Der Chronist schwingt das Florett der Selbstironie
Der Schriftsteller Luis Fernando Verissimo veröffentlicht seit Jahren Zeitungskolumnen zum aktuellen Tagesgeschehen in Brasilien und der Welt. Diese zum Teil sehr bissigen Crônicas sind bei einer breiten Öffentlichkeit sehr beliebt und erscheinen regelmäßig auch in Buchformat. Verissimo versteht es, dabei besonders die aktuelle Politik, aber auch die Ereignisse des brasilianischen Alltags liebevoll und voller Humor und stets mit ein bisschen Kritik aufzuzeichnen.
von Anja-Rosa Thöming
Söhne berühmter Väter haben es oft schwer, sich gegenüber den Erwartungen ringsherum zu behaupten, vor allem, wenn sie den gleichen Weg einschlagen. Dem brasilianischen Schriftsteller Luis Fernando Verissimo, Sohn des in seiner Heimat bekannten Romanciers Erico Verissimo, ist dieses Lebensexperiment geglückt: Luis Fernando ist einer der am meisten gelesenen Autoren Brasiliens. Seine Crônicas erscheinen wöchentlich in großen Zeitungen und gelangen als Buchausgabe regelmäßig an die Spitze der Bestsellerlisten. Sie zeichnen sich aus durch Aktualität, Kürze und Ironie. Seine treffenden Kommentare zu Politik, Fußball, Liebe und Essen - also den kleinen und großen Dingen unseres Lebens - sprechen viele Leser an, vielleicht gerade, weil hinter der komischen Welt, die Verissimo skizziert, mitunter etwas Tragisches durchscheint.
Anders als sein Vater Erico, der mit seinem Epos “Die Zeit und der Wind” als Chronist einer vergangenen Epoche auftrat, ist der 1936 in Porto Alegre geborene Luis Fernando ein Chronist der brasilianischen Gegenwart. Während der Amtszeit des vorigen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso kleidete Verissimo seine spitzen Kommentare zur brasilianischen Politik gern in naive Briefe an “Dona Ruth”, die Ehefrau Cardosos. Indem er ihr sein Herz ausschüttete, prangerte er gleichzeitig die Politik ihres Mannes an. Mitunter schlägt Verissimo auch den Bogen nach Nordamerika und Europa, wie seine Crônica über die Außenwahrnehmung des ersten “proletarischen” Präsidenten Lula zeigt.
Lula ist ein Phänomen. Die europäische Linke gefällt sich darin, sich ihn als einen populären Führer vorzustellen, der die Auferstehung Lateinamerikas, oder anders gesagt, die Revolution von América Latrina einleiten wird. Ein Held, der genügend weit weg ist, so dass kein störendes Detail seine revolutionäre Aura verdunkele. Was man etwa in Frankreich und Italien über Lula sagt, berührt selten die Themen Wirtschaftspolitik und Privilegien des Finanzkapitals, die von Lulas Regierung hochgehalten werden. Seine Persönlichkeit, seine Biographie und sein Versprechen zählen noch immer mehr als dessen Erfüllung, die aus europäischer Sicht zu einem weit entfernten und daher irrelevanten Alltag gehört.
Die Amerikaner aber finden Gefallen an seinem Handeln, das in Widerspruch zu seinen Zusagen steht. Lula an der Macht - das ist nichts, was sie fürchten. Die europäische Linke, uneins mit einer örtlichen Mehrheit, die es weiterhin mit der Rechten - und sei es in ihrer Berlusconi-Abart - hält, sucht wie immer Erleichterung in den politischen Einfachheiten der armen Welt, wo die Ungerechtigkeiten des Lebens klarer zu erkennen und die Helden pittoresker sind. Für sie ist Lula die politische Neuheit und der Trost des Augenblicks. Für die Amerikaner ist Lula ein nützliches Beispiel der vernünftigen Linken, die endlich anerkennt, dass es keine Alternative gibt zu der Realität, wie sie in Washington gesehen wird. Die eine Welt wird vom theoretischen Lula verzaubert, während die andere sich vom Lula der Praxis betören lässt. Es wäre noch nicht einmal bissig zu sagen, dass Lula selbst hierin den vorherigen Präsidenten imitiert, im Ausland das zu kritisieren, was er im Inland tut.
