In Buenos Aires haben sich Arbeiter und Künstler zusammengetan
Es wirkt wie eine Einladung. Unter dem rot-weißen Schild "IMPA - Fábrica Ciudad Cultural" (IMPA - Fabrik Kulturstadt) stehen die großen Torflügel weit offen. Fast scheint es, als gäbe es gar keine Tür. Jeder, der will, kann ungehindert in das riesige, graue Gebäude treten und erkunden, was im krisengeschüttelten Argentinien wie ein Wunder wirkt und Hoffnung weckt: Eine Aluminiumfabrik, verwaltet von Arbeitern und Künstlern. Denn IMPA (Industria Metalúrgica y Plástica Argentina) in Buenos Aires ist fest in der Hand derjenigen, die sonst nur für Brot und Lohn hinter den Maschinen stehen.
von Antje Krüger
Als die Fabrik vor fünf Jahren bis ans Aus manövriert wurde, haben die Arbeiter sie kurzerhand besetzt und als Kooperative übernommen. Später luden sie auch Künstler ein, die Hallen mit ihnen zu nutzen. Heute mischt sich hier zu jeder Zeit allerlei buntes Volk. Es kommen die Arbeiter, Kunden und Nachbarn, Interessierte und Neugierige, Künstler und Publikum.
Langsam gewöhnt sich das Auge an das schattige Dunkel im langen Gang hinter dem Eingang. Von draußen gleißt die Sonne herein. Unter dem gerahmten Bild eines Zeitungsaufmachers - ein Mädchen mit Fackeln und ein Arbeiter mit einem riesigen Schraubschlüssel stehen Rücken an Rücken vor einem Aluminiumberg - hängen lose Zettel, die zum Tanzworkshop am nächsten Wochenende einladen oder von längst vergangenen Theateraufführungen künden. Gleich links am Eingang warten zwei Mütter mit ihren Kindern auf dem Arm. Sie haben keinen Platz mehr in dem kleinen Wartesaal der Arztpraxis gefunden, die in der IMPA kostenlos eingerichtet wurde. Am Ende des Ganges lässt sich die Fabrik erahnen. Die Geräusche schwerer Maschinen dröhnen he-rüber.
Statt einer adrett gekleideten Empfangsdame tritt ein Arbeiter aus einer Tür, die eine Mischung aus Pförtnerloge und Empfangsraum verbirgt. In dem breiten, braunen Gesicht der Argentinier des Nordens zeichnet sich ein vorsichtiges Lächeln ab. Schlicht fragt er nach dem Begehren, greift zum Telefon, versucht zu helfen. Man sieht ihm an, dass ihm die Arbeit hinter seiner Maschine mehr liegt als der Empfang der Besucher. Einer der Männer im blauen Mechanikeranzug, die gerade eine Pause eingelegt hatten, bietet sich spontan für eine Fabrikführung an. Es ist derselbe, der mit stolz-schüchternem Lächeln von dem Zeitungsfoto im Gang hinunterblickt: Horacio Campos, der Präsident der Kooperative. Vorstellungsformalien wischt er mit einer Handbewegung beiseite. "Hier sind alle willkommen. Hier stört keiner. Mich können sie fragen, was sie wollen."
Das Dröhnen der Maschinen wird lauter. Eine riesige Halle gibt den Blick frei auf Öfen, Walzen und Berge von Aluminium. Vereinzelt sind Männer im Schummerlicht zu sehen. Sie bewegen sich scheinbar geräuschlos im Zischen und Hämmern der offensichtlich alten, grün- grauen Giganten. IMPA wurde 1910 mit deutschem Kapital errichtet und vereint den gesamten Prozess der Aluminiumherstellung und - verarbeitung unter einem Dach, was in Argentinien außer bei IMPA nur noch in der Fabrik ALUAR der Fall ist. In dem 22.000 Quadratmeter großen Gebäude schufteten zur besten Zeit mehr als 2000 Arbeiter. Selbst Flugzeugteile wurden hergestellt. Im ganzen Land berühmt wurde IMPA durch die Fahrräder, die Eva Perón hier orderte, um sie in der Bevölkerung zu verteilen. Heute kommen die mehr als 120 Kunden vor allem aus der Lebensmittelbranche und bestellen Aluminiumpapier, Tabletts, Dosen und Töpfe.
