Der Schriftsteller Moacyr Scliar lässt Fiktion und Wirklichkeit ineinander fließen
Moacyr Scliar ist ein zierlicher Mann jenseits der sechzig mit der wachen Miene eines Intellektuellen. Er spricht schnell, und er scheint noch dreimal schneller zu denken. Sein Humor verrät Schlagfertigkeit und ein hohes Niveau. Scliar, der Schriftsteller, Arzt, Jude und Gaucho, wie man die Bewohner des südlichsten brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul nennt.
von Anja-Rosa Thöming
Porto Alegre, die Hauptstadt dieses Bundesstaates, liegt näher an den spanischsprachigen Metropolen Buenos Aires und Montevideo in Argentinien und Uruguay als am brasilianischen Rio de Janeiro, ganz zu schweigen von Salvador de Bahia oder Manaus. Die Gauchos trinken heißen grünen Mate-Tee und rollen das "R" temperamentvoll wie die Argentinier, anstatt es nachlässig hinzuhauchen wie die anderen Brasilianer. Hier wurde der Schriftsteller geboren.
Porto Alegre ist heute eine bunte Metropole mit vielen Einwanderern aus den nördlich gelegenen Regionen Brasiliens. Vor fünfzig Jahren jedoch, als Moacyr Scliar ein Kind war, galt die Stadt als europäisch geprägter Ort mit vielen Zuwanderern aus Übersee und einer Architektur deutscher Ingenieure. Porto Alegre hatte den Ruf einer überschaubaren, angenehmen und sauberen Stadt. Die Bürger flanierten auf der Rua da Praia, der Hauptgeschäftsstraße des Zentrums mit ihren Boutiquen, gut sortierten Buchhandlungen und exklusiven Uhrenläden.
Heute gehen die Bürger der wohlhabenden Schichten nicht mehr ohne triftigen Grund ins Stadtzentrum. Entweder haben sie Sorge, überfallen zu werden, oder sie wollen mit den armen Bewohnern, die sich dort angesiedelt haben, nicht in Berührung kommen. So bleiben sie lieber in ihren schicken Wohnvierteln, in denen die Häuser hoch eingezäunt und viele Straßen bewacht sind.
Moacyr Scliar ist in Bom Fim, dem jüdischen Viertel Porto Alegres, aufgewachsen. Seine Eltern waren nicht vermögend. Die Familie litt keinen Hunger, aber es musste gespart werden. Trotzdem, so erinnert er sich, hatte seine Mutter immer Geld für Bücher übrig. Sie ging mit dem jungen Moacyr in die Rua da Praia zur Buchhandlung Livraria do Globo, und dort durfte er sich Bücher aussuchen. Den Reichtum der Familie machte aus, dass viel erzählt wurde. Moacyrs Eltern, der Onkel und die Nachbarn hatten vor allem Geschichten aus Russland zu berichten. Viele russische Juden waren vor den Pogromen, die während der Revolution von 1917 stattfanden, nach Südamerika geflüchtet. Das schwierige Leben der Einwanderer in einem fremden Land stand im Mittelpunkt der Geschichten, die Scliar in seiner Kindheit hörte. Später thematisierte er in seinen Büchern und Erzählungen immer wieder den Kulturschock der jüdischen Immigranten und ihrer Kinder. Doch ebenso entwickelt Scliar eine große Leidenschaft für die Imagination, die Fiktion, die dichterische Lüge.
Schon als Kind schrieb er die merkwürdigen Dinge auf, die ihm passierten. Als Schuljunge hatte Moacyr an einem Schreibwettbewerb teilgenommen. Er gewann den Wettbewerb zum Thema "Vatertag" mit einer als gefühlvoll gelobten Crônica und nahm den Preis - einen Gutschein für ein Paar Schuhe - entgegen.