Lula ist immer er selbst, was sich ändert, ist die Wahrnehmung der anderen. Auf der Suche nach Themen, die sie einander nahe bringen könnten, hätten Lula und Bush bei ihrem Treffen herausfinden können, dass die Invasion in den Irak und die siegreiche Wahl der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) etwas gemeinsam haben. In dem einen Fall wurden die Massenvernichtungswaffen, die eine Bedrohung für das Leben auf dem Planeten waren und der Grund für Bush, den Krieg zu beginnen, nicht gefunden. Im anderen Fall wurden die wirtschaftspolitischen Mittel, die eine Bedrohung für das Leben in Brasilien waren und der Grund, weshalb die PT gewählt wurde, gefunden - aber anstatt sie zu zerstören, wurden sie angewendet. Warten wir das nächste Treffen ab.
Estado de S. Paulo, 26. Juni 2003
Dass die neue Zeit unter Lula auch in alte Köpfe noch nicht so recht eingedrungen ist, karikiert Verissimo in einer anderen Crônica. In dieser spiegelt sich ein bis in die Gegenwart aktuelles Phänomen der brasilianischen Gesellschaft wieder: die empregada, die Hausangestellte. Sie bekommt einen sehr niedrigen Lohn und putzt und kocht ansonsten gegen Kost und Logis, eventuell auch mit für eines ihrer Kinder. Das Zusammenleben mit der “Herrschaft” ist zum Teil sehr familiär, zum Teil auch rigide in zwei Klassen getrennt - nach sozialem Stand und/oder der Hautfarbe.
Dona Aurora musste vorbereitet werden, damit das Abendessen kein Desaster würde. Die alte Matriarchin dominierte noch immer die Tafel der Familie. Ein falsches Wort von ihr könnte alles zerstören. Und von diesem Abendessen hing das Glück der Familie ab. Sueli, die älteste Tochter, wurde damit beauftragt, das Gemüt von Dona Aurora darauf einzustellen:
Mama, erinnern Sie sich an Jurema? Die Tochter von Laurentina?
Natürlich. Sie ist ja hier im Haus aufgewachsen.
Sie kommt heute zu uns zu Besuch.
Schick sie zu mir, damit ich sie segne.
Sie kommt hierher zum Abendessen, Mama.
Sehr schön. An Essen hat es in diesem Hause nie gefehlt.
Sie und ihr Mann. Erinnern Sie sich an Odilon? Sie hatten damals etwas gegen ihn und nannten ihn ‘Kleiner Dunkler’.
Das war nicht wegen der Hautfarbe. Ich habe nichts gegen Schwarze. Aber ich dachte immer, dass Jurema etwas Besseres hätte finden können. Sie war nicht hässlich, hat hier bei ihrer Mutter kochen gelernt, ich selbst habe ihr das Sticken beigebracht... Sie hätte etwas besseres finden können. Einen Händler, einen Büroangestellten... Aber nein. Sie wollte Odilon. Einen Arbeiter. Und dann auch noch dunkel.
Er ist heute in einem Ministerium, Mama.
Ministerium? In der Kirche?
In der Regierung. Seine Stellung ist dicht unter dem Minister. Etwas Wichtiges. Erinnern Sie sich nicht, dass er mit der Arbeiterpartei sympathisierte?
Ich wusste, das da noch etwas war, das mir nicht passte...
Er hat in der Politik Karriere gemacht und arbeitet heute in der Regierung. Die beiden sind in der Stadt und laden uns ein, hier mit uns zu Abend zu essen.
Hier? Heute?
Ja. Er könnte uns in Brasília helfen. Er erinnert sich bestimmt daran, wie wir Jurema bei der Hochzeit geholfen haben.
Wir haben wirklich geholfen. Ich selbst habe einen Hunderter gegeben. Waren das Cruzeiros oder Reais? Ich weiß nicht mehr.
