Wie aus Toten Ahnen werden
Auf Madagaskar gibt es vielerorts die Tradition der Doppelbestattung: Ein Toter wird vorübergehend beigesetzt und nach geraumer Zeit exhumiert, um den Leichnam zu säubern und ihn in einer großen Zeremonie erneut zu beerdigen. Die Wiederbestattung ist ein Fest für die ganze Gemeinschaft. Sie dient der Festigung der Familienbeziehungen und macht aus einem Verstorbenen einen Ahnen, der auf das Geschick der Lebenden Einfluss nimmt.
von François Noiret
Fianarantsoa - eine Bastion des Christentums, die Hauptstadt des zentralen und südlichen Madagaskars - liegt 1000 Meter hoch. Eine Landschaft mit erodierten Gebirgen, Granitfelsen, Reisfeldern in den Mulden und Tälern, Weideland und Wäldern an den Hängen und auf den Gipfeln. Auf dem Friedhof der Lepraopfer graben fünf oder sechs Personen in der Erde. Sie sind auf der Suche nach einer dort 1947 begrabenen Verwandten. Im Staub wird ein Schädel sichtbar:"Das ist sie!", rufen sie, als sie im Kiefer die beiden schief sitzenden Zähne ihrer Verwandten erkannt haben. Gleich drängt sich die kleine Gruppe um den Schädel und formt mit der aufgeschaufelten Erde aus dem Grab einen kleinen Leib, dem der Schädel aufgesetzt wird - alles zusammen wird in ein Tuch gewickelt.
Ich beobachte das Verhalten dieser Leute. Ihre Gesten sind bedächtig und wohlüberlegt. Während ihres Tuns sprechen sie leise mit der Toten. "Hier sind wir! Endlich finden wir dich wieder. Wir werden dich mit uns nehmen; du wirst zu deiner Familie und in dein Dorf zurückkehren. Wir werden uns um dich kümmern. Wir sind so glücklich, wieder bei dir zu sein und dich bei uns zu haben." Die Menschen lächeln, und in ihren Gesichtszügen spiegeln sich die Worte der Zärtlichkeit und Zuneigung wider. Der Kontakt mit der Verwandten ist wiederhergestellt, ein unmittelbarer und echter Kontakt. Diese Leute sprechen mit einem Wesen, das wirklich da ist.
In Europa würden diese Menschen ohne weiteres als verrückt oder infantil gelten. Was sie betasten, ist schließlich nur ein Gemisch aus Erde und Wurzeln, die ein sehr einfaches Grab überwuchert haben, und ein Stück Knochen darauf. Und doch sprechen sie damit, liebkosen es, wiegen es in ihren Armen. Sie sprechen ein christliches Gebet, und dann hebt eine Frau das Paket - pardon, die Tote - auf ihren Kopf, und die Gruppe geht Kirchenlieder singend über die Hügel zurück in ihr Dorf. Dort wird die Tote mit allen Ehren bestattet, wie leprakrank und ausgeschlossen sie in ihrem Leben auch gewesen sein mag. Man ruft die Familie und ihre Nachbarn zusammen, man schlachtet einen Ochsen, man bereitet ein Mahl zu, man legt die Verlorene und nunmehr Wiedergefundene in die Ahnengrabstätte. Alle sind über diesen Ausgang und diesen erneuerten und verstärkten Familienzusammenhalt glücklich. Die wiedergefundene Ahnin ist erneut vereint mit den Verstorbenen. Das bringt allen Abkömmlingen zusätzlichen Segen und verstärkt die fihavanana, das soziale Band, das die Verwandten und die Bewohner des gleichen Gebietes vereint.
Madagaskar hat eine eigene Zivilisation und bemerkenswert solide und kohärente eigene Werte bewahrt. Die weitaus meisten Madagassen von heute pflegen die Beziehung zwischen Verstorbenen und Lebenden, die nicht durch den Tod unterbrochen ist. Diese Beziehung kann sich verändern, bleibt jedoch immer unmittelbar, sie kann alltäglich oder selten sein, sie kann im Schlaf oder im Wachzustand, am Tag oder in der Nacht, in Trance, im Zustand der Besessenheit oder im ruhigen Ablauf des täglichen Lebens, im Gebet oder in der Aktion stattfinden. Sie kann glücklich oder unglücklich sein wie zwischen Lebenden selbst, und es gibt somit Dinge zu tun oder nicht zu tun, um diese Beziehungen zu regeln und harmonisch zu gestalten.