Doch ihn einzulösen, erwies sich als überaus schwierig. Moacyr entschied sich im Schuhgeschäft des Preisstifters für ein Paar Schuhe aus Krokodilleder. Stolz stellte er sich als Sieger des literarischen Wettbewerbs vor, doch der Ladenbesitzer zeigte sich unbeeindruckt: Diese Schuhe seien nicht für den Literaturwettbewerb vorgesehen, stattdessen solle sich Moacyr mit einem Paar aus dem Angebotskorb begnügen. Dort lagen aber nur noch hässliche Schuhe ab Größe 44. Die Betretenheit des Jungen war dem Besitzer so unangenehm, dass er einen Handel vorschlug: Er könne die Schuhe mitnehmen, wenn er die Differenz zahlen würde. "So wurden wir handelseinig, und ich war wohl der erste brasilianische Schriftsteller, der für seinen Literaturpreis bezahlen musste", schließt die Geschichte um diese Begebenheit.
Die Anekdote bekommt einen Zug ins Absurde - eine Vorliebe Scliars -, wenn man die folgende Geschichte hört: Einige Jahre später gewann der begabte Junge den zweiten Preis bei einem internationalen Schülerwettbewerb. Der erste Preis wäre eine Europareise gewesen, aber er war mit seiner Belohnung, einer Schallplattensammlung, sehr zufrieden. Nach einiger Zeit holte er das Paket beim Postamt ab. Er hatte den Schalterraum schon fast verlassen, da rief der Postbeamte: "Warte mal, du musst noch die Steuern zahlen." - "Welche Steuern?" - "Die Import-Steuern". Moacyr bezahlte die für ihn horrende Summe, ärgerlich, dass sich hier offenbar die gleiche Situation ständig zu wiederholen drohte. Zu Hause packte er Platten mit tschechischer Folklore-Musik aus, die ihm höchst seltsam vorkam und die er dann einem folklorebegeisterten Cousin vermachen konnte.
Moacyr Scliar ist ein sehr produktiver Schriftsteller. Während des zeitaufwendigen Medizinstudiums und auch bei seiner Arbeit in einem Sanatorium für Lungenkranke lernte er, überall und zu jeder Gelegenheit zu schreiben. Allerdings habe er sein erstes Buch - "Geschichten eines angehenden Arztes" (1962) - viel zu früh veröffentlicht, und er rät anderen schreibbegeisterten Menschen, das auf keinen Fall zu tun. Selbstironisch kommentiert Scliar sein Debüt: "Jedes Mal, wenn ich mein Buch irgendwo sehe, kaufe ich es ohne zu zögern - ich will nicht, dass andere es lesen."
In Brasilien kann man vom Bücher schreiben nicht reich werden, selbst wenn man so viel und so erfolgreich veröffentlicht wie Scliar. Daher hat er sich, wie viele seiner Kollegen, zusätzlich auf das Schreiben von Crônica verlegt. Das sind feuilletonistische Zeitungsglossen, die mit Humor und Leichtigkeit alltägliche, aber auch skandalöse oder traurige Ereignisse kommentieren. Sie sind nicht so betont intellektuell wie Glossen in deutschen Zeitungen, sondern suchen die Nähe des Lesers.
Der Autor spricht dabei häufig in der Ich-Form und führt einen Dialog mit seinem Publikum - so, wie er auch beim Plausch auf der Straße hätte entstehen können. Eine besondere Spezialität Scliars ist es, kleine Geschichten zu schreiben. Manchmal reicht ein Satz wie etwa "Nike vernichtet fünfundvierzigtausend Paar Plagiat-Turnschuhe", und Scliar verfasst eine sarkastische, gesellschaftskritische und unterhaltsame Geschichte.
Ein anderes Beispiel: Einer Meldung der Zeitung Folha de São Paulo war zu entnehmen, dass arme Familien aus Nordbrasilien Särge für die Aufbahrung ihrer toten Angehörigen ausleihen können; die Särge sollen danach wiederverwendet werden. In Scliars Geschichte mit dem Titel "Letzter Wille" wird der Sarg für den alten Pedro etwas zu früh geliefert - er lebt noch. Aber der gefällt ihm so gut, dass er seine Familie zu sich ruft und verkündet: "Mein letzter Wille ist es, in diesem Sarg beerdigt zu werden."