Wichtig ist, Mama, wie wir uns verhalten. Ich weiß, was Sie von den neuen Zeiten halten, aber wir müssen akzeptieren, dass die Dinge sich geändert haben. Manche Dinge verlieren den Sinn und wir müssen uns anpassen. Auch weil es in unserem Interesse ist. Können wir mit Ihrem Verständnis rechnen?
Meine liebe Tochter, ich hatte niemals Vorurteile! War dieses Haus nicht immer offen für alle? Haben wir jemals irgend jemandem Essen vorenthalten? Hat nicht die Familie von Laurentina hier gelebt und gegessen? Ich weiß, dass die Zeiten sich geändert haben. Ich weiß bloß nicht, ob …
Was, Mama?
… ob es dem Odilon etwas ausmachen wird, in der Küche zu essen.
Estado de S. Paulo, 5. Oktober 2003
So politisch Verissimo in dieser Crônica auftritt, so begeistert kann er in einer anderen für einen süßen Nachtisch schwärmen oder zartsinnig eine Liebesszene skizzieren. Wobei die Folgen immer gleich mit gedacht werden - sei es Fettleibigkeit, sei es das möglicherweise tragische Ende nach dem Rendezvous. Anders als in seinen Politsatiren hegt Verissimo mit den Opfern der alltäglichen Komödien und Tragödien Mitleid und Sympathie. Ein Beispiel hierfür ist der Roman Gula - O Clube dos Anjos, der 2001 in Deutschland unter dem Titel “Club der Engel” erschienen ist. Auf knapp 180 Seiten - Verissimo fasst sich auch in diesem Genre kurz - wird der allmähliche Niedergang einer Stammtisch-Clique geschildert. Das anfänglich herzliche Miteinander bei Bier, Reis und Bohnen weicht einem Jour fixe, der sich kulthaft und bald ausschließlich um ausgeklügelt zubereitetes Essen - Canard à l’orange! - dreht. Genauso nachsichtig und ironisch wie mit diesem geht Verissimo mit allen anderen Lastern um, denen seine unglücklichen Helden anhängen. Die Moral von der Geschichte: Sehenden Auges fressen wir uns in unser eigenes Verderben hinein, da die Genuss-Sucht - verständlicherweise - stärker ist als jede Vernunft.
Verissimos jüngster Roman, 2003 als “Vogelsteins Verwirrung” in deutscher Sprache erschienen, verfolgt eine gänzlich andere Thematik: Literatur, ihre Spekulationen, verborgenen Rätsel und Anspielungen, in eine Kriminalsatire gekleidet. Borges e os orangotangos eternos entstand auf eine Anregung des Verlags Companhia das Letras, einen großen Dichter der Weltliteratur zum Gegenstand eines Romans zu machen. Mit Vogelstein, dem Ich-Erzähler aus Porto Alegre, besuchen wir den blinden Jorge Luis Borges in seiner berühmten Bibliothek in Buenos Aires. Dort versucht Borges, fasziniert von allem Spekulativen, Zeichenhaften, im Kreise seiner Bewunderer den Mord an einem deutschen Literaturwissenschaftler und Poe-Forscher namens Rotkopf aufzuklären. Das Hotelzimmer, in dem der Mord passierte, war von innen verriegelt wie in Poes Erzählung “Die Morde in der Rue Morgue”, auf die auch der Orang-Utan im Titel des Romans anspielt. Der Tote liegt in einer geometrischen Form vor einem Spiegel, was Borges zu Spekulationen über Geheimschriften veranlasst. Außerdem war Rotkopf im zweiten Weltkrieg Kryptograph gewesen, er könnte also - so mutmaßen Vogelstein und Borges - mit seiner Körperposition selbst einen Hinweis auf seinen Mörder gegeben haben.
Wenngleich er den Tick, Wissenschaft mit Spekulation, Literatur mit geheimen Botschaften zu verbinden, ironisch kommentiert, hat auch Verissimo an diesem Spiel Gefallen gefunden, so dass die Dialoge mitunter an den Schlagabtausch zwischen Vernunft und apokalyptischem Sehertum in Umberto Ecos “Der Name der Rose” erinnern. Am dichtesten ist vielleicht das überraschende Schlusskapitel, in dem Jorge Luis Borges - bisher fiktive Figur - den Roman zu Ende schreibt, und der Leser sich eingestehen muss, auf Vogelstein als einen “unzuverlässigen Erzähler” hereingefallen zu sein.
