In der britischen Hauptstadt suchen Islamistenführer junge Muslime für den Kampf in Kaschmir, Palästina oder Tschetschenien
Ausländer, die für militanten Widerstand in ihrem Heimatland eintreten, wurden in England, dem Mutterland des Liberalismus, lange als Exzentriker geduldet. Davon profitierten auch Islamistenführer, die junge Muslime zu Söldnern für den heiligen Krieg in aller Welt ausbilden lassen. Mit der Angst vor der Ausbreitung eines islamischen Terrorismus ist nun aber auch die britische Regierung unter Druck geraten. Ein neues Gesetz soll die Planung von Gewaltakten im Ausland verhindern.
von Albrecht Metzger
Dramatik muss sein, sonst verkümmert jede Revolution, ehe sie begonnen hat. Junge Menschen, die die Welt verändern wollen, sehnen sich jedenfalls nicht nach langwierigen Debatten und zähen Entscheidungsprozessen, sondern nach Taten. Vielleicht ist das der Grund, warum Scheich Omar Bakri Muhammad bei seinen Anhängern so beliebt ist. Die Morddrohungen, die ihn regelmäßig erreichen, steckt er gelassen weg – ganz wie einer, der überzeugt ist, dass er das Licht der Wahrheit gesehen hat und bereit ist, für dessen Verbreitung zu sterben.
Aber die Gefolgsleute des syrischen Religionsgelehrten mit Sitz in London müssen auch nicht tatenlos zusehen, wie die Welt tiefer und tiefer in den Sumpf von Korruption und Unrecht versinkt. Scheich Omar organisiert Reisen ins Islamische Emirat Afghanistan – diesen Namen haben die Taliban, die den größten Teil Afghanistans beherrschen, ihrem strengen Staatswesen gegeben; dort können sich kampfeswillige Muslime aus der ganzen Welt zum Mudschahid, zum »Krieger auf dem Wege Gottes«, ausbilden lassen. Mit einiger Verwunderung haben britische Medien im vergangenen Sommer festgestellt, dass es in England offensichtlich junge Männer gibt, die von der Wohlstandshochburg Europa die Nase voll haben und lieber im asiatischen Hochgebirge ihre Körper schinden und sich auf Kriege vorbereiten, die weit weg von ihrer Heimat stattfinden. »Britische Muslime nehmen am ›Heiligen Krieg<« teil, berichtete die BBC im Juni 2000. Die jungen Rekruten würden nach ihrer Ausbildung nach Tschetschenien und Kaschmir geschickt, um dort zu kämpfen. Wieder einmal hatte Europa die Angst vor dem Islam eingeholt.
Scheich Omar ist sichtlich daran gelegen, diese Angst zu schüren. Muslime, so sagt er, seien weltweit auf dem Vormarsch und ihre Wut richte sich in erster Linie gegen den arroganten Westen. Er selbst versteht sich als Speerspitze dieser Bewegung. Und wenn ihn die britischen Medien den »gefährlichsten Mann Englands« nennen, dann regt er sich vordergründig auf, in Wirklichkeit aber fühlt er sich geschmeichelt: Scheich Omar, der Rächer der Unterdrückten, der Kämpfer für Recht und Ordnung.
Scheich Omar hatte in Damaskus Islamisches Recht studiert und kam dann über mehrere Umwege in den achtziger Jahren nach London. Dort lebt er heute als Asylbewerber, seit er aus Saudi-Arabien geflüchtet ist, wo man ihm politische Agitation vorwarf. In London gründete er zunächst den britischen Zweig der Hizb al-Tahrir, einer Organisation, die die islamische Welt durch die Wiedererrichtung des Kalifat einen will. Als die britischen Behörden wegen des Vorwurfs, sie betreibe antisemitsche Propaganda, der Hizb al-Tahrir verboten, an den Universitäten Mitglieder zu rekrutieren, nannte Scheich Omar seine Organisation in al-Muhajiroun um. Die hat es sich unter anderem zum Ziel gemacht, England in einen islamischen Staat zu verwandeln.
