"Hilfe von Christen entzieht auch dem Hass den Boden"
Sheikh Sayyed Jalal al-Sagheer führt die Boratha-Moschee in Bagdad, eine der größten schiitischen Gemeinden der irakischen Hauptstadt. Sie gehört zur Gefolgschaft des einflussreichen irakischen Ayatollahs al-Sistani. Während des Regimes von Saddam Hussein hat Sheikh Jalal zwanzig Jahre im Exil gelebt; gleich nach dem Sturz Saddams ist er zurückgekehrt. Sheikh Jalal ist nichtständiges Mitglied des irakischen Regierungsrates und Mitglied in verschiedenen Komitees dieser Übergangsregierung.
Die Fragen stellte Bernd Ludermann
Welches sind die dringendsten humanitären Probleme, um die Ihre Moschee sich kümmert?
Wir müssen praktisch bei Null anfangen. Zum Beispiel wurde in fast allen schiitischen Gebieten die Wasserversorgung zerstört. In Thaura etwa, früher Saddam City genannt, wohnen rund zwei Millionen Menschen, sämtlich Schiiten. Obwohl sie direkt am Tigris wohnen, haben sie kein sauberes Trinkwasser. Ähnlich sieht es mit Strom und Schulen aus. Saddam Hussein und seine Regierung haben in den Gebieten der schiitischen Bevölkerungsmehrheit absichtlich die bestehende Infrastruktur zerstört. Oder sie haben Abwässer in die Flüsse geleitet, aus denen das Trinkwasser entnommen wurde. Wir haben deshalb jetzt mit zwei Arten Problemen zu kämpfen. Erstens kurzfristige Probleme wie der Bedarf an Medikamenten, Kleidern und Nahrungsmitteln. Das können wir aus den Spenden abdecken, die wir bekommen. Zweitens solche, zu deren Lösung langfristige Planung nötig ist wie beim Bau von Wasser- oder Elektrizitätsanlagen. Das können wir zur Zeit nicht durchführen, deshalb brauchen wir Unterstützung von Hilfsorganisationen von außen.
Wie der Diakonie Katastrophenhilfe?
Ja. Bei einem langfristigen Projekt hat uns die Diakonie unterstützt: Zwei Wasseranlagen in Nadschaf haben wir geplant, und die Diakonie hat sie gebaut. Die sind jetzt fertig. Wir planen weitere solche Aufbauprojekte und sind dankbar für alle Hilfswerke, die uns dabei unterstützen. Das ist für uns auch deshalb wichtig, weil es dazu beiträgt, dass die Menschen sehen: Nicht nur Muslime, sondern auch Christen helfen Muslimen. Das entzieht denen, die Hass verbreiten, den Boden. Wir haben in Nadschaf absichtlich große Schilder angebracht mit der Aufschrift: Diese Projekte wurden von der Diakonie durchgeführt, einem christlichen Hilfswerk. Damit ist für mich auch ein politisches Ziel verbunden: Wenn die Menschen sehen, dass auch die christliche Welt sich für uns engagiert, haben Terroristen weniger Chancen zu sagen, das sind Ungläubige und wir müssen sie angreifen.
Werden christliche Hilfswerke wie die Diakonie in Ihrer Gemeinde überwiegend wahrgenommen als Gruppen, die helfen wollen, oder die mit den Besatzern ins Land gekommen sind?
Ich bin nach Deutschland gekommen mit dem Auftrag, persönlich die Dankbarkeit der Bevölkerung gegenüber der Diakonie zum Ausdruck zu bringen. Die Menschen haben verstanden, was Hilfe bedeutet, und keine Befürchtungen mehr, missioniert zu werden. Sie sind überzeugt, dass diese Organisationen ihnen helfen wollen - ganz besonders die deutschen, weil man weiß, dass die Deutschen gegen den Krieg waren.
Welche Art Unterstützung brauchen Sie - vor allem Geld oder auch Fachleute?
Fachkräfte gibt es eigentlich im Irak genug, zumal jetzt, wo viele zurückgekommen sind. Im Moment brauchen wir vor allem finanzielle Hilfe. Damit können wir in Aufbauprojekten auch vielen Menschen einen Arbeitsplatz bieten und so zusätzlich die soziale Lage verbessern.