Ein wenig porträtiert sich Verissimo selbst in der skurrilen Figur Vogelstein. Auch er lebt im südbrasilianischen Porto Alegre und ist wie sein Protagonist immer etwas nachlässig gekleidet. Vielleicht wäre auch Verissimo wie Vogelstein nur ein “armer Übersetzer und Englischlehrer” geworden - in Brasilien sind Englischlehrer arm -, hätte er nicht mit 33 Jahren doch noch den Zugang zum Schreiben gefunden: “Nicht ich stolperte über die Crônica, die Crônica stolperte über mich.” Und: “Nichts, was ich machte, bevor ich mit dem Schreiben begann, hat richtig geklappt. Vielleicht war die Berufung die ganze Zeit da und wartete nur auf den richtigen Moment.”
Die Vorliebe fürs Englisch-Amerikanische aber - daher auch die feste Größe Edgar Allan Poe in dem Borges-Roman - hängt mit Verissimos Kindheit und Jugend zusammen: Als Universitätslehrer und als Repräsentant der panamerikanischen Union zieht der Vater Erico 1943 mit der Familie in die USA. Luis Fernando besucht in San Francisco und Washington die Schule und fährt häufig nach New York, wo er 1955/56 dem Jazz anheimfällt. Verständnisschwierigkeiten zwischen Menschen aus Brasilien und Menschen in den USA oder Europa sind folglich ein beliebtes Thema von Verissimo.
Die folgende (hier leicht gekürzte) Crônica erschien am 15. September 1995 im Jornal do Brasil. In ihr werden drei Persönlichkeiten erwähnt: Carmen Miranda, eine Sängerin und Schauspielerin, die mit “exotischen” brasilianischen Schlagern in den vierziger und fünfziger Jahren besonders in den USA berühmt wurde, der Staatspräsident Fernando Collor de Mello, der 1992 wegen Korruptionsvorwürfen in einem Impeachmentverfahren zum Rücktritt gezwungen wurde, und Fernando Henrique Cardoso, Staatspräsident von 1995 bis 2003 (aus der üblichen Abkürzung FHC macht Verissimo jedoch den lautschriftlich verballhornenden Namen Éfe Aga):
Wer ins Ausland reist, ärgert sich oft darüber, dass Brasilien in den Nachrichten der Welt keinerlei Erwähnung findet. Es tröstet nicht, zu wissen, dass jeder denselben Ärger hat, und dass niemand sich damit abfindet, dass sein Land für die anderen nicht so wichtig ist wie für ihn selbst. Ich stelle mir einen Amerikaner vor, der heute nach Brasilien kommt und in den Fernseh- und Zeitungsnachrichten etwas über den Simpson-Prozess sucht, der seit Monaten die Aufmerksamkeit und alle Unterhaltungen in den Vereinigten Staaten beherrscht. Er wird zu dem Schluss kommen, dass unsere Presse nicht die mindeste Notiz von der relativen Wichtigkeit der Dinge nimmt.
Alle Medien der Welt sind mehr oder weniger dem eigenen Territorium verpflichtet. Unnötig zu sagen, dass, je größer der Ort, desto größer sein Bauchnabel und die Fixierung der Presse auf ihn. Die Indifferenz der ersten Welt ist eine Herausforderung für die Länder, die um Wahrnehmung kämpfen. Schlimmer als die Ignoranz ist das Klischee, dass sich nur von Generation zu Generation ändert. Im Fall Brasiliens, aus amerikanischer Sicht gesehen, hat sich das Klischee nicht geändert, sondern ausgeweitet: Der Früchtekorb auf dem Kopf der Carmen Miranda wurde ein Wald und die Waldbrände ersetzten den Papagei. Ein brasilianischer Schriftsteller in Europa weiß, dass er sich nicht auf ein Gespräch über Literatur vorzubereiten braucht, sondern über Indios und Umweltverschmutzung. So gesehen sind die Reisen von Éfe Aga nicht zu kritisieren. Mit seinem guten Auftreten und seiner intelligenten und eloquenten Ausdrucksweise nimmt er uns eine alte Sorge: jemanden zu haben, der uns bei Festen und im Ausland repräsentiert. Éfe Aga hat gegenüber Collor den Vorteil, dass er ein humanes Bild abgibt. Sieh einer an, heute verkünde ich Lob.
