Vom Huhn zur Grundstückssteuer
Die Bauerngesellschaft Burkina Fasos befindet sich im Umbruch. Mit weitreichenden Strukturreformen soll das Land demokratisiert und entwickelt werden. Doch nicht alle Neuerungen stoßen auf Gegenliebe: So gehört der Boden jetzt dem Staat und muss von den Bauern gepachtet werden.
von Jörn Breiholz
Der Kinosaal in Tenkodogo ist bis auf den letzten Platz gefüllt. In der Hauptstadt der burkinischen Provinz Boulgou auf dem Weg zur ghanaischen Grenze treffen sich morgens um sieben Uhr mehr als 700 Delegierte von Bauernvereinigungen. Viele sind schon am Abend vorher angereist. Vor den Eingängen drängen sich Grüppchen von Bauern und Bäuerinnen und diskutieren miteinander. Etwa achtzig Frauen in farbenprächtigen Gewändern stehen in der Mitte des Kinovorplatzes im Kreis zusammen und feilen an der Strategie für die Wahlen, die den ganzen Tag anhalten werden. Erst am Abend, nachdem das Wahlsystem aus der französischen Sprache in die örtlichen Dialekte übersetzt worden ist, nachdem die Kandidaten ihre Programme vorgestellt und alle 700 Delegierten, nahezu ausnahmslos Analphabeten, einen farbig markierten Wahlzettel in die Urnen gesteckt haben, wird der Sieger feststehen: ZébB Agrattou Tindano, eine 34-jährige Kreditberaterin, ist die regionale Präsidentin der ersten landesweiten Bauernorganisation Burkina Fasos in der Provinz Boulgou.
Eine Wahl, die verblüfft. Bisher haben im stark patriarchal geprägten Burkina Faso die Männer in der Öffentlichkeit das Sagen gehabt. "Die Bauern haben mich gewählt, weil ich mich mit Finanzen gut auskenne", sagt die neue Präsidentin. Sie weiß sehr wohl, dass dieser Tag ein entscheidender für die 20.000 Landwirte ist, deren Delegierte sie heute an die Spitze gewählt haben. Denn es geht auch um Entwicklungsgelder, die die neue Bauernorganisation in Zukunft verwalten soll: "Bisher ist es immer so gewesen, dass wir im Fernsehen von neuen Projekten gehört haben, die von europäischen Geldgebern finanziert werden. Aber oft ist das Geld, das uns versprochen wurde, gar nicht in Boulgou angekommen." Genau das will sie ändern: "Wir brauchen neue Staudämme für die Bewässerung der Felder, wir brauchen Geld für die Vermarktung und für die Ausbildung unserer Leute. Jetzt werden wir uns die Kenntnisse aneignen, die uns bisher gefehlt haben, und bald werden wir selbst in der Lage sein, die Projekte finanziell abzuwickeln."
So eine Einstellung wie die hier in Tenkodogo vorherrschende haben sich die Geberländer wohl erhofft, als sie Mitte der 90er begannen, die Entwicklungshilfe in Westafrika unter neue Vorzeichen zu stellen: Schafft demokratische Strukturen und stärkt eure Zivilgesellschaft, dann zahlen wir weiter, lautet die Vorgabe, unter die auch die deutschen Entwicklungshilfeträger inzwischen ihre Projekte stellen. Dass die Bauern der Provinz Boulgou nicht einen der alten Patriarchen, sondern eine Frau an die Spitze ihres regionalen Zweiges dieser ersten landesweiten Bauernorganisation wählen, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sich tatsächlich eine neue Generation auf den Weg macht, um erstmals demokratisch an der gesellschaftlichen Macht teilzuhaben.
