Im Bürgerkrieg und Ausnahmezustand bereitet Nepal Wahlen vor
Anfang der neunziger Jahre schien es so, als ob in Nepal der friedliche Übergang zur Demokratie gelingen würde. Doch dann begannen ein bewaffneter Aufstand von Maoisten und Gegenoffensiven der Armee, in deren Verlauf beide Seiten die Menschenrechte mit Füßen treten. Heute quellen die Gefängnisse in den von der Regierung kontrollierten Gebieten mit vermeintlichen Anhängern der Rebellen über. König Gyanendra hat auf Antrag des Ministerpräsidenten den Ausnahmezustand verkündet und demokratische Kontrollen aufgehoben, aber gleichzeitig bereitet die Regierung Wahlen vor.
von Kanak Mani Dixit und Thomas Döhne
Das Bild vom friedlichen Shangri La hat Risse bekommen - in den Bergen Nepals hallt Kanonendonner. Es wird geschossen und erbittert um die Macht im Staat gekämpft. Täglich sterben Menschen im Kugelhagel der Armee oder werden von maoistischen Rebellen umgebracht, die seit sechs Jahren einen bewaffneten Guerillakrieg gegen die Zentralregierung führen. Inzwischen haben die Rebellen - zumindest zeitweilig - zahlreiche ländliche Distrikte unter ihre Kontrolle gebracht. In den Kerngebieten des Aufstands beschränkt sich die staatliche Präsenz auf schwer bewachte Verwaltungseinrichtungen in den Distriktzentren. Mitarbeitende in behördlichen Außenstellen wie Gesundheitsposten, Büros der Forstverwaltung, Polizeistationen oder Entwicklungsprojekten haben ihre Dienststellen verlassen, die staatliche Infrastruktur ist vielerorts zerstört. In schwer zugänglichen, von den Aufständischen kontrollierten Gebieten, haben die Rebellen eine Gegenverwaltung und lokale Gerichte geschaffen, die Verstöße gegen die von Volkskomitees erlassenen Verordnungen unerbittlich ahnden.
Die Gefängnisse in den von der Regierung kontrollierten Teilen des Landes hingegen sind mit Aufständischen und deren vermeintlichen Unterstützern überfüllt. Ständig verletzen beide Konfliktparteien die Menschenrechte, sie foltern, verschleppen Menschen und töten ohne rechtliche Grundlage. Seit der Verhängung des Ausnahmezustands am 26. November 2001 sind beweiskräftige Zeugenaussagen oder Fakten schwer zu bekommen. Allerdings deuten Berichte in den Medien, obwohl diese ja angesichts der staatlichen Repression gegen Journalisten gefärbt sind oder heikle Themen vermeiden, schon darauf hin, dass in diesem bewaffneten Konflikt kaum Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen wird.
Zahlreiche Bewohner sind aus ihren Dörfern in die städtischen Zentren geflohen, um aus der Schusslinie zu entkommen. Wer das nicht tut, läuft Gefahr, sich entweder der Willkür und Gewalt der Sicherheitskräfte auszusetzen oder aber von den Rebellen bedroht, zwangsrekrutiert oder gar getötet zu werden. Das Risiko, auf die eine oder andere Weise zwischen die Fronten zu geraten, ist extrem hoch. Die ländliche Bevölkerung in den umkämpften Gebieten steckt in einem Dilemma. Kleinbäuerliche Familien, die als Selbstversorger leben, werden aufgefordert, Essen, Unterkunft und Rekruten für einen hartnäckigen Aufstand bereitzustellen, der durch Gegenoffensiven der Armee unter wachsenden Druck gerät. Auf Seiten der Armee hingegen werden viele Soldaten erstmals in einem Guerillakampf eingesetzt. Sie sind schlecht ausgerüstet und können kaum zwischen Feind und Unschuldigen unterscheiden.
Ausgerechnet die Menschen in den von Maoisten kontrollierten Bergdistrikten, die - historisch bedingt - als rückständig gelten und denen die sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften der letzten 50 Jahre weitgehend vorenthalten wurden, befinden sich nun im Fadenkreuz des Konflikts. So ähnlich mag es bereits während der Expansionskriege der Gurkha-Könige vor 200 Jahren gewesen sein. Einfache Subsistenzbauern müssen nicht nur Abgaben leisten, sondern werden auch gezwungen, die eine oder andere Seite zumindest politisch zu unterstützen. Dann aber sind sie Anschuldigungen seitens der Konfliktparteien ausgesetzt, sie seien Kollaborateure der jeweils anderen Seite.