Aber die Klischees haben auch ihren Wert insofern, als sie uns nötigen, uns selbst in diesem reduzierten beziehungsweise reduktionistischen Fokus zu sehen. Sicherlich waren wir niemals nur das, was der Kopf von Carmen Miranda darstellte, aber wenn man nur über Menschenrechte und Sozialindizes in den Tropen spricht wie Éfe Aga, spricht man über das Wesentliche. Und was sollen wir über Literatur sprechen, da wir doch aus einem Land kommen, das sich jeden Tag selbst umbringt?
Jornal do Brasil, 15. September 1995
Eine ungewöhnlich ernste Crônica Verissimos ist “New York und ich” überschrieben. Wie in einem Brief an Freunde erzählt er von seinen vielen Besuchen in der geliebten Stadt - auch am 11. September 2001: “Noch im Bett liegend las ich die New York Times, und Lúcia kam gerade aus dem Bad. Das Telefon klingelte. Es war meine Schwester: ‘Stellt den Fernseher an’, sagte sie. Ich schaltete ein in dem Moment, als das zweite Flugzeug sich dem Südturm näherte.”
Vielleicht gerade aufgrund der früh gelegten Verbindung hat Verissimo einen besonders kritischen, wissend prüfenden Blick auf die USA. Dies unterscheidet ihn von vielen seiner Landsleute, die entweder jeder nordamerikanischen Mode hinterherlaufen, oder aber ihre festgefahrene Abneigung gegen den “großen Bruder” aus dem Norden pflegen.
Die folgende Crônica - bereits am 17.9. 1997 im Jornal do Brasil veröffentlicht - steht wohl für sich selbst. Verissimo spricht von der “Notwendigkeit immer größerer Katastrophen”, und man fragt sich ob er die vom 11. 9. 2001 voraussehen konnte. Er attackiert darin die amerikanische Privatbewaffnung , wie es unlängst auch im Film Bowling for Columbine von Michael Moore zu sehen war.
Wir waren in einem Kino in den USA. Vor uns setzte sich ein riesiger Amerikaner, offenbar entschlossen, während des Films keinen Hunger zu leiden. Von der Bar brachte er einen Eimer - es war tatsächlich ein Eimer - voll Popcorn mit, über den sie eine gelbe Flüssigkeit gießen, die auch Butter sein könnte, und ein Paket M&M, mit Schokolade übergossene Pastillen. Er genehmigte sich Popcorn, Schoko-Pastillen und Schlucke seiner small Coke, die gigantisch war, und schien glücklich. Ich dachte darüber nach, wie in jener Gesellschaft alles dafür gemacht ist, um kindliche Gelüste zu befriedigen, simple, aber gefräßige Bedürfnisse. Unsere Sessel waren fantastisch, die Filmvorführung perfekt, der Film selbst ein unfehlbares Beispiel von technischem Erfindungsgeist und gefälligem Blödsinn. Diese Kompetenz ist das beste Nebenprodukt amerikanischer Gefräßigkeit durch einfaches Vergnügen. Was die Vereinigten Staaten so attraktiv macht, ist eben genau die Gelegenheit, infantil sein zu können, ohne mental debil zu erscheinen. Oder die Realisierung all unserer Kindheitsträume in Reichweite zu haben, als noch niemand kritische Gedanken oder ein schlechtes Gewissen hatte.