Als erstes muss deshalb der Tote korrekt begraben werden, und das ist nicht so leicht. Denn ein Toter ist noch kein Verstorbener. Ein Toter ist zunächst einmal ein Leichnam, der verfault. Das ist eine kritische und widerliche Zeit, in der sich der Tote nicht wohl fühlen kann. Er kann noch nicht verehrt werden und ist noch nicht in dem Zustand, um sich zu anderen, bereits ausgetrockneten oder gar gesäuberten, gebadeten und gesalbten Toten zu gesellen, den Ahnen. Das heißt, ein Leichnam ist noch kein Ahne, der rein ist, der segnen und schützen und in einer glücklichen Beziehung zu den anderen Ahnen sein kann. Das Wichtigste ist trotz allem Anschein nicht, dass der Tote bestattet wird, sondern dass er Ahne wird.
So erklärt sich das madagassische System der Doppelbestattungen: Bei der ersten Bestattung geht es um den frischen Leichnam (faty lena: feuchter Leib), bei der zweiten Bestattung um den ausgetrockneten Leichnam (faty maina: trockener Leib). Diese Unterscheidung ist von grundlegender Bedeutung, auch wenn sich die Riten von einer Region zur anderen unterscheiden. Auf die eine oder andere Weise geht es immer darum, einen Leichnam in Reliquien und einen Toten in einen Ahnen zu verwandeln.
Das Christentum hat diese Verhaltensweisen verändert, jedoch keineswegs die kulturelle Grundlage zerstört, welche für die madagassische Identität und die Beziehungen der Lebenden zu den Toten wesentlich ist, die die Psychologie der Einzelnen und der Gemeinschaften formen.
Die Menschen im Bara-Land, 300 Kilometer südlich von Fianarantsoa, trotzen dem Christentum, dem Schulbesuch und dem Modernen ganz allgemein. Das Bara-Volk ist ein Volk von Viehzüchtern, die große Weiten grasbewachsener Steppen durchziehen und manchmal das außergewöhnliche Felsmassiv Isalo überqueren, wo sie ihre Toten begraben.
Innerhalb von zwei Tagen nach dem Tod einer Person, manchmal noch am gleichen Tag, finden die Bara eine Felskluft, eine beliebige, etwas höher gelegene Felsspalte, wo sie den Leichnam in eine Matte eingewickelt niederlegen. Sie schließen die Öffnung des Hohlraums dürftig mit Steinen und kehren nach Hause zurück. Zu Beginn der Reise und unterwegs werden Ochsen geschlachtet; wie viele es sind, hängt vom Reichtum des Verstorbenen und der Anzahl der Anwesenden ab. Im Isalo sind sehr viele dieser Grabstätten zu sehen, manchmal 15 oder 20 Meter hoch auf Felsklippen und nur mit Seilen von oben oder Leitern von unten zu erreichen. So ein Grab dient nicht als Kult- oder Besuchsstätte.
Nach altem Brauch wird der Leichnam für immer dort gelassen. Wer jedoch dem Brauch der Familiengrabstätte folgt, nimmt nach drei Monaten oder im Jahr nach dem Ableben die Exhumierung - havoria - vor. Die Familie versammelt sich, säubert die Knochen von allem noch verbliebenen Fleisch, falls notwendig indem sie dieses mit dem Messer abschneidet und die Knochen abschabt. Man wäscht die Knochen im Fluss, wo Fleisch und Fäulnis wie normaler Abfall zurückgelassen werden. Der Leichnam geht vom Feuchten zum Trockenen, vom Vergänglichen zum Dauerhaften über. Die Knochen werden in ein kostbares Leichentuch aus Rohseide gewickelt und in das aus Stein gebaute und häufig zementierte Familiengrab überführt. Diese Exhumierung war früher nicht notwendig: Ein Bara-Student vom Clan der Hako hat mir erzählt, dass bei ihm vor noch nicht allzu langer Zeit das Fleisch des Verstorbenen verzehrt wurde, bevor die Knochen eingesargt und endgültig ins Isalo übergeführt wurden. Die zweite Bestattung ist nicht feierlicher als die erste, und man tötet dabei nicht mehr Ochsen, es sei denn, dass beide Feiern miteinander verbunden werden.