Nicht nur Hass treibt Scheich Omar an. Er streckt den »verlorenen Schafen«, egal welchem Glauben sie angehören, die Hand hin und verspricht ihnen Erlösung, wenn sie ihm nur folgen. Denn der Islam, da ist sich Scheich Omar sicher, bietet die einzige Alternative zu den Problemen, die uns plagen, angefangen von Aids über die Verschmutzung der Umwelt bis hin zur Auflösung der Familie. Zu viel Freiheit korrumpiere nur, und wer sich aufschwingt, selbst Gesetze zu erlassen, statt den von Gottes Herabgesandten zu folgen, betreibe Blasphemie.
Sich wie Scheich Omar zu verhalten, wäre in Deutschland undenkbar. Welcher Muslim, und dazu noch ein politischer Flüchtling, würde sich trauen, in Berlin auf die Straße zu gehen und die Abschaffung der Demokratie zu fordern? Man mag froh sein, dass dies in Deutschland nicht geschieht. Aber anders betrachtet ist es ein Zeichen von Normalität, wenn sich Migranten in Großbritannien die gleichen Rechte herausnehmen wie Alteingesessene. Im Mutterland des Liberalismus ist es nun einmal nicht verboten, die Freiheit der Demokratie zu nutzen, um deren Abschaffung zu fordern. Warum sollten sich da Muslime anders verhalten als Christen, Atheisten oder Juden? Zumal zum liberalen Klima in England auch gehört, dass bereits seit Jahren an britischen Universitäten Imame und muslimische Religionslehrer ausgebildet werden, die ein unverkrampftes Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft haben. Derartige Einrichtungen fehlen bislang in Deutschland. Auch gibt es in London genügend muslimische Intellektuelle, die sich selbstverständlich als Briten verstehen, ohne deswegen ihre religiöse Identität aufzugeben.
Dennoch hat auch in England das Verhältnis zwischen Muslimen und dem Rest der Bevölkerung in jüngster Zeit gelitten. Schuld daran ist vor allem die weltweite Angst vor der Ausbreitung eines islamisch legitimierten Terrorismus, wie ihn der saudische Millionär Usama bin Laden aus seinem Versteck in Afghanistan propagiert. Seine Organisation, die al-Qaida, soll hinter den Anschlägen auf die amerikanischen Botschaften in Ostafrika stecken, bei denen im Sommer 1998 fast 300 Menschen starben. Seitdem drängen die Amerikaner ihre Verbündeten, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus besser zu koordinieren.
England mit seinen liberalen Gesetzen stand besonders in der Kritik. Denn bis vor kurzem war es noch nicht einmal verboten, von englischem Boden aus Gewalttaten im Ausland zu planen. Fast jede Befreiungsbewegung oder Oppositionspartei aus Afrika, Asien und Lateinamerika hat in London ein Büro, darunter viele aus dem Nahen Osten. Diverse islamistische Organisationen – etwa die ägyptische Gamaa Islamiya, die libanesische Hizbullah oder die palästinensische Hamas, die die Amerikaner als terroristisch einstufen – profitierten ebenso von den liberalen Gesetzen wie früher etwa der Afrikanische Nationalkongress (ANC) aus Südafrika.
Doch damit ist es jetzt vorbei. Im Februar diesen Jahres ist der so genannte Prevention of Terrorism Act (Gesetz zur Verhinderung von Terrorismus) in Kraft getreten, der der Regierung weit reichende Möglichkeiten im Kampf gegen wirkliche oder vermeintliche Terroristen an die Hand gibt. So können neuerdings Organisationen verboten werden, die Gewaltakte im Ausland verüben oder diese aushecken.
Wenngleich sich das Gesetz nicht ausdrücklich gegen Islamisten richtet, so wurde schnell deutlich, dass die englischen Sicherheitsbehörden es auf sie besonders abgesehen haben. 16 der 21 Organisationen, die bereits wenige Wochen nach Inkrafttreten des Gesetzes verboten wurden, stammen aus Nordafrika, dem Nahen Osten oder Südasien; 13 haben einen islamischen Hintergrund. Verboten wurden neben den oben genannten Gruppen auch drei, die für die Unabhängigkeit Kaschmirs kämpfen und Unterstützung unter britischen Muslimen genießen.