Organisiert hat den Prozess im Osten des Landes der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) gemeinsam mit einer burkinischen Partnerorganisation. In einer neunmonatigen Sisyphusarbeit haben die Projektentwickler etwa 4000 Bauerngruppen allein im Osten erfasst. Landesweit soll es fast 20.000 Bauerngruppen mit durchschnittlich 35 Personen geben, die sich in den Dörfern zusammengeschlossen haben. Mit Animateuren, die die Bauern direkt in den Dörfern besuchten, und Radiosendungen in den verschiedenen Dialekten schafften es Projektmitarbeiter wie Jörg Lange vom DED, 90 Prozent der Bauern zum Urnengang zu mobilisieren. Das war ein durchschlagender Erfolg, zumal kaum einer der Bauern lesen kann. "Die Bauern haben verstanden, dass es um ihre eigenen Interessen geht", sagt Lange. "Hier herrscht Aufbruchstimmung." 80 Prozent der burkinischen Bevölkerung sind Bauern. Der neue Bauernverband organisiert also den Großteil der burkinischen Bevölkerung. "Eine solche Vertretung, wie sie im Moment geschaffen wird, gab es bisher nicht", fügt Lange hinzu. "Das Besondere ist, dass sie von der Basis ausgeht und die gesamte Bauernschaft mit einbezieht." Mit Hilfe des Verbandes sollen sich jetzt die einzelnen Bauerngruppen untereinander vernetzen. Man denkt daran, das durch einen Internetauftritt und damit verbundene schnelle Email-Kommunikation zu unterstützen.
Auf Regierungsseite stieß die Idee, die Bauern zu organisieren, zunächst auf erheblichen Widerstand. "Erst nach einigen Diskussionen mit den Geberländern hat der burkinische Staat das Projekt akzeptiert", berichtet Lange. "Es gab schon lange ein Misstrauen der Geber gegen den Staatsapparat, das immer weiter gewachsen ist. Man hat gesehen, dass Gelder in diesen staatlichen Strukturen verschwanden und nur ein geringer Teil tatsächlich dort ankam, wo er ankommen sollte." Mit der neuen Bauernvereinigung soll das Landwirtschaftsministerium in Zukunft bei der Finanzierung weitgehend vor der Tür bleiben: "Dann kann das Geld direkt an die Zielgruppe, nämlich an die Bauern selbst, ausgezahlt werden", betont Lange.
In der Nachbarprovinz Fada Ngourma, wo ein Teil der auch in Niger, Tschad, Togo und Benin lebenden Volksgruppe Gourmantché siedelt, winken die Kinder und manchmal auch die Erwachsenen freudig strahlend, wenn einer der seltenen Geländewagen der Europäer über die Piste rauscht. Hier reicht der Arm der Zentralregierung in der Hauptstadt Ouagadougou kaum noch hin, die Provinz gehört zu den ärmsten des Landes. Die Gourmantché verfügen über eine Fähigkeit, wie sie nur wenigen gegeben ist. Sie können die Zukunft aus dem Sand lesen und heißen im Volksmund daher auch die Sandleser. In den Dörfern spielt sich das Leben rund um den Hof des traditionellen Herrschers ab, der seit einigen Jahren nicht mehr zentral vom König der Gourmantché ernannt, sondern gewählt wird. Ein Großteil der jungen Männer ist in die Nachbarländer Ghana oder die Elfenbeinküste ausgewandert, um Arbeit zu suchen. Für die daheimgebliebenen ist hier wie in vielen anderen Landesteilen Ackerboden zum kostbaren Gut geworden. "Als ich vor zwanzig Jahren anfing, war es kein Problem, genug Land zu bekommen", sagt Bindaho Mifalba, der mit seinen viereinhalb Hektar Land in der Kleinstadt Piéla eine zwanzigköpfige Familie mit mehreren Ehefrauen, Kindern und Eltern ernährt. Er pflanzt hauptsächlich Sorghum, aber auch Mais und Bohnen. "Heute ist das ganz anders. Wenn ich mein Feld nur um einen Meter verbreitern wollte, ginge das nicht." Daher setzt Mifalba auf die Veredelung seines Bodens mit natürlichen Düngemitteln und Steinwällen, die das kostbare Regenwasser langsam in den Boden sickern lassen. "Der Boden ernährt mich und meine Familie, daher muss ich ihn sorgsam pflegen", sagt der 49-Jährige.