In den ersten sechs Monaten seit Beginn des Ausnahmezustands verloren nach offiziellen Angaben des Verteidigungsministeriums weit über 3000 Menschen ihr Leben: 2850 Maoisten, 335 Polizisten, 148 Soldaten und 194 Zivilisten. Wer aber sind die toten "Maoisten" wirklich? Wieviel Terror und Gewalt in den Bergen verbirgt sich hinter diesen Zahlen? Wieviel Schutz für Leib und Leben genießt die Bevölkerung in den Bergdörfern in einer Zeit, in der die Soldaten der Armee auf den Reisterrassen patrouillieren und die Maoisten sich in weiten Gebieten frei bewegen oder zumindest nachts die Vorherrschaft haben? Nur selten ist in offiziellen Berichten von verwundeten und gefangenen Rebellen die Rede. Ausbilder des Roten Kreuzes, die mit Soldaten Kurse über rechtmäßiges Verhalten in einer Kriegssituation veranstalteten, haben erzählt, wie schwierig es ist, den Teilnehmern klarzumachen, warum die nepalesische Armee nicht in der gleichen Weise verfahren dürfe wie die Maoisten. Ein Polizeiinspektor, der im Dang-Tal stationiert ist, wo sich die logistische Basis für die Sicherheitskräfte in Westnepal befindet, erklärte: "Diejenigen, die zu den vorgesetzten Kategorien zählen, also Maoisten der regionalen und zentralen Führungsebene, wollen wir nicht gefangen halten, die töten wir einfach. Mit denen der Distriktebene und vor allem mit denen der Dorfebene sind wir nachsichtiger. Aber erwarten Sie nicht, dass wir denjenigen gegenüber Gnade walten lassen, die zum harten Kern zählen und uns töten wollen."
In der Vergangenheit hat die einfache Landbevölkerung in den Bergen Nepals, in der Mehrzahl arme Kleinbauern, Pächter kleiner Landstücke und Angehörige der als "unberührbar" geltenden Handwerkerkasten, nichts anderes gekannt als Armut und Rechtlosigkeit. Ende der 1950er Jahre durchlief das Land unter dem Eindruck der indischen Unabhängigkeit zwar eine kurze Phase der Parteiendemokratie. Diese ist jedoch 1960 von dem damaligen König Mahendra abrupt beendet worden, nachdem anhaltende politische Querelen zu chaotischen Verhältnissen im Land geführt hatten. Alle Parteien wurden verboten, ihre politischen Führer ins Exil gezwungen oder inhaftiert. Ein Rätesystem angefangen auf der untersten Dorfebene bis hin zur nationalen Ebene wurde gebildet, in der die landbesitzenden Eliten die dörflichen, regionalen und nationalen Räte besetzt hielten oder diese zumindest politisch kontrollierten. Kritik und Opposition wurden nicht geduldet und stets mit harter staatlicher Repression verfolgt. Erst 1990 beseitigte eine breite Bewegung zur Wiederherstellung der Demokratie, der der damalige König Birendra schließlich nachgab, dieses so genannte Panchayat-System, und die Parteien wurden wieder zugelassen. Das politische Erbe dieser Zeit ist jedoch nie konsequent aufgearbeitet worden.