Etwa ein Jahr nach dieser Bestattung feiert man im Dorf die fanefa-faty, "die Vollendung des Leichnams". Diesmal laden die Bara mehrere Tage lang, manchmal ein bis zwei Wochen, die gesamte Sippschaft ein, und an jedem Tag wird ein Ochse geschlachtet und verzehrt. Jeder trägt seinen Teil dazu bei, und die geopferten Ochsen und der verzehrte Reis werden mit Geld bezahlt, oder Gäste bringen Reis als ihren Beitrag mit. Die Stimmung ist festlich: Gesänge, Musik, Begegnungen zwischen Jungen und Mädchen, Tänze, schöne Kleider, Kampf mit den Ochsen - ein Kampf mit bloßen Händen, Alkohol tags und nachts. Die Gespräche geben der Feier den Sinn. Sie endet mit einem Gebet an die Ahnen am Fuße des Opferpfahls - dem Altar des Clans B, und manchmal wird in rund zwei Metern Höhe ein Stein angebracht, der mit dem Blut eines Ochsen besprenkelt und der Erinnerung an den Verstorbenen geweiht wird. Jeder nimmt einen Teil des rohen Fleisches des Ochsen, der dem Verstorbenen geopfert und für dessen Leben in der anderen Welt dargeboten wurde, mit nach Hause zurück.
Bei den Bara ist also ursprünglich nicht die Exhumierung das große Fest; sie ist im Begriffe, dies zu werden, weil sie häufig mit fanefa-faty zusammengelegt und identifiziert wird: Der ausgetrocknete Leichnam wird nach der Rückführung ins Dorf in das Familiengrab gelegt. Die Vollendung des Toten wird gefeiert, indem man den Ahnen am Opferpfahl anruft. Das Wichtige ist nicht der Leichnam, sondern der Geist des Toten. Doch dieser Geist kann nur dann selbständig werden, wenn der Leichnam vollständig ausgetrocknet ist. Danach kann man ihn regelmäßig für tägliche Segnungen anrufen und ihm Opfer bringen.
Ein Kind, das seine ersten Zähne noch nicht hat, wird jedoch nicht bestattet. In ganz Madagaskar nennt man es ein Wasserkind - zaza rano: Man lässt seinen Leichnam in einem Sumpf oder am Rande eines Reisfeldes, an der Quelle eines Wasserlaufs zurück, damit es in den Strom des Lebens zurückkehrt. Es wird niemals ein Ahne, weil es noch keine festen Knochen hat.
Im äußersten Süden Madagaskars haben die Antandroy, Nachbarn der Bara, einen noch radikaleren Brauch: Sie bestatten den Leichnam nicht, solange er nicht ausgetrocknet ist. Sie bauen für den feuchten Leichnam eine provisorische Hütte im Dorf und halten so viele Monate Totenwache wie nötig. In dieser Zeit verzehren sie alle Ochsen, die der Verstorbene noch nicht zwischen seinen Nachkommen aufgeteilt hatte. Wenn es soweit ist, wird der ausgetrocknete Leichnam unter einer riesigen Truhe aus Steinplatten begraben. Nach Vollendung dieser Riten wird der Ahne am Opferpfahl des Clans und nicht mehr am Grab angerufen.
Die Tsimihety leben im Norden Madagaskars. Sie bestatten ihre Toten (außer Wasserkinder und Leprakranke) in einer Felsenkluft, in einer unter der Erde gegrabenen Höhle oder in einer zu diesem Zweck gebauten provisorischen Grabstätte, denn die Erde nimmt alles auf, was nicht rein ist. Bei den Tsimihety gibt es den Mythos, dass die Erde und die Steine früher die Menschen verfolgten, um sie zu verschlingen. Gott bestrafte das Gestein, indem er es erstarren ließ. Seither wartet es, dass Gott ihm die Menschen als Nahrung gibt - so wird der Ursprung des Todes erklärt.