Scheich Omars al-Muhajiroun sind bislang verschont geblieben. Das könnte sich ändern, wenn sich herausstellen sollte, dass er tatsächlich britische Muslime nach Kaschmir in den Krieg gegen indische Regierungstruppen schickt. Das stört ihn aber nicht weiter, denn er lebt von der Provokation. Usama bin Laden nennt er einen Helden, auch für die Attentate auf die amerikanischen Botschaften in Ostafrika findet er eine Rechtfertigung. Beurteilt man ihn allein anhand der Zeitungsartikel, die über ihn erschienen sind, dann wirkt Scheich Omar sogar richtig Angst einflößend.
Umso erstaunlicher ist, wie leicht er für ein Interview zu gewinnen ist. Von Misstrauen und Geheimniskrämerei keine Spur. Offensichtlich kann es ihm gar nicht schnell genug gehen. »Können Sie in eineinhalb Stunden nach Tottenham Hale kommen?«, fragt er gleich beim ersten Telefonat, ohne zu wissen, wer ich bin und woher ich komme.
In Tottenham Hale im Norden Londons befindet sich das Büro der al-Muhajiroun in einem weitläufigen Gebäude mit dem Namen Lee Valley Techno Park. In der Broschüre, die im Eingangsbereich ausliegt, wird der Komplex als günstiger Standort für Hightech-Firmen angepriesen. Ausgerechnet hier soll sich das Büro einer Organisation befinden, die junge Briten nach Afghanistan schickt, um sie dort für den Heiligen Krieg trainieren zu lassen? Die Dame an der Rezeption hat noch nie von den al-Muhajiroun gehört, aber es gebe da eine Firma mit dem Namen Project 2000, die in Frage käme.
Ein halbe Stunde später taucht Scheich Omar auf, ein kleiner Mann mit Gehstock, dichtem Vollbart und einer Mütze auf dem Kopf, wie sie die Mudschahedin in Afghanistan tragen. Wahrlich ein Exot unter den Softwareexperten, die hier durch die Gänge eilen, aber das scheint niemand zu stören. Hat er wirklich eine Firma, die Software entwickelt? Scheich Omar ist sichtlich vergnügt: »Das ist doch bloß ein Deckname, wir nutzen das hier als Büro, hier stört uns niemand.«
In dem großen Raum sind die Jalousien heruntergelassen. Überall liegen Broschüren und Informationsheftchen über Kaschmir, Tschetschenien und Palästina herum. In der Ecke steht eine schwarze Flagge mit arabischer Aufschrift, die bei Demonstrationen zum Einsatz kommt. Scheich Omar nimmt sich viel Zeit, um zu erklären, worum es ihm geht.
Der Kern seiner Botschaft lautet: Der Westen hat die islamische Welt unterjocht, kolonialisiert und in den Staub gedrückt, aber jetzt folgt der Gegenschlag. Viel zu spät haben Europa und Amerika erkannt, dass sich in ihrer Mitte, in Form der muslimischen Migrantengemeinden, ein Protestpotenzial angesammelt hat, das nicht zur Ruhe zu bringen sein wird, ehe der Westen aufhört, Länder wie den Irak oder Afghanis-tan anzufeinden. Selbst wenn die Regierungen versuchen würden, mit Gewalt diesen Trend zu bekämpfen, würde das nichts nützen: »Es ist zu spät. Es gibt mittlerweile zu viele Muslime im Westen.«
So richtig ernst scheinen die englischen Sicherheitsbehörden die al-Muhajiroun und deren Führer dennoch nicht zu nehmen. Bereits während des Golfkriegs hatte er alle Muslime aufgefordert, den damaligen englischen Premierminister John Major zu töten, wenn der islamischen Boden beträte, weil er ein Feind des Islams sei. Einen ähnlichen Appell ließ er erst vor kurzem verlautbaren, diesmal auf Tony Blair gemünzt, weil der die fortwährende Bombardierung des Iraks unterstütze. »Ich sage doch nur, was im Koran steht«, rechtfertigt sich der Religionsgelehrte. »Es ist nicht meine persönliche Meinung. Im Koran steht, dass man die Feinde des Islam töten muss.«
In Deutschland würden derartige Drohungen vermutlich reichen, um Scheich Omar ins Gefängnis zu bringen. Mehr noch aber würde die Hetze der al-Muhajiorun gegen Israel, die bisweilen antisemitische Züge annimmt, die Aufmerksamkeit der deutschen Geheimdienste und Gerichte auf sich ziehen. Vor drei Jahren beispielsweise verschickte die Organisation an diverse Medien ein Pamphlet mit dem Titel »66 Fragen zum Holocaust«, in dem der Völkermord an den Juden bezweifelt wurde. Verfasser dieser Schrift waren amerikanische Neonazis.