Die Panchayat-ra - das wird nur allzu leicht vergessen - war eine Zeitspanne von dreißig Jahren, in der die Bevölkerung durch das Gewicht autokratischer Herrschaft niedergedrückt und eingeschüchtert wurde. Nach der Demokratisierungsbewegung von 1990 wurde die so genannte Mallik-Kommission gebildet, die in der Endphase der Panchayat-Herrschaft begangene Menschenrechtsverletzungen untersuchen sollte. Diese Kommission reichte einen Bericht ein und empfahl Maßnahmen gegen Polizisten, Verwaltungsbeamte und Politiker, die ihre Macht missbraucht hatten. Die Umsetzung dieser Empfehlungen hätte die politische Atmosphäre bereinigen können. Aber der Bericht wurde begraben - hauptsächlich, weil das Establishment in Katmandu so klein und durch familiäre und andere Beziehungsgeflechte eng miteinander verknüpft ist, dass bei allen, die das Sagen hatten, Personen aus dem näheren Umfeld betroffen gewesen wären. Die Botschaft, die auf diese Weise vermittelt wurde, lautete, dass Menschenrechtsverletzungen auch unter den Bedingungen der neu gewonnenen demokratischen Befreiung stillschweigend geduldet werden. Diese historisch bedingte Unbekümmertheit gegenüber Menschenrechten liefert den Hintergrund dafür, dass der maoistische Aufstand ein solch unerwartetes Ausmaß an Gewalt und Missbrauch über die Menschen brachte.
Wie aber ist es möglich, dass die Menschen in den Bergen solchen Übergriffen heute schutzlos ausgeliefert sind, ohne dass sich die Zivilgesellschaft zu Wort meldet? Indirekt haben an dieser Entwicklung auch die zahlreichen Menschenrechtsorganisationen eine Mitschuld, die in den vergangenen Jahren vornehmlich in Katmandu wie Pilze aus dem Boden geschossen und von internationalen Geberorganisationen gefördert worden sind. Nachdem die Demokratie ihnen ohne große eigene Anstrengungen quasi vom König geschenkt worden ist, konnten die nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) eine reiche Ernte an ausländischer Hilfe einfahren, die eigentlich den Pluralismus in Nepal fördern sollte. Sowohl Geber als auch Empfänger befassten sich wenig mit den aktuellen Verletzungen von politischen und Bürgerrechten der Bewohner in zahlreichen Orten des Landes. Sie zogen es vor, ihre Zeit und Gelder für Debatten über eher abstrakte, aus dem Ausland hineingetragene Menschenrechtsanliegen zu verwenden. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf Kinderrechte, Genderfragen, Rechte der Dalit (der Christen aus der Kaste der Unberührbaren), Rechte der Indigenen, Umweltrechte, Flüchtlingsrechte, Wasserrechte. Diese Flut von Rechten lenkte die Aufmerksamkeit der NGOs ab, und das Recht auf Leben und Freiheit trat in den Hintergrund - so weit, dass heute wenige da sind, die sich zu Fürsprechern der Menschen machen, die bluten müssen.
Viele Aktivisten aus der Menschenrechtsszene hatten sich schon zuvor aus der Sicht der Öffentlichkeit kompromittiert, weil sie alles kritisierten, was die Regierung tat, und die Maoisten als wahre Revolutionäre betrachteten. Auch die Presse hat aus ähnlichen Gründen versagt. Als die Regierung die rechtsstaatlichen demokratischen Institutionen durch den Ausnahmezustand außer Kraft setzte, wurden in den Medien über Nacht aus Revolutionären Terroristen.
Die eigentliche Tragik liegt aber darin, dass es sich hier anders als bei einer Diktatur, die leicht für die Bedrohung von Leben und Freiheit der Bevölkerung getadelt werden kann, um einen demokratischen Staat im Aufbau handelt, der sich nun gezwungen sieht, einen Aufstand der extremen Linken zu bekämpfen, um das eigene Überleben zu sichern, - und in diesem Prozess werden die Menschenrechte mit Füßen getreten. Viele - auch politisch bewusste - Nepalesen scheinen sich trotzdem dafür entschieden zu haben, die Regierung aus vollem Herzen zu unterstützen, bis das Maoistenproblem gelöst ist, auch wenn Unschuldige zu Opfern zwischen den Fronten werden.
Dabei schienen die Chancen für einen friedlichen, demokratischen Wandel vor zwölf Jahren recht günstig. Damals, im Jahre 1990, hatte ein breites politisches Bündnis die Wiederherstellung der Demokratie durchgesetzt und dem damaligen König Birendra die Zusage abgerungen, sich auf die Rolle eines konstitutionellen Monarchen zu beschränken. Eine Kommission bestehend aus Vertretern des Palastes, der Nepali Congress Party und der United Left Front hatte einen Verfassungsentwurf für eine parlamentarische Demokratie erarbeitet. Diese Verfassung war ein Kompromiss zwischen der Monarchie und den Parteien, die an dem Entwurf mitgearbeitet hatten. Die Souveränität ist nach dieser Verfassung dem Volk übertragen, der König jedoch behält als oberster Befehlshaber die Kontrolle über die Armee.
