch. Doch das andere Gesicht von Thomas Lubanga ist das eines Militärkommandeurs, der mit seinen Truppen einen brutalen Krieg gegen die nicht den Hema angehörenden Bevölkerungsteile in Ituri geführt hat." Ein Porträt, dem sein Verteidiger, der Belgier Jean Flamme, mit lyrischen Worten entgegentritt: "Herr Chefankläger, ich werfe Ihnen vor, einen politischen Prozess zu führen. Sie wollen einen historischen Prozess haben, doch was tun Sie, wenn Sie diesen Mann verfolgen, den jeder liebevoll als Papa Thomas' bezeichnet, diesen Hirten, diesen Friedensstifter, diesen Mann, den seine Familie und seine Gemeinschaft zurück erwartet? Sie geben dem Kongo einen neuen Nelson Mandela."
Doch Lubanga ist kein Politiker von nationaler Statur und erst recht kein Mandela in Apartheid-Haft. Tausende Kilometer von seinem Heimatland entfernt vor Gericht stehend, ist er heute nur ein Symbol: seine wahre Geschichte muss nun der ICC erzählen.
aus: der überblick 01/2007, Seite 23
AUTOR(EN):
Franck Petit
Franck Petit ist Direktor des unabhängigen Newsletters "International Justice Tribune" (www.justicetribune.com).