In Indiens Musterstaat Kerala herrscht unter traditionellen Volksstämmen bittere Armut
Kerala gehört zu den attraktivsten Reisezielen der Welt. Wunderschöne Broschüren zeigen exotische Volksstämme, prächtige Lagunen und fantastisches Kunsthandwerk. Auch in der entwicklungspolitischen Diskussion wird von Kerala gern ein schönes Bild gemalt; es gilt wegen guter Sozialindikatoren als Musterfall von Entwicklung. Doch der schöne Schein trügt auch hier.
von Lalita Panicker
Hunger in Kerala? Sicher übertreiben Sie. Das ist die normale Reaktion, wenn Sie anderen Leuten erzählen, dass der Hungertod im südindischen Kerala heute Alltag ist. Allerdings mit dem Unterschied, dass niemand, nicht einmal diejenigen, die darunter leiden, dies zugeben wollen; die Regierung aus offensichtlichen Gründen, und die Angehörigen der Opfer, weil dies ihren sozialen Abstieg bedeuten würde.
Während der Wahlen zur Nationalversammlung im Mai 2001 bin ich durch diesen Bundesstaat gereist, um darüber zu berichten, in welchem Maße entwicklungspolitische Themen sich in der offiziellen Politik niederschlugen und wie weit das eindrucksvolle "Modell Kerala" zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen beigetragen hatte. Einer der Orte, die ich besucht habe, war der Wahlkreis Sultan Battery, so genannt, weil dort einst das Waffenarsenal des Sultans Tipu war. In dieser Gegend trifft die geradezu erschreckende Gegensätzlichkeit der Großmut Gottes wie ein Schlag: In dem üppigen tropischen Paradies trifft man auf Szenen wie aus der Hölle. "Achten Sie auf die Schlangen, ein Biss und Sie waren einmal", sagt mein Führer fröhlich, als wir unseren Treck durch den dicken Dschungel in ein Stammesdorf beginnen. Ich kam unversehrt in dem Weiler an. Verhungernde Frauen saßen zusammengesunken auf den Veranden ihrer zerfallenen Hütten, während ihre Kinder zu schwach zum Spielen waren. Kranke, skelettartige Männer lagen auf dem Boden, als ob sie auf den Tod warteten. Ihr Vieh war schon verendet.
Sind dies die großen leuchtenden Augen, die einem aus einer der Werbebroschüren anstrahlen, die im Hochglanzdruck "das Land der Götter" darstellen? Ja, sie sind es, aber monatelanger Hunger hat die Menschen bis auf die Knochen abmagern lassen. Was ist aber mit den Millionen von Rupien passiert, die für ihre Entwicklung bestimmt waren? Die örtlichen Beamten haben darauf eine Antwort. Und wenn sie sich auf die ansässigen Stämme beziehen, reden sie immer von "diesen Leuten", ein Euphemismus für diejenigen jenseits der Zivilisation. "Wie können wir diesen Leuten Geld geben?" fragte mich ein Beamter erstaunt. "Sie würden es nur für Alkohol ausgeben." So bleibt das für die Unterstützung der verschiedenen Volksstämme bestimmte Geld in den staatlichen Schatztruhen oder landet bei Mittelsmännern. Bei "diesen Leuten", so der Beamte triumphierend, werde nie ein Penny ankommen.
Pata (das Malayam-Wort für Küchenschabe) ist eine 30-jährige Frau vom Stamm der Paniya. Sie macht sich gerade fertig für ihren Streifzug nach etwas Essbarem. Sechs kleine Kinder muss sie ernähren. In einer Ecke ihrer winzigen Hütte steht ein kleiner Topf mit Reis, nicht einmal genug für ein einziges Kind. Sie ist sich nicht sicher, ob sie erfolgreich sein wird, aber sie muss den Schlangen trotzen, ihre Kinder unbeaufsichtigt zurücklassen und versuchen, irgendetwas im Wald zusammen zu sammeln. An manchen Tagen, erzählt sie, findet sie nicht viel mehr als ein paar Wurzeln oder Beeren. "Könnten Sie mir etwas Geld für Tee geben?" fragt sie mich. Sie könnte mehr Geld gebrauchen, ist aber zu stolz danach zu fragen.