Die ersten Wahlen im Jahr 1991 ergaben eine Mehrheit für die Nepali Congress Party, stärkste Oppositionspartei wurde die aus der United Left Front hervorgegangene Organisation Unified Marxist Leninist (UML). An diesen Wahlen hatte sich auch die linksradikale United People's Front (UPF) beteiligt und neun Sitze errungen. Schon bald gingen die UPF-Aktivisten auf die Straße, um gegen Missstände unter der neuen Regierung wie Vetternwirtschaft, Korruption und Veruntreuung von Geldern aus Entwicklungsprojekten zu protestieren und ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, die Monarchie abzuschaffen und eine Republik zu gründen. Die Regierung antwortete mit Härte und Polizeigewalt gegen diese Form der außerparlamentarischen Opposition. Im Herbst 1992 starben allein in Katmandu bei Protestdemonstrationen 16 Menschen durch Polizeikugeln. 1994 kam es zur Spaltung der UPF, aus der die Communist Party Nepal (CPN Maoist) hervorging, eine Kaderpartei, die zum Boykott der anstehenden Wahlen aufrief und wenig später in den Untergrund ging, um den bewaffneten Kampf vorzubereiten.
Bereits im Jahre 1995 brachen in Rolpa, einem abgelegenen verarmten Distrikt in Westnepal, erstmals Unruhen aus. Sie wurden aber von den politischen Eliten des Landes lange Zeit ignoriert. Bei der lokalen Bevölkerung hatte sich großer Unmut aufgestaut, weil sie keinen Zugang zu staatlichen Dienstleistungen hatte und von der Zentralregierung völlig vernachlässigt wurde. Dieser Unmut machte sich in einer Bauernbewegung Luft, die sich schnell auf benachbarte Distrikte ausbreitete. Statt auf die legitimen Anliegen der Bevölkerung einzugehen und nach politischen Lösungen zu suchen, reagierte die Regierung, indem sie unter dem Decknamen "Romeo Operation" Polizeiaktionen in den betroffenen Gebieten anordnete, in deren Verlauf Hunderte Bäuerinnen und Bauern inhaftiert, misshandelt und getötet wurden. Dorfbewohner flüchteten zu Tausenden in umliegende Wälder, um der Willkür der Sicherheitskräfte zu entgehen. Diese Vorgänge in Westnepal schienen aber das politische Establishment in Kathmandu lange Zeit nicht weiter zu interessieren.
Die Maoisten jedoch verstanden es geschickt, Nutzen aus dem Unmut der ländlichen Bevölkerung zu ziehen und sich zu deren Sprechern zu machen. Sie begannen ihrerseits mit bewaffneten Guerilla-Aktionen, überfielen Polizeiposten, töteten Mitglieder der Sicherheitskräfte, Geldverleiher und Vertreter etablierter Parteien und setzten sich in einigen abgelegenen Distrikten fest.
Mittlerweile hat sich der bewaffnete Konflikt auf einen Großteil der 75 Distrikte des Landes ausgeweitet und überschattet den politischen Alltag in der Hauptstadt Katmandu. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes ist hart getroffen: Der Tourismus als wichtigste Quelle für Deviseneinnahmen liegt brach, die Arbeit an zahlreichen Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit wurde ausgesetzt, neue Bewilligungen wurden auf Eis gelegt. Der Amoklauf, bei dem am am 1. Juni 2001 fast die gesamte Königsfamilie umkam, ist bis heute nicht zweifelsfrei aufgeklärt; nach offiziellen Angaben war der Auslöser eine Familienauseinandersetzung. Dieses Ereignis hat das Land weiter destabilisiert. Als Nachfolger von König Birendra wurde dessen Bruder Gyanendra gekrönt, der in der Bevölkerung wenig Vertrauen genießt.