Aber der dominante Infantilismus hat seine erschreckende Seite. Kein Polizei- oder Krankenwagen der Welt ist so laut wie die amerikanischen. In einer Gesellschaft mit teurem Spielzeug - je mehr Lichter und Sirenen, desto toller -, scheint der Lärm auch eine Notwendigkeit nach immer größeren Katastrophen zu erzeugen. Der natürliche Weg des ungehemmten Appetits führt über den Popcorntopf und über die mega Coke zum Gemetzel. Gibt es eine verführerischere Erfüllung kindlicher Wünsche als in ein Geschäft zu gehen und nicht ein Spielzeug zu kaufen, das einer echten Waffe gleicht, sondern die Waffe selbst? In den Vereinigten Staaten kann man das. Manchmal rennt eines dieser großen Kinder los und bringt alle um, wie im Kino, aber die Mehrheit derer, die Waffen und Munition kaufen, will sie bloß als Spielzeug zu Hause haben.
Wir leben an der Schwelle dieser unschuldigen und zugleich schrecklichen Gefräßigkeit, aber sie taucht nicht in unseren ökonomischen Gleichungen oder beim Abschätzen unserer Interessen auf. Wir sind immer wieder fasziniert und immer kritikloser gegenüber dem großen amerikanischen Appetit. Kritiklos auch gegenüber dem Projekt eines wie eh und je hegemonialen und unreifen Chauvinismus, zur Zeit kaschiert von den Legenden der “Globalisierung”. Die Vorsicht lehrt uns, die Amerikaner aus der Sicht des Popcorns zu betrachten.
Jornal do Brasil, 17. September 1997
Eine der größten Gaben Verissimos, der auch als Saxophonspieler dilettiert und sich selbst als verhinderten Zeichner beschreibt, ist die Selbstironie. Es geht ihm dabei nicht um den Privatmann Verissimo - den hält er für unattraktiv: ein muffeliger, schweigsamer Familienmensch. Sondern er setzt die Selbstironie in verschiedenen Rollen ein, die er alle überzeugend verkörpert: den Fußballfan, das Schlemmermaul, den Brasilianer an sich.
National bekannt wurde er durch die Geschichten von Ed Mort, einem Privatdetektiv, der, wenn er gerade einmal wieder keinen Fall bearbeitet, den Kakerlaken unter seinem Schreibtisch zusieht. Ed Mort ist wie eine unterentwickelte Version eines US-amerikanischen Detektivs - der selbstironische Blick Verissimos auf sein teilweise immer noch unterentwickeltes Heimatland. Laut gesprochen klingt der Name des glücklosen Detektivs wie É de morte! - das ist das Letzte! -, das Tüpfelchen auf dem i der Satire.
Aber auch kleine Spitzen auf sein Land und seine Landsleute, hingetüpfelt wie ein Gedicht, passen zu dem Spektrum seiner Veröffentlichungen:
Delivery
für die Lieferung des Pizzaboten
ist eine Übertreibung.
Sagt jemand was dagegen?
Ein Volk, das sich
seiner eigenen Sprache schämt
ist schon geliefert.
Estado de S. Paulo, 5. Oktober 2003
die nicht erfüllt werden.
Es gibt so viel zu tun,
und nichts bewegt sich...
Was soll man von einem Land erwarten,
in dem die Acht-Uhr-Novela
um neun beginnt?
Estado de S. Paulo, 5. Oktober 2003
Am 13.9.1997 veröffentlichte Verissimo im Jornal do Brasil seine Crônica über die Autoalarmanlage als typischem Klang der neunziger Jahre. Von den kleinen Mittelklassewagen bis zur Limousine ist in brasilianischen Städten jedes Auto - bis auf den alten, treuen VW-Käfer - mit einer elektronischen Sirene ausgestattet, die beim Türöffnen und -schließen vor allem morgens und abends, aber auch mitten in der Nacht, zur akustischen Kulisse gehört und mühelos durch die einfachen Wände und Fenster der Häuser dringt. Besonders perfide ist die Vielfalt der “Klänge”: Die Eigentümer wählen eine Alarmtonfolge aus, schrecken nachts in ihrem Hochhaus-Bett hoch und überlegen fieberhaft: Könnte es mein Auto sein, das da unten “schreit”?