Ihn als Antisemiten zu bezeichnen, findet Scheich Omar dennoch absurd. »Schauen Sie mich an«, sagt er, und nimmt mit großer Geste seine Kopfbedeckung ab. »Wenn ich in London so zu einem jüdischen Frisör gehe, bekomme ich häufig den Preis erlassen.« Tatsächlich entspricht er mit seinem langen Bart und der dicken Brille dem Bild eines orthodoxen Juden, wie es häufig in den Medien zu sehen ist. Seine Kritik am Zionismus, so Scheich Omar, habe nichts mit Hass auf Juden zu tun, sondern richte sich ausschließlich gegen Israel.
Scheich Omars theatralische Einlagen machen es nicht unbedingt leichter, ihn ernst zu nehmen. Dafür gibt es Momente, in denen er richtig sympathisch wirkt, weil er etwas besitzt, was bei moralisierenden Islamisten selten anzutreffen ist: Er hat Humor mit einem Schuss Selbstironie. »Wollen Sie mal hören, was ich in den letzten Tagen für Nachrichten bekommen habe?«, fragt er und kramt sein Mobiltelefon hervor. Beschimpfungen, Drohungen und Hasstiraden haben sich auf seinem Anrufbeantworter angesammelt. Die harmloseste ist noch die eines Mannes, der dem Scheich ankündigt, er werde ihn oral befriedigen offensichtlich in der Annahme, damit könne er die Gefühle des Muslims verletzen. Doch Scheich Omar zeigt sich ungerührt. »Das sind alles Pornoproduzenten«, sagt er eher amüsiert als geschockt.
Der zweite Islamistenführer in London, der durch sein permanentes Gerede von einer islamischen Weltrevolution die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen hat, ist der Ägypter Abu Hamza al-Masri, der in den siebziger Jahren nach England gekommen ist. Beide Unterarme sowie das linke Auge hat er, so behauptet er jedenfalls, bei einer Bombenexplosion im Afghanistankrieg verloren. Es gibt Fotos von Abu Hamza, auf denen er statt Prothesen Eisenhaken an seinen Armstümpfen trägt. Er hat einen massigen Körper, und bevor er sich dazu entschloss, einen gottgefälligen Lebenslauf einzuschlagen, soll er unter anderem Rausschmeißer in einer Diskothek im Londoner Vergnügungsviertel Soho gewesen sein.
Abu Hamza ist eine ähnlich schillernde Persönlichkeit wie Scheich Omar. Die von ihm gegründete Organisation Supporters of Sharia (SOS) ermutigt ihre Anhänger, den Sündenpfuhl des Westens zu verlassen und in das Islamische Emirat Afghanistan zu emigrieren. Auf der Website von SOS finden sich detaillierte Instruktionen, wie man sich auf diesen Schritt in ein völlig neues Leben vorbereiten kann. Gibt es Krankenhäuser in Afghanistan? Gibt es fließendes Wasser und Strom? Was kostet die Miete? Bekommen meine Töchter im Land der Taliban eine schulische Ausbildung? – und so weiter. Abu Hamza selbst sagt, sein Herz und seine Seele seien in Afghanistan, aber politische Umstände zwängen ihn dazu, in England zu bleiben.
