In Salvador rappt man anders als in São Paulo
Salvador im Nordosten Brasiliens ist eine vorwiegend von Afro- Brasilianern bewohnte Millionenstadt. Seit 2003 sind brasilianische Bildungseinrichtungen verpflichtet, die schwarze Kultur zu fördern. Welche Rolle spielen dabei Basisbewegungen?
von Hans Spitzeck
Batt, Batt, Buum zweimal kurz, einmal lang: Mit diesem Schlag ruft die große Trommel zum Tanz. Die Gruppe beginnt sich zu bewegen. In einer festgelegten Schrittfolge und einstudierter Formation, in drei Reihen zu je vier Personen. Hinten links und rechts tanzen zwei junge Männer, die anderen zehn sind junge Frauen. Sie heben ihre Arme und bewegen sich im Takt der Musik. Der Oberkörper folgt den Armen nach links und rechts. Batt, Batt, Buum - eine wiegende und weiche Bewegung, sich drehend, kreisend und zurück an den Platz. Die erhobenen und leicht angewinkelten Arme wirken eckig wie ein Kontrapunkt zum Gesamtbild. So tanzt die Jugendgruppe auf der Insel Maré.
Die kleine Insel liegt in der großen Bucht Bahia de Todos os Santos, an deren nördlichem Ufer die Hauptstadt des kolonialen Brasiliens errichtet wurde, und gehört heute zum Stadtgebiet von Salvador. Auf ihr wohnen ausschließlich Nachfahren von Sklaven. Die etwa einhundert Familien leben vornehmlich vom Fischfang und von Meeresfrüchten.
Maria José von der Fischereigenossenschaft hat uns am Festland abgeholt und mit einem Fischkutter aus Glasfiber nach Maré übergesetzt. Maria José ist 35 Jahre alt und gerade Großmutter geworden. Sie selbst stammt von der Insel und kennt sich aus mit Meeresfrüchten. Denn deren Ernte ist ihr Beruf: Mit einem Löffel kratzt sie in ufernahen Zonen Muscheln von den Felsen. Besonders in den Schonzeiten, wenn der Fischfang ruhen muss, ist dies eine wichtige Eiweißquelle für ihre Familie. Leider klappt die Vermarktung nicht. Denn der Großhändler zahlt einen niedrigen Preis. Da lohnt es nicht, die geringen Mengen zu verkaufen. Und zum Aufbau eigener Vermarktungswege reichen die Mittel nicht. Denn in der tropischen Sonne ist die Kühlung zu teuer und der Transport der Muscheln in Wasser wäre zu aufwändig.
Der Ökumenische Entwicklungsdienst der brasilianischen Kirchen (CESE) hat der Genossenschaft auf der Insel vor einigen Jahren ermöglicht, ihre mit der Zeit schadhaft gewordenen Glasfiberboote zu reparieren. In einem Kurs haben sich die Bootsbesitzer die neue Technik angeeignet. Die CESE (vgl. Kasten) unterstützt Initiativen besonders aus der indigenen und afro-brasilianischen Bevölkerung und konzentriert sich auf die Amazonasregion sowie den armen Nordosten Brasiliens. Dazu gehört Salvador, die Hauptstadt des brasilianischen Nordostens mit ihren gut 2,6 Millionen Einwohnern.
An der Peripherie liegt Valeria, ein Stadtteil wie viele andere. Im Kulturzentrum dort sind die jungen Leute sich einig: "Es ist, als würden wir nicht existieren." In Valeria, so sagen sie, finden sie keine Arbeit, die Gesellschaft scheint sie vergessen zu haben. "Auf den Karten von Salvador ist unser Stadtteil nicht eingezeichnet. Aber wir leben hier." In der Tat: Das Viertel hat feste Häuser, Straßen und eine Stromversorgung. Die Wasserleitung hingegen bleibt häufig trocken. Für Stunden fällt die Versorgung mit Trinkwasser aus.