Zwei oder drei Jahre nach der Bestattung wird die Exhumierung vorgenommen. Die Tsimihety bringen den Leichnam auf den Dorfplatz, wo er gesäubert, eingewickelt und aufgebahrt wird. Dort werden auch Reden gehalten und Gebete gesprochen, Ochsen geschlachtet, die die Anwesenden verspeisen. Schließlich werden die traurigen Erinnerungen an den Verstorbenen nach und nach durch die Freude des Festes, den Alkohol und die Musik, die anzüglichen Gesänge und die Tänze verdrängt. Danach wird der Tote in die Ahnengruft gelegt, wo er seine endgültige Bleibe findet.
An der Betsimisaraka-Küste im Norden und auf der Insel Sainte Marie im Osten wird dieser Übergang des Leichnams von der provisorischen zur endgültigen Grabstätte als Radona bezeichnet. Die Knochen werden ausgegraben, gesäubert und in einen Kasten gelegt, der nicht vergraben, sondern auf die Erde gestellt und unter einem einfachen Schutzdach der frischen Luft ausgesetzt wird. Bei einem modernen unterirdischen Grab werden die Kisten auf Regale ohne Kontakt mit der Erde gestellt. Die Symbolik ist die gleiche wie bei den Bara, die die Leichname in die Klüfte der höher gelegenen Felsen legen. Denn ein Ahne kommt ins himmlische Reich, das Reich der Luft und des Trocknen, und verlässt endgültig das Reich der Erde, des Wassers und des Feuchten. Für die Christen - und die Bewohner von Sainte Marie sind Christen - hat die Seele des Verstorbenen endlich Zugang zu Gott. Sie kehrt an ihren Ursprung zurück, und dem Brauch nach kann man dann ihren Namen anrufen, wenn man die Ahnen für Opfer und Segnungen anruft.
Längst nicht alle Ethnien Madagaskars nehmen Exhumierungen vor. Die Entwicklung der zweiten Bestattung auf den Hochebenen hat diese jedoch im Ausland unter der Bezeichnung "Rückkehr der Toten" berühmt gemacht. Im Merina-Land und im Nord-Betsileo-Land im Inneren der Insel um die Hauptstadt Antananarivo sind Exhumierungen nicht nur allgemein verbreitet, sondern werden regelmäßig und unendlich oft wiederholt. Diese Regionen sind am stärksten urbanisiert, sie verzeichnen die höchste Schulbesuchrate, und die Bevölkerung ist überwiegend christlich. Die zweite Bestattung wird dort besonders stark praktiziert und zum Schwerpunkt des rituellen Lebens und der Beziehung zu den Ahnen.
Die Hauptstadt Antananarivo hat heute anderthalb Millionen Einwohner, von denen die Mehrheit etwa alle fünf Jahre die Exhumierung ihrer Verstorbenen vornimmt. Die Verstorbenen werden in Tanzprozessionen getragen und in teure Stoffe neu eingewickelt. Die Angehörigen fühlen sich verpflichtet, Redner, Musiker und gar die Gruppen von Sängern und Tänzern zwei volle Tage lang zu bezahlen, und eine Menschenmenge von mehreren hundert bis zu 2000 oder 3000 Personen zu versorgen. Die Grabstätten sind aufwendige Bauten aus behauenen Steinen mit geschnitzten Türen, Kunstschmiedearbeiten oder Verzierungen aus Zement, Malereien, Inschriften geworden. Unter der Erde enthalten sie mehrere Steinschichten und manchmal mehrere Stücke in einer langen geraden Reihe, die sich verschiedene Zweige der gleichen Familie teilen. Man sagt: Im Leben haben wir das gleiche Haus gehabt, als Tote haben wir die gleiche Grabstätte. Das geht so weit, dass alle Merina und Betsileo, deren Leichname nicht im Ahnengrab beigesetzt werden, als der Hölle ausgeliefert gelten, einem schrecklichen Tod, einer fürchterlichen Abwesenheit für sich und für die Lebenden.