Jede Epoche hat ihre Begleitmusik. Nicht unbedingt Musik im eigentlichen Sinn, sondern charakteristische Geräusche, Töne, die eine Zeitspanne identifizieren. Ich fürchte, dass wir uns an die neunziger Jahre als an jene Zeit erinnern werden, in der wir in Begleitung von Autoalarmanlagen lebten.
Der Alarm ist der Schrei unseres Besitzes, den uns jemand wegzunehmen versucht. Es ist das verzweifeltste Wort, das ein menschliches Wesen hervorbringen kann - “Hilfe!” - in seiner mechanisierten Form und in vervielfachter Lautstärke. Dieser Hilferuf ist eine Erweiterung des Vokabulars der Dinge, wie die Hupe, die Klingel, das Fahrstuhlsignal und all die “Pings” des Computers. Es ist ein typischer Klang, weil er mit der typischen Sorge jener Epoche verknüpft ist, der Sorge um Sicherheit. Die Autos rufen um Hilfe, weil ihre natürliche Verteidigung - Polizei in der Nähe, gute Schlösser oder der Respekt der Menschen für den Besitz der anderen - nicht mehr funktioniert. So bleibt ihnen nur zu schreien.
Auch wegen seines einschüchternden Charakters ist es das Geräusch der Epoche. Seine Hauptfunktion ist, zu erschrecken und jede andere Ablenkung durch einfachen Lärmterror zu ersetzen. Der Klang der Epoche, in der die Dezibels die Vernunft ersetzen. Das Gehör ist von allen Sinnesorganen am schwersten zu schützen, daher wurde es von der heutigen Rohheit dazu erwählt, unser Gehirn anzugreifen und unsere Verdummung zu beschleunigen. Es sind wirklich Zeiten des Lärms.
Schließlich ist die Autoalarmanlage typisch für jene Zeit, weil sie meistens nicht funktioniert. Oder sie funktioniert, wenn sie es nicht soll. Man hört ständig so viele Sirenen, weil sie - möglicherweise beeinflusst von der allgemeinen Paranoia - alleingelassen werden. Es genügt, dass sich jemand dem Auto mit einem verdächtigen Gesicht nähert, und sie fangen an zu gellen. Ganz zu schweigen von den Eigentümern, die vergessen, wie man den Alarm ausstellt, und sich genötigt fühlen das Gesicht aufzusetzen “Ich bin kein Dieb, sondern unschuldig”, bis das Auto sich beruhigt hat.
Jornal do Brasil, 13. September 1997
Von Verissimos Geschichten, Romanen und Crônicas geht vermutlich auch deshalb eine so große Attraktivität aus, weil ihm die Arroganz der Intellektualität fehlt. Sein Interesse für die skandalösen sozialen Zustände in Brasilien ist echt, und natürlich nimmt auch Verissimo am Weltsozialforum in Porto Alegre teil. Überhaupt Porto Alegre: Luis Fernando Verissimo ist ein anhängliches Kind seiner Heimat Rio Grande do Sul. Vier Jahre lang hat er, der Gaúcho, versucht, in Rio de Janeiro zu leben - hier hat er immerhin seine Frau Lúcia kennengelernt -, “aber das Leben dort wollte nichts von mir. In Porto Alegre habe ich das Gefühl, etwas Solides unter den Füßen zu haben.” Auch hierin steckt die Selbstironie desjenigen, der zugibt, ein solides, das heißt altmodisches und provinzielles Privatleben zu führen. Und doch: Gibt es eine schönere, eine ehrlichere Liebeserklärung eines Schriftstellers an seine Stadt?
Alle Übersetzungen von Anja-Rosa Thöming.
Literatur
Die mit Titelfotos gezeigten Bücher sind im Verlag Objetiva, Rio de Janeiro erschienen.
Auf Deutsch erschienen:
Vogelsteins Verwirrung, Droemer Knaur 2003
Der Club der Engel, Droemer Knaur 2002
aus: der überblick 01/2004, Seite 123
AUTOR(EN):
Anja-Rosa Thöming:
Anja-Rosa Thöming ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Musik, Kultur und Leben. 2000/01 hat sie in Porto Alegre gelebt und für deutsche Tageszeitungen aus Brasilien berichtet.