Im Kulturzentrum mit dem Namen "Lar da Joana Angélica" können die Jugendlichen Musik machen. Sie mischen Hip-Hop, Rap und traditionelle Musik aus dem Landesinneren miteinander. Jahrhunderte lang waren Sänger im Nordosten Brasilien zugleich Geschichtenerzähler. Moritaten in Versen und mit vielen Strophen, die sich zu einem langen Band verbinden, gaben dieser Gattung ihren Namen: Cordel, wie das deutsche Wort Kordel für einen starken Bindfaden.
In den Hip-Hop-Texten findet sich diese Tradition wieder. "Das müsst ihr respektieren" heißt einer der Titel. Zwei Sänger und zwei Chöre links die Mädchen, rechts die Jungs rufen sich wechselseitig zu, wiederholen und verstärken: "Das müsst ihr respektieren, das müsst ihr respektieren: Wir sind Schüler und wir sind kreativ, wir brauchen mal 'ne Hilfe, das müsst ihr respektieren. Wenn ich Mist mache und Rap mit Embolada mixe, dann geht's an der Haltestelle ab, das müsst ihr respektieren. Wir sind schwarz, wollen Leute sein. Wir handeln und schreiten zur Aktion. Mehr Schwarze an die Unis. Das müsst ihr respektieren."
Mariângela, meine Begleiterin von der CESE, fragt kritisch nach: "Warum nur macht ihr nordamerikanische Musik?" "Aber das ist doch unsere Musik. Das ist schwarze Musik. Und außerdem: Wir machen brasilianischen Hip-Hop. Der Hip-Hop ist überall anderes. Wir rappen anders als die in São Paulo." Und was bringt den Jugendlichen die Musik? "Wir sind Schwarze und wollen unsere eigene Kultur, deshalb kommen wir ins Kulturzentrum. Hip-Hop ist nur das eine. Wenn Jussara hier Theaterkurse anbietet, dann sind die auch voll."
Jussara ist die Leiterin des Kulturzentrums. "Kunst kann ein Beruf werden", sagt sie. "Simone studiert jetzt im dritten Semester Tanz, und was musste sie sich anhören: Das sei nichts für Schwarze, Ballet und so ein Zeugs. Und Edson, er kann Berufsmusiker werden, wenn er den Platz an der Hochschule bekommt." Kultur und Entwicklung sind miteinander verwoben: Kunsterziehung hilft Jugendlichen, sich zu entwickeln. Was ist schön, was gefällt mir? Sich selbst ausprobieren, ein Instrument lernen, auftreten und vor allem üben formen die jugendliche Persönlichkeit.
Die Jugendlichen von Valeria haben etwas Eigenes geschaffen. Der Auftritt in Salvador beim Festival der schwarzen Kultur habe es gebracht, sagen sie. Als wir uns den Mitschnitt vom Konzert ansehen, singen viele hier im Kulturzentrum gleich wieder mit und beginnen zu tanzen. Im Hintergrund hängt ein blaues Plakat: Unterstützt von der CESE.
Die Kulturarbeit hat Jussara aus eigener Kraft aufgebaut. Sie selbst ist Schwarze, früher hat sie für die katholische Kirche als Tagesmutter gearbeitet. Das war ihr nicht genug. Sie wollte mehr, ihre Ideen umsetzen und etwas schaffen, was den Jugendlichen eine Zukunft bietet. Mit einem Trägerverein im Rücken kann sie Zuschüsse der Stadt erhalten und mit kommunalen Einrichtungen zusammenarbeiten. So werden heute Nachmittag Erwachsene das Kulturzentrum Lar da Joana AngLla in Valeria aufsuchen, um lesen und schreiben zu lernen.