Die Boulevardzeitungen lieben Leute wie Abu Hamza und Scheich Omar. Sie sind immer gut für eine Sensationsmeldung. Erst kürzlich kürte der Sunday Mercury, ein Revolverblatt aus Birmingham, Scheich Omar zum »gefährlichsten Mann Großbritanniens«, nachdem der seinen Todesgruß in Richtung Tony Blair geschickt hatte.
Martin Bright findet all das weniger amüsant. Seit Jahren verfolgt er als Korrespondent des Observer die islamistische Szene in London, und mittlerweile ist er besorgt um die Beziehungen zwischen Muslimen und den übrigen Einwohnern. Zwar sei England immer noch ein extrem tolerantes Land, aber die Dinge seien im Wandel begriffen. Und das schlimmste sei,
dass dieser Wandel unterschwellig und deswegen kaum bemerkt vonstatten gehe: »Langsam aber sicher werden wir dazu gebracht, an die amerikanische Idee eines Zusammenstoßes der Kulturen zwischen dem Islam und dem Westen zu glauben. Und daran, dass es diese Figuren gibt, die wirklich eine Art islamische Weltrevolution entfachen wollen. Es ist sehr einfach, jemanden zu finden, der diese Dinge sagt. Scheich Omar würde fast alles sagen, wenn er glaubte, dass ihm das Aufmerksamkeit brächte.«
Für Bright handelt es sich bei der islamischen Bedrohung eher um eine wahrgenommene als um eine wirkliche Gefahr. »Aber wenn sich die Wahrnehmung wandelt, dann muss man auch zeigen, dass es eine wirkliche Gefahr gibt. Ich glaube, Abu Hamza und Scheich Omar eignen sich sehr gut als Schreckgestalten für die britische Presse und insbesondere für das Innenministerium.« Den Befürwortern von verschärften Gesetzen kommen solche Provokateure also offenbar gerade recht. Denn in einer Atmosphäre von Angst ist es eben leichter, die Grundrechte mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit zu unterhöhlen.
Auch Fred Halliday, Professor für Internationale Beziehungen an der London School of Economics, hält die Warnung vor einer islamistischen Weltverschwörung für überzogen. Dass sich Muslime, die in England leben, für die Belange in ihren Heimatländern einsetzen, hält er für normal. »London ist gewissermaßen ein arabischer Staat«, sagt er. »Hier werden die wichtigsten arabische Zeitungen gedruckt, es gibt arabische Fernsehsender. Organisationen nutzen diese Möglichkeit, um sich Gehör zu verschaffen. Unter ihnen gibt es sicher auch einige Gruppen, die illegale Ziele verfolgen. Aber wenn sie Kritik an ihren Heimatländern üben, ist das kein Terrorismus.«
Dennoch führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass es in England ein Potenzial an muslimischen Jugendlichen gibt, die sich von dem Rest der Gesellschaft entfremdet haben. Sie sind die eigentlichen Opfer der »exzentrischen Islamisten«, wie Martin Bright sie nennt. »Leute wie Abu Hamza und Scheich Omar sind extrem charismatische Individuen, die einige Leute dazu gebracht haben, in sehr gefährliche Gegenden der Welt zu fahren, um dort den großen Dschihad auszuführen. Das ist das eigentliche Problem mit diesen Gruppen in England: Sie überzeugen leicht verführbare, oft unterprivilegierte junge Männer dazu, ihr Leben in Kriegen zu riskieren, die weit weg stattfinden. Die Islamisten, die aus dem Nahen Osten hier Zuflucht gefunden haben, würden das nie tun. Ihr Kampf geht um ihr Heimatland.«