Seit dem 26. November 2001 befindet sich das Land im Ausnahmezustand. Verhandlungen der neuen Regierung unter Ministerpräsident Deuba mit Rebellenvertretern über eine friedliche Lösung des Konflikts waren zuvor gescheitert. Wichtige, von der nepalesischen Verfassung garantierte Grundrechte, wie Meinungs-und Versammlungsfreiheit, Recht auf Freizügigkeit, Information, Eigentum und körperliche Unversehrtheit sind seither außer Kraft gesetzt. Weit mehr als 5000 Personen wurden verhaftet, darunter zahlreiche Journalisten, Rechtsanwälte und Intellektuelle, denen man Sympathie oder geistige Nähe zu den Maoisten unterstellt. Viele befinden sich immer noch im Gewahrsam der Sicherheitskräfte, oftmals ohne Rechtsbeistand und ohne dass die Angehörigen über den genauen Aufenthaltsort informiert sind. Sondergesetze zur Terroristenbekämpfung erlauben, die betroffenen Personen bis zu 90 Tage festzuhalten, ein Zeitraum, der in vielen Fällen überschritten wurde.
Heute befindet sich Nepal wirtschaftlich und politisch am Rande eines Abgrunds. Wichtige seit der Wiedereinführung der Demokratie im Jahre 1990 von der Zivilgesellschaft erreichte Fortschritte stehen auf dem Spiel. In dieser Situation erweist sich die Regierung als nahezu handlungsunfähig. Die regierende Nepali Congress Party ist heillos zerstritten. Ministerpräsident Deuba, der in der Zeit der Panchayat-Herrschaft vor 1990 selbst Opfer staatlicher Repression gewesen ist und neun Jahre lang inhaftiert war, hatte bei seinem Amtsantritt zunächst einen Dialog mit den Maoisten und die Aufnahme von Verhandlungen für eine friedliche Beilegung des Konflikts befürwortet. Inzwischen ist er auf eine harte Linie im Umgang mit den Aufständischen umgeschwenkt und tritt vorbehaltlos für eine militärische Lösung ein. Mit einem Antrag beim König erzwang er am 22. Mai 2002 die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen, die am 13. November landesweit durchgeführt werden sollen.
Vor dem Antrag zur Parlamentsauflösung hatte sich abgezeichnet, dass Deuba die für eine Verlängerung des Ausnahmezustandes erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit nicht erzielen würde, nachdem parteiinterne Widersacher um den Parteivorsitzenden und früheren Ministerpräsidenten Koirala sowie die wichtigste Oppositionspartei im Parlament, die Unified Marxist Leninist, ihre Unterstützung für eine Verlängerung des Ausnahmezustandes verweigert hatten. Deuba konnte mit seinem politischen Manöver durchsetzen, dass der Ausnahmezustand, der am 25. Mai hätte enden müssen, um weitere sechs Monate fortgesetzt wird. Anzeichen sprechen allerdings dafür, dass Deuba nicht in Eigenregie gehandelt, sondern dem Wunsch der Armee beziehungsweise des Königs als deren obersten Befehlshaber entsprochen hat. Das hatte eine innerparteiliche Zerreißprobe zur Folge, die inzwischen zu einer faktischen Spaltung der Regierungspartei geführt hat.
Die aktuellen Ereignisse müssen auch im Zusammenhang der internationalen Ereignisse seit dem 11. September 2001 gesehen werden. Nach dem Scheitern der Verhandlungen über eine friedliche Lösung des Konflikts und der Aufkündigung des Waffenstillstands im November 2001 hatten die Maoisten eine Serie blutiger Angriffe auf Polizei-und Militärstützpunkte verübt. König Gyanendra verhängte daraufhin auf Antrag des Ministerpräsidenten nicht nur den landesweiten Ausnahmezustand und setzte die Armee bei der Bekämpfung der Rebellen ein. Sie verabschiedete auch eine Anti-Terrorismus-Verordnung. Die USA sendeten Militärberater und stellten Gelder und Waffen zur Aufstandsbekämpfung bereit. Wichtige Geberländer, insbesondere die USA und Großbritannien, sagten im Juni 2002 auf einer Konferenz in London der nepalesischen Regierung militärische Unterstützung in ihrem Kampf gegen die Maoisten zu.