Die IMPA war nicht lange in deutscher Hand. Zum Ende des Zweiten Weltkrieges hat Präsident Perón sie kurzerhand verstaatlicht, bevor er Gefahr lief, die Fabrik an die Alliierten übergeben zu müssen. Die ehemaligen deutschen Besitzer haben IMPA nie zurückverlangt. Als aber 1961 die erste Privatisationswelle durch Argentinien rollte, wäre die Fabrik fast geschlossen worden. Im letzten Moment entschieden sich die Arbeiter, IMPA in eine Kooperative umwandeln zu lassen. "Doch diese Kooperative trug nur den Namen Kooperative", erklärt Horacio Campos. "IMPA wurde wie ein privates Unternehmen geführt. Wir waren nur auf dem Papier Mitglieder. Nachfragen oder uns einmischen konnten wir nicht, sonst wären wir rausgeschmissen worden."
Gelbes Feuer lässt den dunklen Schlund eines Ofens glühen. Es ist drückend heiß. Horacio Campos weist stolz auf den Trumm: "Diesen Ofen haben wir unter vielen Entbehrungen gekauft, nachdem wir die Fabrik übernommen haben. Ohne ihn wären wir nicht mehr konkurrenzfähig, denn Rohmaterial können wir uns nicht leisten. Hier recyceln wir jetzt Aluminium", sagt er.
Auch fünf Jahre nach der Besetzung der Fabrik ist der Mechaniker mit den indianischen Gesichtszügen noch immer stark bewegt, wenn er von den ersten Tagen erzählt. IMPA hatte 1997 Konkurs angemeldet. Schuld daran war nicht allein die sogenannte Tequila-Krise, die 1995 mit dem Verfall der mexikanischen Währung begann und in der Folge ganz Lateinamerika erfasste. Die Arbeiter warfen der Administration vor, die Fabrik absichtlich an den Abgrund zu fahren. Anfang 1998 gab es kein Gas, kein Strom und kein Wasser mehr im Gebäude. "Da konnte man schon nicht mehr glauben, dass die Fabrik weiter funktionieren würde. Einige von uns Arbeitern haben sich daraufhin vereint. Insgesamt waren wir 50 Mann. Wir haben einen Anwalt gesucht und der hat uns gesagt, dass es nicht leicht werden würde. Aber wenn wir entschlossen wären, für unseren Arbeitsplatz zu kämpfen, dann würde er uns helfen", erinnert sich Horacio Campos. Ziel der Arbei-ter war es, eine Vollversammlung einzuberufen und eine eigene Administration zu wählen, bevor die Fabrik leergeräumt würde. Nach dem Statut der Kooperative war dies ihr gutes Recht, die Praxis jedoch sah anders aus. Monatelange Verhandlungen zwischen dem Anwalt und der Direktion führten zu nichts. "Bei der letzten Verhandlung warteten wir draußen auf der Straße, und dort haben wir beschlossen, die Fabrik zu besetzten. Das war am 4. Mai 1998. Wir sind die ganze Zeit hier in der Fabrik geblieben. Am ersten Tag kam die Polizei, aber die konnten uns nicht rausschmeißen, da wir ja auch Mitglieder der IMPA waren. Wir blieben, bis sie uns am 22. Mai die Leitung der Fabrik übergaben".