Abu Hamza weist diesen Vorwurf zurück. Er gebe den Leuten nur Ratschläge, was sie zu tun hätten, die Entscheidung liege aber letztlich bei ihnen selbst. »Wenn ein Palästinenser zu mir kommt und sagt, ich möchte nach Palästina gehen, um mich dort gegen diese Zionisten in die Luft zu sprengen, was sage ich ihm dann? Im Namen Gottes, geh! Jetzt ist die geeignete Zeit. Wenn du dich nicht jetzt für deine Religion opferst, wann dann?«
Der im vergangenen September wieder aufgeflammte Nahostkonflikt ist auch an der muslimischen Gemeinde in England nicht spurlos vorüber gegangen, wenngleich die meisten britischen Muslime pakistanischer Herkunft sind. Scheich Omar behauptet jedenfalls, dass seit dem Ausbruch des neuerlichen Aufstands in den Palästinenser-Gebieten die al-Muhajiroun merklich Zulauf bekommen haben. Kriege und Konflikte, da macht er keinen Hehl draus, sind für ihn ein besonders guter Nährboden, um neue Anhänger zu werben. Und so bemüht er sich nach Kräften, die Kämpfe in Palästina, Tschetschenien und Kaschmir allesamt in einen Topf zu werfen. Letztlich gehe es hier wie dort, so der Kern seiner Predigten, um das nackte Überleben der islamischen Welt. Das einzige Rezept sei, die Reihen der Muslime zu schließen und zu kämpfen.
Dass sich manch junger Mann für die Idee begeistern lässt, den Heldentod in einem Krieg zu sterben, in dem angeblich die Existenz seiner Gemeinschaft auf dem Spiel steht, ist vielleicht gar nicht so verwunderlich. Früher, so vermutet jedenfalls Martin Bright, hätte der Drang nach Abenteuern und Revolutionen diese Menschen in die Arme linksextremer Organisationen getrieben, die die Welt durch Klassenkampf verbessern wollten. Die politischen Vorzeichen seien heute aber eben andere.
Wie viele britische Staatsbürger sich bislang in militärischen Trainingslagern für den Dschihad haben ausbilden lassen, ist unklar. Bright vermutet die Zahl eher in den Dutzenden als den Hunderten. Scheich Omar behauptet, es seien jährlich etwa 2000, von denen sich jeder Fünfte den Guerillas in Kaschmir anschließe. Gerne ist er bereit, ein Interview mit einigen »Brüdern« zu arrangieren, die demnächst nach Afghanistan zur militärischen Ausbildung reisen werden.
Treffpunkt ist wieder der Lee Valley Techno Park in Tottenham Hale. Am Tisch sitzen zwei junge Männer, beide um Mitte zwanzig. Beide haben pakistanische Vorfahren. Der eine trägt eine braune Lederjacke, der andere ein schwarzes Jacket. Die Gesichter bleiben hinter Tüchern verborgen, die künftigen Kämpfer wollen unerkannt bleiben. »Sie haben keine Kamera?«, fragt Scheich Omar verwundert und enttäuscht. »Sind Sie überhaupt Journalist?« Wenige Tage später tritt einer der jungen Männer – sein Nomme de Guerre ist Abu Yahya – bei einer öffentlichen Veranstaltung als Redner auf – ohne Gesichtsverhüllung. Er ist kurz und kräftig, hat ein rundes Gesicht und einen dünnen Bart. Wenn sich die Polizei ein Bild von den britischen Mudschaheddin machen wollte, bräuchte sie also nur diese Veranstaltungen zu besuchen.