Die Familie ist bestürzt. Der älteste Sohn versucht ihm beizubringen, dass das unmöglich sei. Die Ehefrau versichert ihm, auf den Sarg komme es doch gar nicht an, er werde so oder so in den Himmel kommen. Doch Pedro bleibt hart: "Das mag sein, aber ich will in diesem Sarg dort ankommen. Entweder beerdigt ihr mich in diesem Sarg, oder ich sterbe nicht." Er stirbt wirklich nicht, und der Leser fragt sich, ob Pedro länger durchhält als der Sarg selbst. Denn der ist nur aus Holz, und die kleinen Tierchen fahren von dem Streit unbekümmert fort, das Holz abzutragen. Die Angehörigen wiederum sind hin und her gerissen: Einerseits sind sie auf der Seite des alten Pedro, andererseits bedauern sie im Stillen die schöne Aufbahrung, die ihnen selbst nun wohl nicht vergönnt sein wird.
So mischen sich bei Moacyr Scliar immer wieder Fiktion und Realität. Seine Geschichten leben sowohl von sprühender Fantasie als auch von Erfahrungen und Beobachtungen des Alltags und der politischen Entwicklung. Er lebt nicht als abgekapselter Künstler, sondern als integrierter Bürger, als cidadão, wie sich die Selbstbewussten und Fortschrittlichen unter den Brasilianern nennen.
Literaturhinweis
Albert von Brunn, "Die seltsame Nation des Moacyr Scliar": Jüdisches Epos in Brasilien; Frankfurt / Main 1990.
Kostprobe aus Scliars WerkDer Glanz des FalschenSehr geehrte Herren! Freunde haben mir erzählt, dass Sie 45.000 Paar imitierte Turnschuhe der Marke Nike vernichten wollen und dass zu diesem Zweck bereits eine spezielle Maschine angeschafft worden sei. Ich schreibe Ihnen diesen Brief, weil ich eine Bitte habe. Eine dringende Bitte. Zunächst einmal muss ich Ihnen sagen, dass ich nichts gegen die Vernichtung von Turnschuhen oder Barbiepuppen oder sonstigen Fälschungen habe. Schließlich ist es Ihre Marke, und wer diese Marke unerlaubt benutzt, weiß, dass er ein Risiko eingeht. Also vernichten Sie. Mit Maschine oder ohne Maschine, ganz gleich. Es ist Ihr gutes Recht. Aber bitte, bitte legen Sie ein Paar, nur ein einziges Paar der zu vernichtenden Turnschuhe für den Schreiber dieses Briefes zurück. Für diese Bitte gibt es zwei Gründe. Erstens bin ich ein großer Fan der Marke Nike, sogar ihrer Fälschungen. Zweitens, und das ist das Wichtigste, bin ich arm. Arm und ungebildet. So ungebildet, dass ein freundlicher Nachbar diesen Brief für mich schreibt und ihn auch zur Post bringt, denn ich habe kein Geld für das Porto - ich bin sehr arm. Aber Armut hindert nicht am Träumen, und ich habe schon immer von Nike-Turnschuhen geträumt. Nike-Turnschuhe zu besitzen ist für mich sehr wichtig. Meine Freunde werden mich mit anderen Augen sehen. Ich werde natürlich sagen, dass ich sie von Ihnen geschenkt bekommen habe - sie sollen nicht denken, ich hätte sie geklaut. Deswegen werden sie mich aber nicht weniger bewundern. Nicht jeder hat das Glück, dass er Nike-Schuhe geschenkt bekommt, auch nicht imitierte. Es spielt schließlich überhaupt keine Rolle, dass sie nicht echt sind. In meinem Leben ist ja alles so. Ich wohne in einer Hütte, die man nicht als Haus bezeichnen kann, aber ich sage Haus. Ich trage ein T-Shirt von einer amerikanischen Universität mit einer Aufschrift, die ich nicht lesen kann, aber ich bin noch nie auch nur in die Nähe einer Universität gekommen - das T-Shirt habe ich im Müll gefunden. Die Turnschuhe müssen groß sein, obwohl ich kleine Füße habe. Je größer, um so mehr fallen die Turnschuhe auf. Und wie sagt mein Nachbar: Auffallen ist alles im Leben." Moacyr Scliar Diese Glosse erschien am 9. August 2000 in der Tageszeitung "Folha de São Paulo". |
aus: der überblick 02/2002, Seite 93
AUTOR(EN):
Anja-Rosa Thöming:
Anja-Rosa Thöming ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Musik, Kultur und Leben. 2000/01 hat sie in Porto Alegre gelebt und für deutsche Tageszeitungen aus Brasilien berichtet.