Betreibt die Moschee Gesundheitseinrichtungen?
Ja. In der Gesundheitsversorgung hat die Boratha-Moschee sich bisher auf die Stadt Nadschaf konzentriert, weil sie ein religiöses Zentrum ist, die jedes Jahr von 20 Millionen Pilgern besucht wird. Dort muss das Gesundheitswesen funktionieren, damit nicht Krankheiten eingeschleppt werden. Wir haben dort sechs Krankenhäuser mit Medikamenten, Betten und medizinischem Material versorgt. In kleinerem Umfang haben wir auch in anderen Städten, etwa in Mossul, Krankenhäuser unterstützt.
Ist es für eine schiitische Moschee schwierig, in Mossul und im kurdischen Nordirak zu helfen, wo die Mehrheit Sunniten sind?
Mossul liegt nicht im kurdischen Autonomie-Gebiet; dort leben Araber, Kurden und Turkmenen, und unter all diesen Gruppen gibt es Sunniten und Schiiten. Doch Sie haben Recht, die Mehrheit der Kurden sind Sunniten. Weil aber Kurden und Schiiten beide von Saddam Hussein unterdrückt wurden, haben sie auch früher schon zusammengearbeitet. Auch heute arbeiten Kurden und Schiiten gut zusammen.
Ist Ihre Moschee auch im Schulwesen tätig?
Ja. Das wurde vom Regime Saddams völlig vernachlässigt. Es gibt keine Tische und Stühle mehr, die Gebäude sind nie repariert worden und die Schüler haben kein Schreibmaterial. Die Boratha-Moschee hat vielen Schulen in Schiiten-Gebieten und in Kurdistan geholfen und dafür viel Geld verwendet. Wir unterstützen auch Studenten der Universitäten in Bagdad über 26 Studenten-Organisationen - finanziell, mit Unterrichtsmaterial, manchmal mit Hilfe zum Wohnen. Außerdem haben wir zwei Zentren gebaut für junge Leute, die sich mit Computern und Internet beschäftigen wollen. In den vergangenen 40 Jahren war das alles verboten, sodass die Jugend kaum etwas von der Welt erfahren hat. Sehr wichtig ist uns auch ein Lernzentrum für Frauen in der Moschee, denn Frauen hatten nie die Gelegenheit zu lernen. Weiter unterstützen wir junge Leute, die Sport treiben wollen. Vier Sportzentren haben wir und planen ein weiteres großes in der Moschee anzulegen. Und wir haben Zentren eröffnet, die speziell Kinder und Jugendliche betreuen. Unter Saddam wurden viele vernachlässigt, die Kindersterblichkeit war sehr hoch. Auch Ferienlager für Schüler und Studenten haben wir seit vergangenem Jahr - nur zur Erholung, ohne politische oder religiöse Beeinflussung.
Das sind umfangreiche Programme. Wie werden die finanziert? Allein aus Spenden oder auch aus dem Aufbaufonds, den die Übergangsregierung verwaltet?
Sie denken vielleicht, dass wir über Millionen Dollar verfügen. Aber so viel Geld haben wir nicht. Wir bekommen kein Geld von der Regierung. Unsere Finanzquellen sind erstens Spenden direkt an uns - wir sind ja eine der größten Moscheen in Bagdad. Die zweite Quelle ist die Zentrale von Ayatollah al-Sistani in Nadschaf, die von Schiiten aus der ganzen Welt - etwa 250 Millionen Menschen - Spenden erhält. Dazu kommt: Wenn wir für ein Projekt wie die Renovierung einer Schule Material kaufen wollen, dann sagen viele Geschäftsleute, wir geben das zum halben Preis oder stellen Arbeiter ab. Auch deshalb ist es sehr wichtig, dass Hilfswerke mit örtlichen Organisationen zusammenarbeiten. Die wissen, wie man Material am billigsten bekommt. Wenn internationale Hilfswerke ihre Projekte selbst durchführen, verlieren sie unter Umständen sehr viel Geld.
Im Übrigen nehmen wir von ausländischen Hilfswerken kein Geld an. Sondern wenn jemand uns helfen will, schlagen wir ein Projekt vor, und wenn die Organisation das durchführen möchte, bringen wir sie mit Unternehmern in Verbindung, die es ausführen können. Wenn wir Geld direkt annehmen würden, wäre das vielleicht billiger. Aber das tun wir zumindest am Anfang nicht, weil erst Vertrauen zwischen uns und dem ausländischen Partner wachsen muss.
Ausländische Hilfswerke sind ein Ziel von Anschlägen. Trifft das auch Ihre Projekte?
In den schiitischen Gebieten, wo wir mit örtlichen Gruppen zusammenarbeiten, ist so etwas bisher nicht passiert. Anschläge sind vorgekommen, wo Hilfswerke ihre Projekte alleine durchführen wollten. Das ist natürlich bedauerlich. Aber wer mit uns zusammenarbeitet, ist nicht gefährdet. Wir versuchen Schutz zu gewährleisten, indem wir die Menschen, die von dem Projekt profitieren, verantwortlich machen. Bisher hat das geklappt. Als zum Beispiel die Mitarbeitenden der Diakonie von Bagdad nach Nadschaf gefahren sind, wussten wir, ein bestimmter Teil der Strecke ist gefährlich. Deshalb haben wir Leute zu ihrem Schutz mitgeschickt. Das ist dann auch sicher abgelaufen.
Würde ein Rückzug der US-Truppen die Sicherheitslage verbessern oder verschlechtern?
Der sofortige Abzug der Truppen wäre eine Katastrophe. Das könnte zu einem Bürgerkrieg führen. Denn die irakische Übergangsregierung hat bisher nicht die Möglichkeiten, die Lage zu kontrollieren. Bewaffnete Gruppen, die vom Ausland unterstützt werden, würden das sofort ausnutzen und Angriffe verüben. Saddam hat kurz vor seinem Sturz absichtlich alle Waffenlager offen gelassen und viele Parteigänger und Iraker aufgefordert, sich zu bedienen. Deshalb sind jetzt sehr viele Waffen verbreitet. Außerdem gehen wir davon aus, dass die USA an der Situation nicht unschuldig sind. Es gibt keine Belege dafür, aber es kann sein, dass die Amerikaner versuchen, eine instabile Lage im Irak zu schaffen, damit sie die Chance haben, länger zu bleiben.
Welche “Ausländer” unterstützen die bewaffneten Formationen?
Zunächst glauben wir, dass nach dem Sturz Saddams die Terror-Organisationen in Afghanistan, wo das Taliban-Regime zusammengebrochen war, ihre Anhänger aufgefordert haben, in den Irak zu gehen. Deshalb kamen diese Leute quasi mit den Amerikanern ins Land und haben versucht, hier ein neues Zentrum des Terrors zu bilden. Das haben die USA vielleicht gewusst, aber ihnen war das willkommen, damit sie diese Organisationen im Irak angreifen können. Allerdings greifen sie dabei auch die irakische Bevölkerung an. Man vermutet außerdem, dass Terror-Gruppen von Menschen verschiedener Staatsangehörigkeit aus dem Ausland Finanzhilfe erhalten - von Syrien, Jordanien und Ägypten, aber auch von nichtstaatlichen Organisationen aus Saudi-Arabien. Dort hält man diese Gruppen für muslimischen Widerstand gegen die US-Politik, obwohl das damit nichts zu tun hat.
Machen sich die USA dadurch, dass sie bei ihren Angriffen auf Terror-Gruppen auch viele Iraker töten, nicht selbst Feinde im Irak?
Natürlich treffen die Angriffe der Amerikaner viele Unschuldige, und die Iraker sind deshalb wütend. Aber auf der anderen Seite hören wir viele Hilferufe aus Städten wie Falludscha oder Samarra, wo Terroristen sich konzentrieren. Denn die wollen dort mit Zwang ein religiöses System durchsetzen, das die Bevölkerung nicht will. Doch wer das ablehnt, wird umgebracht.
aus: der überblick 04/2004, Seite 123