Ohne Zweifel aber meinen es die beiden ernst. Abu Yahya war bereits zu einem dreimonatigen Training in Afghanistan und fährt nun ein zweites Mal hin, für seinen Gesinnungsgenossen Abu Qais ist es eine Premiere. Nach einer kurzen Aufwärmphase, in der der Tonfall noch gedämpft ist, legen beide los. Wie aus einem Kessel, der überschüssigen Dampf ablassen muss, sprudelt es aus Abu Yahya heraus. Überall auf der Welt, wo muslimisches Land besetzt sei, werden sie kämpfen – selbst wenn nur noch ein Muslim übrig sei: »Wir werden weiter kämpfen, bis das Blut der Besatzer auf dem Land vergossen ist, bis die Straßen von Tschetschenien voll mit russischem Blut, bis die Straßen Palästinas voll mit jüdischem Blut und bis die Straßen von Kaschmir voll mit dem Blut von Hindus sind. Das ist, was wir von den Besatzern verlangen: Haltet euch von muslimischem Land fern. Wenn ihr das nicht tut – bei Gott, dann werden wir kämpfen, bis der Letzte von euch tot ist.«
Es ist viel die Rede von Krieg, von Blutvergießen und davon, den Feind zu besiegen. Eigentlich aber geht es, den Eindruck gewinnt man zumindest beim zweiten Hinhören, um etwas ganz Anderes: um Respekt. Der Westen solle ja nicht denken, dass die Muslime schwach sind, betonen die jungen Männer mehrfach. Er solle ja nicht denken, dass sie nur ihren Impulsen folgten. Nein, ihre Ideologie basiere auf intellektuellen Wurzeln, sie hätten sich bewusst für ihren Lebensstil entschieden und nicht aus einer Schwäche heraus.
Ihre genauen familiären Hintergründe möchten weder Abu Yahya noch Abu Qais erzählen. Sie kämen aber nicht aus sozial schwachen Familien. Beide haben studiert und können es rhetorisch mit jedem Akademiker aufnehmen. Beruflich sind sie im Handel tätig, wie sie sagen. Die These, dass vor allem unterprivilegierte Kinder von Migranten für radikale Ideologien wie den Islamismus anfällig sind, scheint sich hier also nicht zu bestätigen.
Aber woher kommt dann dieser Fanatismus? Ist die Gesellschaft schuld, weil sie es nicht geschafft hat, die Migranten voll zu integrieren? Oder liegt es an den Migranten selbst, weil sie sich gar nicht integrieren wollen und sich dadurch der Möglichkeit berauben, auf das gleiche Niveau wie der Rest der Gesellschaft zu kommen? Brian Whittaker, Nahostredakteur der Tageszeitung Guardian, findet die Frage nach Schuld unangebracht. »I think it just happens«, sagt er knochentrocken: Es passiere eben einfach, dass sich die zweite oder dritte Generation von Einwanderern auf die Suche nach ihren Wurzeln begibt und manche sich im Zuge dessen von der Mehrheitsgesellschaft abwenden. Damit müsse man leben lernen, meint Whittaker mit einer Gelassenheit, die es so wohl nur in einem Land geben kann, das über eine lange Erfahrung mit Einwanderern aus der gesamten Welt verfügt.
Ob aber das neue Terrorismusgesetz zu einer Verbesserung des Klimas zwischen Muslimen und anderen Engländern beitragen wird, ist mehr als fraglich. Vor allem die Vertreter der arabischen Gemeinde fürchten, dass auch andere als islamistische Organisationen mit dem neuen Gesetz eingeschüchtert werden sollen. Mit Recht weisen sie darauf hin, dass sich keine der verbotenen Organisationen in England eine Straftat hat zuschulde kommen lassen. Was die britischen Behörden als Terrorismus definierten – etwa die militärischen Operationen von Hamas und Hizbullah in ihren Heimatländern –, sehen viele Araber als legitimen Widerstand gegen eine völkerrechtswidrige Besatzung. »In den Augen des Westens sind wir alle Fanatiker und Terroristen, egal wie gerechtfertigt unser Anliegen auch sein mag«, schrieb Ghada Karmi, die Vorsitzende der Palästinensischen Gemeinde in Großbritannien, als Reaktion auf das neue Gesetz in der Zeitschrift Middle East International. »Die neue britische Antiterror- Gesetzgebung muss als Teil der westlichen Kampagne gegen uns alle gesehen werden.«
aus: der überblick 02/2001, Seite 17
AUTOR(EN):
Albrecht Metzger :
Albrecht Metzger ist freier Journalist und Nahost-Experte in Hamburg. Er ist Autor des Buches "Der Himmel ist für Gott, der Staat für uns. Islamismus zwischen Gewalt und Demokratie", Göttingen 2000.