Der Einsatz der nepalesischen Armee wäre nach der geltenden Verfassung auch ohne eine Verhängung des Ausnahmezustandes möglich gewesen. So aber besteht die Gefahr, dass die Pflicht der Armee in einem demokratischen Staat zur Disziplin und zur Einhaltung internationaler Völkerrechtsstandards unterlaufen wird, weil die öffentliche Kontrolle fast gänzlich ausgeschaltet ist. Die Regierung überwacht die Armee kaum, weil deren Soldaten schlicht das tun, was man von ihnen verlangt. Die Regierung hat die Generäle angewiesen, die Maoisten vernichtend zu schlagen. Ein Ausweg über Verhandlungen ist dabei offenbar nicht vorgesehen.
Selbstverständlich trifft in erster Linie die Maoisten die Schuld an der jetzigen Lage, weil sie den bewaffneten Aufstand begonnen haben. Sie haben das Land ökonomisch und geopolitisch mehr geschwächt, als es antinationale Kräfte jemals vermocht hätten. Und sie haben die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Soldaten aus den Kasernen geholt worden sind, um in einem Großangriff gegen ihre eigenen Landsleute eingesetzt zu werden. Indem sie die Armee zwangen, so überwältigend aktiv zu werden, haben die Rebellen ihr einen bedeutenderen Platz im nationalen Gefüge verschafft als jemals zuvor. Ein nicht akzeptables Ergebnis könnte sein, dass den Soldaten und der Exekutive in Zukunft noch größere Macht zukommen wird als bisher.
Vielleicht wäre es ein Weg aus der Sackgasse gewesen, wenn Ministerpräsident Deuba nicht den Ausnahmezustand beantragt hätte, sondern die Armee auf der Basis bereits existierender Anti-Terror-Vorkehrungen eingesetzt worden wäre. Hätte man sämtliche politische Institutionen bis zur untersten Dorfebene funktionsfähig erhalten und die zivilgesellschaftlichen Kräfte und Medien mit eingebunden, wäre es vielleicht möglich gewesen, die Maoisten durch eine wohl überlegte Mischung von politischen und militärischen Maßnahmen zu isolieren. Diese Chance wurde versäumt, aber dennoch ist darauf zu drängen, dass sich die Armee auf ihre Verantwortung besinnt und den ihr von der Regierung übertragenen Kampf gegen die maoistische Guerilla unter Wahrung rechtsstaatlicher Normen führt.
Wenn sie das nicht tut, steht vieles auf dem Spiel. Die nächsten Monate bis zu den allgemeinen Wahlen am 13. November werden entscheidend für die Zukunft Nepals und der nepalesischen Demokratie sein. In dieser Zeit wird es keinen institutionellen Schutz in dem Land geben, das sich im Ausnahmezustand befindet und gleichzeitig Neuwahlen vorbereiten muss.
MaoistenChefredakteur ermordetNawaraj "Basant" Sharma, der Chefredakteur der unabhängigen nepalesischen Wochenzeitung Karnali Sandesh war am 1. Juni dieses Jahres von maoistischen Rebellen entführt worden. Am 13. August fand man seine Leiche in der Nähe des Dorfes Suna im Westen Nepals. Die Entführer hatten ihm die Augen ausgestochen, die Gliedmaßen vom Körper abgeschnitten und ihn in die Brust geschossen. Nach der Ermordung Sharmas warnten maoistische Rebellen seine Verwandten, die von der nepalesischen Regierung angebotene Entschädigung für Angehörige von Opfern maoistischer Gewalt in Anspruch zu nehmen. Sharma war im Februar 2002 schon einmal von Rebellen entführt, aber nach drei Monaten wieder freigelassen worden. Danach hatten ihn die nepalesischen Sicherheitskräfte fünf Tage lang verhört, weil sie ihn der Spionage verdächtigten. du |
aus: der überblick 03/2002, Seite 95
AUTOR(EN):
Kanak Mani Dixit und Thomas Döhne:
Kanak Mani Dixit ist ein bekannter nepalesischer Journalist und Mitherausgeber der englischsprachigen Monatszeitschrift "Himal Magazine Southasia". Dieser Artikel beruht auf einem Essay, den Dixit dort im Juni 2002 veröffentlicht hat. Dr. Thomas Döhne hat in Absprache mit Dixit den Artikel für den "überblick" aktualisiert und bearbeitet. Döhne ist Erziehungswissenschaftler und Pädagoge und hat mit seiner Familie fast zehn Jahre in Nepal gelebt.