Noch in der gleichen Nacht wählten die Arbeiter ihre eigene Führung. "Was wir gemacht haben, war vollkommen verrückt. Wir waren ja alles nur Arbeiter und hatten plötzlich eine Fabrik, ohne zu wissen, wie wir sie verwalten und führen sollten. Die Verzweiflung, arbeitslos zu werden, hat uns dazu getrieben", sagt Horacio Campos. Nur mit viel Solidarität konnten die Maschinen wieder in Gang gebracht werden. Gleich am ersten Tag stieß der Gewerkschafter Eduardo Murúa zu den Arbeitern und half bei der Organisation der elementarsten Sachen. Gas, Strom und Wasser wurden wieder freigeschaltet. Doch weder Rohmaterial noch Startkapital waren vorhanden, um überhaupt arbeiten zu können. Wie von einem Wunder erzählt Horacio Campos deshalb von IMPAs Generalmanager Guillermo Robledo, der einfach auf eigenes Risiko die erste Tonne Aluminium kaufte und sie den Arbeitern zur Verfügung stellte. "Es gibt keine Worte, die ausdrücken, was man in diesem Moment fühlt. Als ich am Morgen um acht Uhr kam und sah, dass die Fabrik funktionierte, musste ich weinen. Zu fühlen, dass eine Sache, die wir schon verloren hatten ....", Horacio Campos bricht ab. Der kleine untersetzte Mann im Öl verschmierten Overall kann auch jetzt die Tränen nicht zurückhalten.
Heute arbeiten 150 Mann in der Fabrik und es kommen sogar Neue hinzu. Sie alle erhalten den gleichen Lohn. "Wir stellen je nach der Arbeit ein, die wir haben, nicht nach dem Gewinn. 80 Prozent der Einnahmen geben wir für den Lohn aus. Wir haben unter jämmerlichen Bedingungen angefangen. Manche compaZeros haben hier geschlafen, weil das Geld nicht für die Heimfahrt reichte. Jetzt haben wir einen Lohn von 900 Pesos (etwa 270 Euro)", erklärt Gewerkschafter Eduardo Murúa unter den Bildern von Che Guevara, Evita und Juan Domingo Perón, den Symbolfiguren des argentinischen Arbeitskampfes. Das Wort Kooperative wurde von den Arbeitern der IMPA neu belebt. Und die Anrede compaZero, "Genosse", von Ideologie reingewaschen. Entscheidungen werden gemeinsam in Vollversammlungen getroffen. Niemand ist Chef oder mehr wert als andere. Diese Erfahrung ist neu in der Fabrik. "Wenn der frühere Direktor hier durchging, hat er nicht einmal gegrüßt. Für ihn waren wir nur die negros (abwertende Bezeichnung für die zumeist dunkelhäutigen indigenen Arbeiter)" erinnert sich Horacio Campos.
Nicht nur, weil die Fabrik rechtlich gesehen ohnehin eine Kooperative war, funktioniert sie auch weiterhin als solche. "Wir wollen die Form der Kooperative. Wir wollen weder einen Chef noch die Verstaatlichung, bei der uns auch nur wieder ein Bürokrat vorgesetzt werden würde", sagt Eduardo Murúa. Noch trägt IMPA eine Bürde von 4,5 Millionen Pesos (heute umgerechnet 1,3 Millionen Euro) an Schulden. Doch die Krise Argentiniens und die Abwertung des Pesos war für die Fabrik letztendlich ein Glücksfall. Die Schulden wurden gedrittelt und die Nachfrage für Produkte aus dem Inland stieg an, nachdem Importe unerschwinglich geworden waren. "IMPA ist heute aus dem Gröbsten raus", glaubt Murúa.
Und die Kultur? "Wir brauchten dringend Leute, um die Fabrik zu beleben und halten zu können. Da kam uns die Idee, sie für Künstler zu öffnen. Die gaben uns über die Öffentlichkeit auch einen Schutz vor den Drohungen der Nationalbank, IMPA wegen der Schulden zu schließen", erklärt Horacio Campos. Der ursprüngliche Gedanke jedoch war eine "Fabrik der Ideen". "Im Jahr 1998 war nur von der Globalisierung die Rede. Wir fanden, dass es in einer Fabrik interessant wäre, auch eine andere Diskussion zu führen. Das erste, was wir taten, war ein Gespräch mit Orlando Dorrego zu führen, einem compaZero, der einst mit Che Guevara in der Sierra Madre gekämpft und später mit ihm im kubanischen Industrieministerium gearbeitet hatte." sagt Eduardo Murúa.