In der Nähe sitzt Karapi (zu deutsch die schwarze Frau) vor ihrer Hütte und schnippelt an einer Betelnuss. Sie ist zu schwach um aufzustehen. Die Paniya verfügen weder über elektrisches Licht noch über sauberes Trinkwasser. Karapi ist mittlerweile alles egal -der graue Star hat ihr fast das ganze Sehvermögen genommen, und so kann sie die Jungen nicht mehr vertreiben, die aus der Stadt hierher kommen und abtransportieren, was ihre wenigen Pfeffersträucher tragen. Seit zwei Tagen hat sie nichts gegessen. Noch nicht einmal die Nachbarn kann sie um Hilfe bitten, da diese selbst nichts haben. "Abends wird es hier kalt, und ich habe nicht einmal eine Decke", sagt sie traurig. Alleine auf ihrer schlammigen Veranda weint sie und erzählt von ihrer unerträglichen Einsamkeit und den Schmerzen.
In einer nahe gelegenen Hütte liegt ein winziges Mädchen mit vom Hunger aufgetriebenen Bauch an der Seite ihres Vaters. In der unerbittlichen Mittagssonne zittert es heftig. Wochenlang hatte der Vater Gelbsucht und ist nun sogar zu schwach um sich aufzusetzen. Meenakshi, seine Frau, erzählt, dass sie seit Wochen nicht richtig gegessen haben. Ihr ist klar, dass sie zum Arzt gehen müsste, doch wie sie das machen soll, weiß sie nicht. Ein struppiger Hund, der sogar zu schwach ist die Augen zu öffnen, liegt neben ihr.
Wenn man die Szenerie dieser entsetzlichen Tragödie hinter sich lässt, wird man vom nächsten Eindruck geschockt. Wir haben gerade den Dschungel verlassen, der sich hinter den elenden Dörfern schließt, und sehen nun elegante, im britischen Stil erbaute Bungalows, die sich an den Hang des nebelumkränzten Wyanad schmiegen. Dies sind die Häuser der reichen Landnehmer, die aus anderen Teilen Keralas hierher gekommen sind. Sie haben die Ländereien, die ursprünglich den Stämmen gehörten, in Besitz genommen. Und niemand, absolut niemand wagt es, diese politisch so mächtigen Grundstücksbarone herauszufordern. Ein Teil ihres Gewinnes aus den ausgedehnten Pfeffer-, Gewürz-und Gummiplantagen gelangt in die Geldsäcke von Politikern, eine wunderbare Gewinnteilung zwischen ihnen und den gewählten Volksvertretern.
Ich erzähle diese Geschichten den lokalen Beamten, die aufmerksam zuhören. "Lassen Sie sich von diesen Leuten nicht hereinlegen. Sie werden alles tun um Sie für ein bisschen Geld zu rühren", sagt mir einer von ihnen. Als ich darauf bestehe, ihnen von einigen der fürchterlichen Szenen zu berichten, die ich gesehen habe, antwortet ein Beamter mit einer Bemerkung, die er für umwerfend komisch hält: "Pata, Karapi, was für Namen haben diese Leute eigentlich?" sagt er spöttisch.
An einem drückend heißen Nachmittag sitzt Xavier, ein 53-jähriger Fischer, im abgelegenen Chertala an einem verdreckten Stück Strand. Er kann für seine Familie kaum zwei karge Mahlzeiten am Tag sicherstellen. Früher hat er mit seinem Fang gutes Geld gemacht, doch heute findet er keine Abnehmer mehr. Der Fisch kommt jetzt wesentlich günstiger aus dem benachbarten Tamil Nadu, und Xavier meint, es lohne sich nicht mehr, mit seinem veralteten Boot hinauszufahren. Die 43-jährige Schneiderin Rosamma lebt gleich in der Nähe. Sie unterstützt ihren asthmatischen Ehemann, auch er ein Fischer. Es kommen keine Kunden, und seit sieben Monaten hat die Familie kein Einkommen mehr. Eine Mahlzeit bedeutet hier etwas Reis und vielleicht ein wenig Gemüse, das sie bekommt, wenn der Markt schließt.
Die einzigen Anzeichen für Aktivität finden sich in der Kokosfaserfabrik, wo V. Penamma arbeitet. Sie bekommt für einen ganzen Tag Arbeit nur zehn Rupien und muss währenddessen den Staub der Kokosfasern einatmen, der schwerwiegende Atmungsprobleme hervorrufen kann. "Von den zehn Rupien kann ich kaum überleben. Jetzt bin ich 61, und ich weiß nicht, ob ich noch lange so weitermachen kann", sagt sie.