Aufgrund der sinkenden Weltmarktpreise für Vieh, Getreide und Baumwolle, wachsender Bevölkerung und fortschreitender Wüstenbildung ist Ackerland knapp geworden in Burkina. Als Bindaho Mifalba sich als junger Mann selbständig machen wollte, ging er zum traditionellen Herrscher und ließ sich ein Stück Land zuweisen, im Tausch gegen Hühner oder ein paar Säcke Hirse. Heute muss er sich an ein Komitee aus staatlichen Verwaltungsbeamten und Angehörigen des Dorfes wenden. Im Namen des burkinischen Staates, der jetzt per Gesetz offizieller Inhaber des burkinischen Bodens ist, entscheidet das Komitee über den Antrag. Wird dieser positiv beschieden, erhält er eine Nutzungsurkunde, die im Katasteramt hinterlegt wird und ihm einen Rechtstitel als Pächter sichert. Und er muss für das Land eine Pachtgebühr zahlen. Aus diesen Geldern soll die entstehende lokale Verwaltungsstruktur finanziert werden. "Wir haben nicht mehr genug Land für alle", sagt Clément Gansonre, der Hochkommissar der Region Ost, zu der neben sieben weiteren Provinzen auch die um Piéla zählt. "Daher mussten wir die Bodenvergabe neu ordnen, um allen eine Chance auf Ackerboden zu geben."
Das alte System des traditionellen Herrschers, der allein über die Vergabe von Land entscheiden konnte, sei ungerecht gewesen: "Der Unterschied ist immens. Traditionellerweise gab es die Möglichkeit der Diskriminierung. Beim traditionellen Chef konnte es vorkommen, dass dem Bauern das Land entzogen wurde oder jemand gar kein Land erhielt. Wenn die örtlichen Komitees das Land vergeben, gibt es ein Protokoll, das vom Präfekten unterschrieben wird und Rechtssicherheit bietet.", gibt Gansonre zu bedenken. Das neue System habe sich bewährt und stärke die lokale Demokratie: "Die Menschen in den Dörfern entscheiden jetzt gemeinsam mit den Verwaltungsbeamten. Das ist ein gutes Stück neue Demokratie, die wir jetzt leben."
Während die Bauern das Land bisher nur pachten dürfen, können Investoren inzwischen auch Land erwerben, für 400.000 CFA, umgerechnet 600 Euro pro Hektar. "Wir wollen den Investoren damit Rechtssicherheit gewähren", sagt Gansonre. In seiner Region gebe es allerdings noch keinen burkinischen oder ausländischen Investor.
Die alten Herrscher wie Hamtoni Lankoandé in Bilanga, nur wenige Kilometer von Piéla entfernt, sehen hingegen düstere Zeiten heraufziehen: "Das ist ein großer Konflikt, den wir zur Zeit erleben", sagt der 79-Jährige, der mit mehreren Frauen und Kindern in einem großen Hof lebt. "Mit der Modernisierung ist das System gekommen, dass das Land vermessen wird und man es kaufen muss. Für mich und meine Leute, die unsere afrikanische Tradition vertreten, sind das weiße Schwarze: Es sind Schwarze, es sind Burkinabé, aber ihre Art zu denken ist weiß und von den Europäern übernommen." Lankoandé selbst muss jetzt Pacht zahlen für das Grundstück, das er bewohnt. Das habe er allerdings noch nicht getan, auch weil er die neuen Gesetze nicht akzeptiere: "Weil das ein System ist, das aus Europa kommt. Man kann Land kaufen, und Land kann weiter verkauft werden. Ich finde es seltsam, dass Leute für das Grundstück, auf dem sie ihr Haus haben, bezahlen müssen, nur weil es vermessen wird. Obwohl sie arm sind und keine finanziellen Mittel haben. Aber was kann ich tun: Ich kann es nur erdulden." Der Dorfchef lässt sich von seinen drei Notabeln, Männer mittleren Alters, beraten, die unter dem auf einem Liegestuhl thronenden Chef im Sand sitzen. Die vier geben gemeinsam die Antworten auf die Fragen der Europäer, die Berater zeichnen mit den Händen im Sand, wenn sie überlegen.
Lankoandé scheint zu wissen, dass er der letzte traditionelle Dorfchef seiner Art ist. Kampfansagen und Widerstand gegen die Pläne der Regierung, die hier das Ende einer jahrhundertealten Tradition beschieden hat, äußert er nicht. Ganz anders war das noch zu Zeiten Thomas Sankaras, der sich 1983 an die Macht geputscht und Burkina in seiner Regentschaft bis 1987 weitreichende, sozialistisch gefärbte Reformen verordnet hat. Sankara wurde von seinem damaligen Mit-Putschisten Blaise Compaoré, dem heutigen Staatschef, ebenfalls per Staatsstreich gestürzt und dabei getötet. Gescheitert ist er allerdings, so sagen es heute viele Burkinabé, an den traditionellen Chefs und ihrer Macht.