Die periodischen Exhumierungen verpflichten alle Angehörigen der gleichen Familie, zusammenzukommen - oder zumindest ein Lebenszeichen von sich zu geben und einen finanziellen Beitrag zu schicken. Die Feste bieten die Gelegenheit, die Familienstrukturen zu festigen und neue Bündnisse zu schaffen sowie über geschlossene Ehen und Geburten in der Gemeinschaft zu informieren. Um die Gräber herum und aus Anlass der großen Bestattungsriten haben die Menschen regelmäßig ihre verwandtschaftlichen und solidarischen Bande neu knüpfen können. Die Familienstrukturen bieten hier die einzige Sicherheit, da es keine staatliche soziale Absicherung gibt.
Die Geschichte hat es so gewollt, dass die Verwandtschaftsstrukturen, bei denen jeder Clan sein Clanhaus, seinen Patriarchen, seinen Opferpfahl, seine Grabstätte hat, weder in Imerina noch in Betsileo beibehalten werden. Dafür gibt es viele Gründe: Das Entstehen eines immer stärker zentralisierten monarchischen Staates im 18. und 19. Jahrhundert, das Bevölkerungswachstum und schließlich die Schaffung eines Staatschristentums ab 1868. Die Missionare und die christlichen Monarchen in Antananarivo verboten den zu Christen gewordenen Merina, für die traditionellen Opfer für die Ahnen zusammenzukommen. Nach der Taufe der Königin im Jahre 1869 kam es zu einer erstaunlichen Entwicklung: In den Jahren von 1870 bis 1874, zur gleichen Zeit, als die Bevölkerung in die Kirchen strömte, um sich taufen zu lassen, gruppierten sich die Menschen aus Anlass der Exhumierungen neu um die Ahnengrabstätten. Die Sänger und Tänzer der alten Kulte, die in den Kirchen nicht akzeptiert wurden, boten ihre Dienste an. Das Schauspiel der Hira gasy, einer Art gesungener und getanzter volkstümlicher Oper, entstand zu dieser Zeit um die Gräber herum für ein immer zahlreicher werdendes Publikum.
Das Ritual entwickelt sich weiter. Es handelt sich nicht mehr nur darum, den jüngsten Toten in die Ahnenreihe aufzunehmen, auch alte Toten werden ausgegraben, um sie zu ehren und ihre Leichentücher zu erneuern. Das Fest dauert zwei Tage. Die Leichname werden aufgebahrt, und es wird Totenwache bei ihnen gehalten. Die ganze Familie findet sich zusammen - die Lebenden und die Verstorbenen B, Ochsen werden geschlachtet und verzehrt, man feiert und tanzt. Die Verstorbenen werden in die zu ihren Ehren abgehaltenen Freudenfeste mit einbezogen, indem man sie in einer Prozession trägt und auch sie tanzen lässt. Die direkten Abkömmlinge tragen sie auf ihren Schultern, eine Art Menschentraube um den Ahnen herum. Doch kinderlose Personen werden nicht exhumiert. Wer kümmert sich um sie, und um wen kümmern sie sich? Wie segnen diejenigen, die niemals das Leben weitergegeben haben?
Diese Exhumierungsriten finden inzwischen regelmäßig statt. Etwa alle fünf Jahre exhumiert jede Großfamilie ihre Ahnen - famadihana - freut sich mit ihnen und wickelt sie in neue Leichentücher. Manche ruinieren sich dabei, viele verschulden sich. Andere ziehen durch die Sammlung von Beiträgen geschickt daraus Nutzen. Die meisten erleben diese Feiern wie einen großen Augenblick der kollektiven Gemeinschaft und mit einem Glücksgefühl. Da äußern sich echter Gemeinschaftsgeist und die verwandtschaftlichen Bande. Man lädt auch Freunde ein, die den Verwandten gleichgestellt werden. Wer an diesen Feiern aus welchen Gründen auch immer nicht mehr teilnimmt, schließt sich nicht nur von der alltäglich gelebten Solidarität aus, sondern eines Tages auch von der Grabstätte: Er muss für sich und die seinen eine andere Lösung finden, zum Beispiel eine neue Grabstätte bauen und eine neue Familienstruktur schaffen. Bei diesen Kollektivexhumierungen reiht man die Toten, die inzwischen im Grab bestattet sind, in die Ahnenreihe ein. Die Leichname sind auf die Erde gelegt, exhumiert und neu eingewickelt worden und werden jetzt in eines der Betten aus Stein gelegt, die oben auf den Wänden angebracht sind.