Raten Sie, wer diesen Wahlkreis vertritt? Arackaparambil Kurian Antony, inzwischen Chief Minister von Kerala, der Saubermann der indischen Politik. Während meines Besuches war Antony Oppositionsführer. Ich fragte ihn, ob er wüsste, was mit den armen Menschen in seiner Hochburg geschehe. Oh ja, sagte er, zeigte aber Hilflosigkeit. "Ich bin nur ein Abgeordneter in der Opposition. Ich kann nichts tun, die Leute sterben überall im Land an Hunger." War er wirklich nur ein gewöhnlicher Abgeordneter?
Andere politische Vertreter sind sogar noch gefühlloser. Ein Minister der Vereinigten Demokratischen Front (UDF) versuchte sogar, die sterbenden Menschen für ihre Notlage selber verantwortlich zu machen. Sein Vorwurf: Sie tränken verschmutztes Wasser und billigen Arrack. Dass vielleicht die Arbeitslosigkeit und der nachfolgende Hunger sie in diese Lage hineingetrieben haben, findet er nicht erwähnenswert. Die angeblich so menschenfreundlichen Regierungen, für die Kerala so berühmt ist, haben weggesehen, als die Stämme systematisch von ihrem Land vertrieben wurden. 1975 gab es eine Gesetzesvorlage, nach der die Stämme ihr enteignetes Land wiederbekommen sollten, allerdings nur, wenn die Enteignungen nach dem Januar 1960 stattgefunden hatte. Doch diese Gesetzesvorlage fiel durch. Als sie 1999 wieder auf den Tisch kam, war sie nach unten korrigiert: Nur Enteignungen nach 1985 sollten ungültig sein. Der oberste Gerichtshof Keralas verhinderte diese Veränderung. Die Regierung hat dann aufgrund des Drucks von Stammmesvertretern angeboten, jeder Stammesfamilie einen Morgen Land zu geben. Frau C. K. Janu, die Vorsitzende des Adivasi-Dali-Aktionsrates, übt Druck auf die Regierung aus, mindestens fünf Morgen Land pro Familie zur Verfügung zu stellen, aus deren Erträgen sie sich über Wasser halten könnten. In letzter Zeit seien 32 landlose Leute in einem einzigen Monat verhungert, wird sie in einer Zeitung zitiert. Doch wenn die Beamten der Distrikte diese Toten auflisten, wird immer eine andere Todesursache wie Fieber oder Durchfall angegeben.
Bisher ist die offizielle Antwort, die Authentizität solcher Berichterstattungen zu bezweifeln. Ein Staatsbeamter wollte mich abkanzeln und beschuldigte mich, den ehrenhaften Namen Keralas, dessen Modell andere Staaten nachzueifern suchen, zu beschmutzen. Weit davon entfernt, die Situation zu verbessern, spielt der Staat nun sogar mit dem Gedanken, selbst die extrem unzureichenden Hilfsnetzwerke der Armen abzuschaffen, wie das öffentliche Verteilungssystem, das einst in Kerala recht erfolgreich war.
Das ausschließliche und obsessiv verfolgte Ziel ist die Förderung des Tourismus - Kerala gehört zu den 50 attraktivsten Reisezielen der Welt, und der Sektor boomt. Die wunderschönen Broschüren, die Keralas exotische Volksstämme, die prächtigen Lagunen und das fantastische Kunsthandwerk zeigen, haben sogar die Aufmerksamkeit von niemand geringerem als dem riesigen Reiseverlag Condé Nast auf sich gezogen.
Es wäre zu lästig, den Hungertod vieler Menschen in einer Region zu bestätigen, die als Land der Götter vermarktet wurde. So lange sie in ihren abgelegenen Siedlungen versteckt leben und die alarmierende Todesstatistik vertuscht wird, scheint sich niemand wirklich unbehaglich zu fühlen.
aus: der überblick 03/2002, Seite 107
AUTOR(EN):
Lalita Panicker:
Lalita Panicker ist stellvertretende Herausgeberin von "The Times of India" und lebt in Delhi. Wir übernehmen diesen Text mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus "the little magazine".