Ganz vom Tisch ist die Idee der Ideen jedoch nicht. "In diesem Jahr wollen wir eine Diskussionsveranstaltung über Philosophie und Literatur ins Leben rufen", berichtet der Glasbläser Sergio Sagiryan, während er über endlose Gänge in die Kulturwerkstätten führt. Man muss mehrmals hier gewesen sein, um sich nicht zu verlaufen.
IMPA teilt sich nicht in produktive Arbeit und Kulturarbeit auf. Beides funktioniert gleichzeitig. Wer einen der 37 Kurse von Malerei über Tango bis Clownerie besuchen will, muss durch Öllachen hindurch an den Arbeitern vorbei. Oft schon haben die Maschinen in der Halle als Theaterkulisse gedient.
Der Anfang war nicht ganz einfach. Mit dem Einzug der Künstler in die Fabrik sind zwei Welten aufeinander geprallt, die sonst nur selten miteinander in Berührung kommen. "Da gab es Misstrauen auf beiden Seiten", erinnert sich Sebastián Maissa, der die Keramikkurse leitet. Doch Arbeiter und Künstler merkten bald, was sie verband - die Ablehnung einer vom Egoismus geprägten Welt. "Wir wollen eine solidarische Kultur, die den sozialen Charakter der Fabrik betont und zeigt, dass Geld nicht alles ist", betont Sebastián.
Das Konzept der Kulturfabrik hat Erfolg. Über 250 Personen besuchen pro Woche die Kurse. Auch ohne gezielte Werbung füllen sich die Veranstaltungen. Die Theatergruppe 3EX wurde sogar als eine der besten Off-Theater in Buenos Aires prämiert. Die Künstler haben von der Regierung der Stadt zwei Mal Zuwendungen in Höhe von 5000 Pesos (etwa 1500 Euro) erhalten. Ein Tropfen auf den heißen Stein, doch seither gilt IMPA als subventioniert.
IMPA hat Schule gemacht in Argentinien. Die Aluminiumarbeiter waren vor fünf Jahren die ersten, die ihr Schicksal in die eigene Hand nahmen. Seit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes ziehen andere nach. Inzwischen werden 140 Betriebe von den Arbeitern selbst verwaltet. Auch eine Schule ist diesem Beispiel gefolgt. "Die Besetzung von Betrieben, die von der Schließung bedroht sind oder gar die Wiederaufnahme der Produktion in schon geschlossenen Fabriken ist zu einer Kampfmethode der Arbeiter geworden, ihrem einzigen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit", sagt Eduardo Murúa. Mehr als 60 Kooperativen haben sich inzwischen im Movimiento de Empresas Recuperadas (Bewegung der wiedergewonnenen Betriebe) vereint. Sie wollen ein Gesetz durchbringen, das die Übernahme von Fabriken durch die Arbeiter und die Zahlung eines Startkapitals regelt. Denn noch hängen die Kooperativen vom guten Willen der Richter ab. Dabei ist die Verzweiflungstat der Arbeiter möglicherweise ein richtiger Schritt, die zerstörte Wirtschaft Argentiniens aus eigener Kraft wieder aufzubauen, ohne auf Investoren hoffen zu müssen. Das alleine ist Grund genug, am 22. Mai 2003 das fünfjährige Jubiläum der IMPA groß zu feiern.
aus: der überblick 01/2003, Seite 88
AUTOR(EN):
Antje Krüger:
Antje Krüger arbeitet als freie Journalistin in Berlin mit Schwerpunkt Südamerika und bereist häufig diesen Kontinent.