Die Kirchen haben auf die Entwicklung dieser Riten unterschiedlich reagiert. Die Evangelischen Kirchen haben sie verurteilt, und tatsächlich werden sie von manchen protestantischen Familien nicht praktiziert. Dabei handelt es sich häufig um wohlsituierte Familien, die andere Möglichkeiten haben, um zusammenzukommen und ihre Solidarität zu bekunden. Die Anhänger verschiedener unabhängiger Kirchen und Sekten schaffen derart starke neue Gemeinschaften, dass sie mit den traditionellen Bräuchen der Ahnen völlig brechen.
Die katholische Kirche ist am tolerantesten. Häufig nimmt ein Priester am Fest teil, segnet und beweihräuchert den aufgebahrten Leichnam und spricht von der Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag. Manchmal wird in der Nähe des Grabes oder im Haus der Ahnen eine Messe zelebriert. So wurde 1971 aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Diözese Fianarantsoa der Leichnam des ersten Bischofs vom Grab der Mission in einer Massenprozession zur Kathedrale überführt. 15.000 Personen nahmen an der Zeremonie teil, für die zahlreiche Ochsen geschlachtet worden waren, und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie in rohseidene Gewänder gekleidete Träger mit dem Leichnam des Bischofs am Eingang der Kathedrale getanzt haben. Die Diözese Antananarivo hat die Exhumierung von Victoire Rasoamanarivo vorgenommen, der 1989 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen wurde. Noch in diesem Jahr haben die durchs Land geführten Reliquien der Heiligen Theresia von Lisieux auf der ganzen Insel bei katholischen wie bei protestantischen Christen, bei Muslimen wie bei Nichtchristen eine riesige Menschenmenge mobilisiert, die ihren Reliquienschrein um jeden Preis berühren wollte.
Die Entwicklung der famadihana bei den Merina zeigt, dass man nicht ungestraft am Sockel einer Kultur rührt: Das ganze Leben von Einzelnen und der Gesellschaft hängt daran. Deshalb müssen die Christen eine Ahnentheologie entwickeln. Welches ist ihr Platz in Christus, welches ist ihre Rolle in der Kirche und im Leben einer christlichen Familie? Bisher haben die Protestanten versucht, dem Problem auszuweichen, doch ist es anderswo neu und auf andere Art aufgetreten. Die Katholiken ihrerseits sind versucht, die Ahnen den Heiligen gleichzusetzen, doch das ist unangemessen und unbefriedigend.
Doch die madagassischen Christen warten nicht auf die Theologen: Sie leben ihre Beziehung zu den Ahnen als Madagassen und als Christen. Alle stellen Kreuze auf ihre Gräber und malen Bibelsprüche oder Gebete auf die Grabwände. Die Ahnen sind schon ein wenig wie die Heiligen der Familie. In den Häusern wendet man sich beim Morgen- und Abendgebet der Nordostecke zu, der Ecke der Ahnen, dort werden Bibeln und Bilder aufgestellt. Gott, Christus, die Ahnen und die Heiligen sind dort zusammen. Übrigens haben die Lutheraner nicht das alte christliche Brauchtum aufgegeben, die Kirchen nach Osten auszurichten, was der Ausrichtung der Gebete zu den Ahnen entspricht. Christus und die Ahnen müssen einander auf die eine oder andere Art wiederfinden.
Doch warum war das Grab Jesu am Ostermorgen leer?
aus: der überblick 02/2003, Seite 6
AUTOR(EN):
François Noiret:
Der Jesuit François Noiret, genannt Razafitsalama, lebt seit 1971 auf Madagaskar. Der Doktor für Afrikawissenschaften unterrichtet seit 1991 Anthropologie an der Universität Fianarantsoa, wo er auch als Studentenpfarrer arbeitet.