Ein drittes von der CESE unterstütztes Projekt ist in der Nähe des Stadtzentrums angesiedelt. Marcos Rezende empfängt uns im "Terreiro OxumarL", einer Kultstätte des Candomblé, der Religion vieler Afro-Brasilianer. Der Terreiro verfügt über verschiedene heilige Plätze unter großen Bäumen. Sie dienen zur Kontaktaufnahme mit den verschiedenen Gottheiten afrikanischen Ursprungs. Marcos ist Mitglied im Gemeindevorstand und verantwortlich für die Sozialarbeit. Sein Terreiro bietet für Jugendliche ein Nachmittagsprogramm an: Trommeln, afrikanischer Tanz. Insbesondere der Computerraum erfreut sich großer Beliebtheit.
"Natürlich wollen wir das Selbstbewusstsein der Jugendlichen stärken", sagt Marcos. "Wir haben jetzt gute Chancen, etwas für die schwarze Bevölkerung zu tun. Das Gesetz von 2003, das die Anerkennung der schwarzen Kultur in allen Bildungseinrichtungen vorschreibt, ist uns eine sehr große Hilfe." Endlich hat der Staat anerkannt, dass die Afro- Brasilianer eine eigene Kultur haben.
Erfreulicherweise wird dieses Gesetz von der Stadtverwaltung in Salvador mit Leben gefüllt. Dazu ist der Terreiro eine Partnerschaft mit der Stadt eingegangen. Er finanziert sein Programm für Jugendliche mit kommunalen Geldern. Stolz verweist Marcos auf das Messingschild am Hauseingang, das die überkommenen Rechte der Kultstätte anerkennt und garantiert.
Damit ist der Besitz des Terreiro an dem Grund- und Boden, auf dem die Kultstätte seit vielen Generationen ihren Platz hat, anerkannt und garantiert. Hoffentlich ein Schutz gegen die schnell vordringenden Betonburgen und Geschäftszentren ringsum.
Als religiöse Einrichtung ist der Terreiro weltanschaulich nicht neutral. Aber das Kulturangebot verfolgt kein missionarisches Anliegen und ist offen für alle. Dies ist auch eine Auflage der Stadt. Die afrikanischen Götter sind allerdings in Salvador überall präsent. Jeder kennt ihre Namen, ihre Eigenschaften, ihre Vorlieben und den Ruf der Trommel, der zu ihnen führt. Marcos dreht den Spieß um: "Uns geht es um die Religionsfreiheit. Verstehst Du? Wir wollen uns offen zur Religion unserer Vorfahren bekennen. Deshalb kämpfen wir gegen die Diskriminierung der schwarzen Religion." Er bezieht sich damit auf entstellende Darstellungen in der Öffentlichkeit und vor allem auf die fanatischen Predigten christlicher Charismatiker, die keine anderen Charismen neben sich dulden wollen.
In dem Stadtteil, in dem der Terreiro liegt, locken Drogen und Prostitution; viele Jugendliche wissen keinen anderen Weg, als ihnen nachzugeben. "Wir bemühen uns deshalb um die soziale Integration von Problemfällen", unterstreicht Marcos. "Natürlich können wir Drogen nicht dulden. Aber Stress kriegen die Leute zu Hause deswegen schon genug. Deshalb erteilen wir keine Hausverbote, wenn jemand mit Drogen im Terreiro rummacht. Wir reden mit ihnen auch wenn es schwer ist. Wir stecken mitten in den sozialen Problemen unseres Stadtviertels, und Drogen sind keine Lösung. Die Leute wissen das auch, und die meisten Jugendlichen, die Drogenkuriere sind, werden nicht alt."
Marcos vertritt in der schwarzen Bürgerbewegung eine Position, die sich für einen sozial engagierten Candomblé einsetzt. Denn die Götter führen zum Leben, wie Marcos glaubt. "Und keine schwarze Kultur ohne schwarze Religion", sagt er zum Abschied und lacht.
aus: der überblick 02/2006, Seite 102
AUTOR(EN):
Hans Spitzeck