Das Binnenland Burkina Faso, das bis auf wenige Goldvorkommen über keine Bodenschätze verfügt, zählt laut Human Development Index (Index für menschliche Entwicklung) zu den fünf am wenigsten entwickelten Ländern. Nur jeder sechste Burkinabé kann lesen und schreiben, die Lebenserwartung liegt bei 44 Jahren, das Pro-Kopf- Einkommen zählt 220 Euro pro Jahr. Ein Land am Tropf der reichen Länder: 15 Prozent des Haushaltes, etwa 330 Millionen Euro, sind staatliche Entwicklungsgelder, hinzu kommen private Entwicklungsgelder. Moumouni Fabre, ehemaliger burkinischer Botschafter in Deutschland, soll als Minister für Dezentralisierung die neuen Verwaltungsstrukturen aufbauen, die den Demokratisierungsprozess auf dem Land voranbringen sollen: lokale Parlamente, kommunale Verwaltungsbehörden, Gerichte. "Wir können unser Land nur entwickeln, wenn wir es demokratisieren und allen einen Zugang zur Beteiligung an den gesellschaftlichen Prozessen ermöglichen", sagt der Minister. Fabre steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Um die geplanten Lokalparlamente und dezentralen Verwaltungsbehörden auf dem Land zu etablieren, benötigt er Verwaltungsfachkräfte: "Ich brauche nur für dieses Jahr 700 zusätzliche Verwaltungsspezialisten. Wenn Sie das auf zehn Jahre kalkulieren, sehen Sie, wie hoch unser Bedarf ist. Unsere Verwaltungsfachschule kann allerdings nur hundert pro Jahr ausbilden."
Bisher werden die Burkinabé von einer kleinen Elite im Ausland ausgebildeter Politiker regiert. Genau diese Elite ist es, sagt Fabre, von der die größte Bedrohung für den Demokratisierungsprozess ausgeht: "Die Politiker können den laufenden Prozess der Demokratisierung gefährden. Wenn sie einen gewissen Einfluss über die Einwohner eines Dorfes oder eines Departements haben, können sie die Entscheidung der Menschen an der Basis beeinflussen."
Auch Salif Diallo, der amtierende Landwirtschaftsminister, der als zweiter Mann im Staat gehandelt wird, steht - jedenfalls in Interviews - dem Demokratisierungsprozess inzwischen positiv gegenüber. Bis Anfang 2000 galt Diallo als Bremser bei der Umsetzung der Liberalisierungsbemühungen und der Förderprogramme in der Landwirtschaft. Inzwischen hat er sich dem Druck der Europäischen Union in vielen Bereichen gebeugt. "Wir haben akzeptiert, dass sich der Staat aus seinen Kernfunktionen zurückziehen muss", sagt er heute. "Das Vakuum, das entsteht, muss die Zivilgesellschaft füllen, die Bauern, die heute noch arm und ungebildet sind. Daher unterstütze ich die Professionalisierung und Ausbildung der Bauern." Er kündigt eine Landwirtschaftskammer an, die er bald gründen werde.
In weiten Teilen des Landes ist der Aufbruch in Burkinas Gesellschaft mit Kommunen und Provinzen, die sich selbst verwalten wollen, spürbar. Gerade auch in Ouagadougou, der Hauptstadt, wo Handwerk und Handel ähnliche Berufsverbände wie die Bauern gründen. Hier demonstrieren auch immer häufiger Studenten und Menschenrechtler für Demokratie und einen schnelleren Reformprozess. Der MDHB, der burkinische Menschrechtsverein, hat inzwischen 35.000 Mitglieder - eine beachtliche Anzahl in einem kaum alphabetisierten Land, das gestern noch weitgehend jahrhundertealten Traditionen verhaftet war. Auch die Bauern wollen bald selbst in die Politik gehen. "Es dauert nicht mehr lange, dann werden wir eine eigene Partei gründen", sagt ZébB Agrattou Tindano, die neue Bauernpräsidentin in Boulgou. Eine neue Partei kann den bisher von Staatschef Blaise Compaoré kontrollierten Regierungsapparat auf den Kopf stellen, denn sie spräche 80 Prozent der Bevölkerung an. Eine Konsequenz, die die Geberländer so vielleicht nicht bedacht haben.
aus: der überblick 01/2003, Seite 81
AUTOR(EN):
Jörn Breiholz:
Jörn Breiholz war Chefredakteur von "Hamburg 19" und arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg.