Streit um die Bestrafung in Norduganda
Der Internationale Strafgerichtshof möchte den Anführern der nordugandischen Rebellenorganisationen den Prozess machen. Dagegen wehren sich Teile der von ihr drangsalierten Bevölkerung. Sie möchten die zu Außenseitern gewordenen Kämpfer auf traditionelle Weise wieder in die Gemeinschaften integrieren.
von Erin K. Baines
Der Konflikt in Norduganda zwischen der Rebellenorganisation LRA (Lord's Resistance Army) und der ugandischen Regierung hält nun schon 20 Jahre an. Schätzungsweise 66.000 Kinder und Jugendliche wurden von der LRA verschleppt und zu Kindersoldaten und Sexsklavinnen gemacht. Eine unbekannte Zahl an Jugendlichen hat sich lokalen Milizen und den Regierungstruppen, der Ugandan People's Defense Force (UPDF), angeschlossen, um die LRA zu bekämpfen. Manche Zivilisten kollaborieren mit der LRA oder der Regierung, um sich selbst zu schützen oder um wirtschaftliche Vorteile zu erhalten. Die Grenzen zwischen Opfer und Täter sind fließend.
Beide Konfliktparteien haben entsetzliche Gräueltaten an der Zivilbevölkerung begangen: Vergewaltigung, Verstümmelung, Demütigung, Folter, Mord, Körperverletzung, Brandstiftung, Plünderung, Verschleppung, Versklavung und Freiheitsberaubung. Bis zu 90 Prozent der Bevölkerung im Norden - dem Acholi-Land, benannt nach der ethnischen Gruppe der Acholi, welche die Region und auch Teile des Südsudans bevölkert, - lebt in Flüchtlingslagern. Diese intern Vertriebenen können ihre Felder nicht mehr bewirtschaften und hängen am Tropf der UN-Nahrungsmittelhilfe. Die Flüchtlingslager sind in schlechtem Zustand und bieten kaum Schutz. Um nicht von der LRA verschleppt zu werden, pendeln Kinder allabendlich aus den Lagern in die relative Sicherheit der Stadtzentren. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen (2001-2004) waren es bis zu 40.000 Kinder. Die Regierungstruppen waren nicht in der Lage oder nicht willens, sie zu beschützen.
Im Januar 2004 nahm Luis Moreno Ocampo, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC), auf Antrag der ugandischen Regierung die Ermittlungen gegen die LRA auf. Zur großen Überraschung des Anklägers begannen örtliche Friedensaktivisten sowie kulturelle und religiöse Instanzen unmittelbar danach, gegen den ICC und seine Ermittlungen zu protestieren. Sie forderten, dass man ihnen statt dessen die Möglichkeit geben sollte, mit den Verantwortlichen der LRA auf Acholi-Art fertig zu werden. Mit lokalen Versöhnungstraditionen wollten sie das gemeinschaftliche Zusammenleben wiederherstellen und dauerhaften Frieden erreichen.
Mit solchen Forderungen rücken scheinbar entgegengesetzten Vorstellungen vom Strafzweck ins Blickfeld: lokale Ansätze mit dem Schwerpunkt auf Wiedereingliederung (restorative justice) versus internationale Ansätze mit dem Hauptaugenmerk auf Gerechtigkeit und Vergeltung (retributive justice). Damit werden einige der Gründungsprinzipien und Ideale des Internationalen Strafgerichtshofes in Frage gestellt, bevor die erste Verhandlung auch nur begonnen hat.
Es ist sehr ungewöhnlich, dass eine Bevölkerungsgruppe, die Opfer von Verbrechen geworden ist, sich bei der Regierung für eine Generalamnestie für die Rebellenführer einsetzt, von denen sie so grausam misshandelt worden ist (vergl. den Beitrag von Bernd Ludermann in "der überblick" 3/2005). Die ugandische Regierung hat der Bitte stattgegeben und 1999 ein Amnestiegesetz erlassen, das im Jahr 2000 in Kraft getreten ist. Eine Kommission wurde eingesetzt, um die Rückkehr der Rebellen zu fördern. Wer dem gewaltsamen Kampf abschwört, soll keine Anklage vor Gericht fürchten müssen.
Friedensaktivisten, religiöse und kulturelle Anführer in Norduganda sind der Überzeugung, dass die Amnestie durch Friedensverhandlungen und ein Friedensabkommen zu ergänzen ist. Der katholische Erzbischof Jean Baptiste Odama, Führer der interreligiösen Friedensinitiative Acholi Religious Leaders Peace Initiative (ARLPI), steht auf dem Standpunkt, dass "die Anwesenheit des Gerichtshofes und seine Aktivitäten die Gefahr mit sich bringen, die Bemühungen um Vertrauensbildung und Friedensgespräche mit den Rebellen zu unterlaufen". Und er fragt: "Wie können wir LRA-Soldaten erzählen, dass sie aus dem Busch kommen und Amnestie erhalten sollen, wenn ihnen gleichzeitig ein Haftbefehl des ICC droht?"
Acholi-Führungspersönlichkeiten haben Reinigungszeremonien durchgeführt, um das Vertrauen in die Amnestie zu stärken. Dazu haben sie die Tradition nyono ton gweno (das Ei-Zertreten als Symbol der Reinigung) abgeändert. Frühere LRA-Kämpfer haben sich nach ihrer Rückkehr in Massenzeremonien diesen Ritualen unterzogen.
Dabei hatte Ocampo durchaus versucht, auf die lokalen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen und gleichzeitig, dem Anliegen des ICC, dem internationalen Strafrecht zum Durchbruch zu verhelfen, zu folgen. Er hat die Anklageschriften gegen die LRA zurückgehalten, um Ende 2004 einer neuen Friedensinitiative unter Leitung der früheren Ministerin Betty Bigombe eine Chance zu geben. Als diese Bestrebungen Anfang 2005 scheiterten und in den folgenden sechs Monaten keine Anzeichen für irgendeinen Fortschritt zu erkennen waren, gelangte Ocampo zu der Überzeugung, dass es an der Zeit sei einzuschreiten. Im Oktober 2005 hat der ICC gegen fünf Befehlshaber der LRA öffentlich Anklage erhoben. Mit einem wachsamen Blick auf die möglichen Folgen der Ermittlungen des ICC für ihre Vermittlungsversuche bekannte Bigombe enttäuscht und frustriert: "Sie hätten sich einfach mehr Zeit nehmen müssen, um die Situation zu analysieren und wirklich zu begreifen. Es hätte sie nicht viel gekostet, noch zwei Jahre zu warten und dem Friedensprozess eine Chance zu geben."
Im Mai 2006 wurde von Riek Machar, Vize-Präsident des Südsudans, ein neuer Friedensprozess eingeleitet. Das verstärkte in Norduganda die Wahrnehmung, dass das Einschreiten des ICC zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt erfolgte und unangemessen ist. Die Regierung des Südsudans hatte ein Interesse an der Beendigung des Konflikts zwischen der LRA und der Regierung. Sie wollte den Verschleppungen und Massakern der LRA auf eigenem Staatsgebiet ein Ende machen und die Rahmenbedingungen für das noch junge Friedensabkommen im Südsudan stabilisieren. Nach einer Reihe vertrauensbildender Maßnahmen gegenüber der LRA konnte Machar Ugandas Präsident Yoweri Kaguta Museveni davon zu überzeugen, dass Friedensgespräche möglich seien. Diese Gespräche von Juba, wie sie inzwischen genannt werden, haben sich in den Folgemonaten zu den aussichtsreichsten der über 20-jährigen Konfliktgeschichte entwickelt.
Der ICC wird in Norduganda weiterhin als ein wesentliches Hindernis für den Erfolg der Gespräche wahrgenommen. Das LRA-Oberkommando verweigert die Teilnahme an den Gesprächen in Juba, weil die Anklage ihre Sicherheit bedrohe. Die LRA hat wiederholt mit dem Abbruch der Gespräche gedroht, falls die Anklagen weiter verfolgt werden. Auf der anderen Seite stehen der Chefankläger und die Anhänger des ICC. Sie argumentieren, dass die Rücknahme der Anklagen zum jetzigen Zeitpunkt - bevor Frieden gesichert ist und ohne dass es einen alternativen Rechenschafts-Mechanismus gibt - einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen würde. Kriegsverbrecher könnten dies als Signal auffassen, dass Immunität gewährt wird, wenn ein Angeklagter nur genug Druck auf den Gerichtshof ausübt. Die Acholi-Führer halten dagegen, dass die vorhandenen Einrichtungen der Bestrafung und Versöhnung ausreichend sind.
Das traditionelle Rechtswesen der Acholi beruht auf mündlichen Überlieferungen und berücksichtigt die Art und Schwere des begangenen Delikts. Auch wenn die Rituale von Clan zu Clan variieren, insgesamt teilen alle Acholi einige grundlegende Prinzipien und Vorstellungen von Gerechtigkeit. Dazu gehört die freiwillige Unterwerfung unter das Verfahren, Wahrheitsfindung, das Eingeständnis von Fehlverhalten und die Versöhnung durch symbolische Akte sowie spirituelle Besänftigung.
Das bekannteste Verfahren der Acholi in diesem Zusammenhang ist das Ritual mato oput (das Trinken der bitteren Wurzel). Mato oput wird bei Totschlag und Mord durchgeführt und beinhaltet dieselben Grundsätze von Wahrheit, Verantwortung, Entschädigung und Wiederherstellung von Beziehungen wie andere Strafverfahren. Unabhängigkeit und Transparenz des Verfahrens sind gewährleistet, da Älteste als neutrale Schiedsrichter über den Konflikt richten. Wurde ein Verbrechen begangen, schreiten die Ältesten ein, um die streitenden Clans zu trennen und Vergeltungsmaßnahmen zu verhindern (cooling-down period genannt). Dann beginnt eine Zeit der Pendeldiplomatie, bei der die Ältesten den Tathergang klären und mit Hilfe von Zeugen auf beiden Seiten der Konfliktparteien Beweise erheben.
Dann bringen die Vermittler beide Clans zusammen, um einen Konsens über das Geschehene zu erzielen und zu entscheiden, in welcher Höhe Entschädigungen des rechtsbrüchigen Clans an den geschädigten Clan zu zahlen sind. Sind diese Entschädigungssummen in voller Höhe geleistet worden, wird das Ritual mato oput vollzogen. Auf diese Weise werden die Beziehungen zwischen den Clans wiederhergestellt.
Die Zeremonie ist höchst komplex und dauert oft einen ganzen Tag. Beide Clans müssen Essen und Trinken beisteuern, das dann untereinander ausgetauscht, gekocht und verspeist wird, um die Wiedervereinigung und wiederhergestellte Harmonie zwischen ihnen zu besiegeln. Zum Höhepunkt der Zeremonie trinken Opfer und Täter einen Trank aus der bitterschmeckenden Wurzel des oput-Baumes, meist gemischt mit einem Gebräu namens kwete. Dieser Akt symbolisiert die Bereitschaft und Fähigkeit beider Clans, die zwischen ihnen herrschende Bitterkeit herunterzuschlucken. Gegen Ende der Zeremonie wird ein spirituelles Medium eingesetzt, das entscheiden soll, welches Familienmitglied des geschädigten Clans den Großteil der Entschädigungszahlungen erhalten soll. Das Geld wird dann als Mitgift für eine Braut verwendet und das aus dieser Beziehung hervorgehende Kind wird nach dem Verstorbenen benannt werden. Erst danach ist der Versöhnungsprozess formell abgeschlossen.
Die in dem Konflikt begangenen Verbrechen mit Hilfe von mato oput zu bewältigen, ist in vieler Hinsicht eine Herausforderung. Zunächst einmal wäre die Durchführung der Zeremonie auf der Basis von Einzelfällen völlig unpraktikabel. Viel zu viele Menschen sind getötet worden, und es wäre zudem schwierig festzustellen, wer wen getötet hat. Ist der Täter unbekannt, stellt sich die Frage, wer mit wem mato oput vollziehen soll. Wie soll dann die Pendeldiplomatie funktionieren, und wer soll in diesem Fall zugeben, wer wem was zugefügt hat? Noch schwieriger ist die Frage der Entschädigung. Im traditionellen Verfahren zahlt der verantwortliche Clan eine Entschädigung, weil das eine Form der Bestrafung ist, aber zugleich auch ein symbolischer Akt, der das ausgelöschte Leben ersetzen soll. Es ist unwahrscheinlich bis unmöglich, dass die Clans der Hauptverantwortlichen, der Befehlshaber der LRA, überhaupt Beträge in der dann notwendigen Höhe aufbringen könnten.
Es gibt noch weitere Schwierigkeiten. Die lokalen Befürworter des Verfahrens denken gemeinhin an die LRA, wenn sie von der Anwendung des mato oput in diesem Konflikt sprechen. Jedoch haben auch die Regierungstruppen, die UPDF, im Verlauf der Auseinandersetzungen Verbrechen wie Vergewaltigung, Folter, Körperverletzung und Tötung von Zivilisten in Flüchtlingslagern begangen. Schuldige Soldaten müssten eigentlich verhaftet und vor Militärgerichte gestellt werden, doch viele von ihnen werden einfach versetzt und überhaupt nicht zur Rechenschaft gezogen.
Problematisch ist außerdem, dass die Zwangsvertreibungen und Einschränkung der Bewegungsfreiheit sowie die Zerstörung von Besitz und Lebensgrundlagen durch die ugandische Regierung einen schwerwiegenden Rechtsmissbrauch darstellen. Sie wurde aber nicht zu Rechenschaft gezogen für den mangelhaften Schutz der Zivilisten in den Flüchtlingslagern, die gewaltsame Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen für die lokalen Milizen oder die flächendeckende Bombardierung der von der LRA besetzten Gebiete während der Operation Iron Fist im März 2002, die den Tod verschleppter Kinder und Jugendlicher und eine Eskalation der humanitären Krise im Norden und Osten des Landes zur Folge hatte.
Letztendlich gibt es innerhalb der Acholi-Bevölkerung aber auch einige Gruppen, die nicht hinter dem mato oput und anderen traditionellen Bestrafungsformen stehen oder für die es weniger geeignet ist. Die meisten religiösen Führer befürworten zwar derartige Rituale und Traditionen, doch wiedergeborene Christen lehnen sie als satanisch ab. Frauen sind in die Entscheidungsfindung und Verhandlungen des mato oput-Verfahrens nicht eingebunden. Da aber gerade Frauen und Mädchen gezielt Opfer von sexueller Gewalt geworden sind und sich ihre Bedürfnisse und Interessen in einem Justizverfahren von denen der Männer unterscheiden, ist es unwahrscheinlich, dass im mato oput ihre Interessen ohne signifikante Änderungen überhaupt vertreten werden können.
Eine weitere Gruppe, für die mato oput nicht optimal ist, sind die Jugendlichen. Sie sind wenig vertraut mit diesem traditionellen Verfahren. Vor Ausbruch des Konfliktes fand die traditionelle Erziehung abends statt. Frauen und Jugendliche versammelten sich um die gemeinsame Feuerstelle, wo die Ältesten kulturelle Gesetze und Traditionen weiter gaben (wang-oo). Das Leben in überfüllten Flüchtlingslagern in ständiger Angst vor Übergriffen der LRA und angesichts der von der UPDF verhängten Ausgangssperre ist die Tradition des wang-oo vollständig zum Erliegen gekommen. Die Jugendlichen stellen aber die Mehrheit der Acholi-Bevölkerung und waren sowohl Haupttäter als auch Hauptopfer der durch LRA und UPDF verübten Gewalt. Wenn alle Betroffenen von den Verfahren profitieren sollen, muss mato oput umgestaltet und neu legitimiert werden.
Sollen führende LRA-Befehlshaber zur Rechenschaft gezogen werden, braucht es kreative Ideen und Kooperation, wenn man damit internationalen Standards und den Nöten der Opfer gleichermaßen gerecht werden will. Nicht alle betroffenen Opfer oder Täter sind Acholi und ergänzende - traditionelle oder nicht-traditionelle - Verfahren müssen entwickelt werden, um auf nationaler Ebene Gerechtigkeit zu üben und alle Seiten zur Verantwortung zu ziehen. Die Gespräche von Juba sind daher nicht nur eine historische Chance, Frieden im Land zu erreichen, sondern sie bieten auch eine einzigartige Gelegenheit, mit den Überlegungen zu beginnen, wie lokale Ansätze von Gerechtigkeit und Versöhnung besser kommuniziert werden und inwieweit sie internationale Ansätze ergänzen können. Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, Teile traditioneller Rechtswesen, die internationalen Standards genügen, zu überarbeiten und anzugleichen. Dies setzt aber auch voraus, dass die internationalen Strategien so umgestaltet werden, dass sie zu der Lebenswirklichkeit der Menschen in Norduganda passen.
aus: der überblick 01/2007, Seite 28
AUTOR(EN):
Erin K. Baines
Prof. Erin K. Baines ist Koordinatorin für die Forschung im Rahmen des "Justice and Reconciliation Project"
(JRP) in Uganda und wissenschaftliche Lehrkraft am "Liu Institute for Global Issues" der "University of British Columbia", USA.