Jerusalem ist mehr als eine warme Mahlzeit
Deine Augen werden Jerusalem sehen, den Ort der Ruhe, das Zelt, das man nicht abbricht, dessen Pflöcke man niemals mehr ausreißt, dessen Stricke nie mehr zerreißen. (Jesaia 33, 20b)
von Ulrich Dehn
Ein Zelt, das nicht mehr abgebrochen wird – das bedeutet, kein Nomade mehr zu sein, der unstetig von Weideland zu Weideland ziehen muss, sondern sesshaft, zur Ruhe gekommen zu sein. Dann kann ich jeden Morgen auf die gleiche Bergsilhouette blicken, mit dem Wissen, wohin ich eigentlich gehöre. Dieser alte Traum ist so aktuell wie eh und je. Und er ist so unerfüllt wie eh und je. Ein Zelt, das nicht mehr abgebrochen wird, über dem Kopf, über dem Herzen, wärmende, sanft sich im Wind blähende Zeltwände vor den Augen, ein Zeltboden, der der gleiche bleibt, ob der Untergrund Lehm, Gras, Sand oder Stein ist. Der Ort, an dem ich zu Hause sein kann.
Es ist einige Jahre her: Eine junge Frau schrieb mich an. Sie sei von klein auf kirchlich sozialisiert und bis vor kurzem engagierte Kindergottesdiensthelferin in ihrer evangelischen Gemeinde gewesen. Nun hatte sie sich »zum Buddhismus bekehrt« und fragte mich nach einem glaubwürdigen, seriösen buddhistischen Zentrum in ihrer Umgebung – mich, einen evangelischen Pfarrer. Sollte ich ihr sagen: »Dafür bin ich nicht zuständig« oder »Aber wollen Sie sich das nicht noch mal überlegen?« Das hätte sie wahrscheinlich in der Kirche normalerweise gehört und wollte gerade deshalb Buddhistin werden. Also habe ich gedacht: Die letzte Erinnerung an die Kirche soll eine gute sein, ich werde ihr helfen. Ich nenne ihr ein buddhistisches Zentrum mit gutem Leumund in ihrer Nähe. Danach habe ich nie wieder etwas von ihr gehört.
Vielleicht hat sie das Zelt gefunden, das nicht mehr abgebrochen wird, den Ruhepunkt ihres Herzens. Dieser Ruhepunkt ist – ähnlich wie für die im Jesaia-Text Angesprochenen – nicht räumlich, aber gedanklich außerhalb des Normalen, entfernt von der Alltagswelt, die die junge Frau nicht zur Ruhe kommen lässt. Es ist eine U-topie, ein Nirgend-Ort, der Ort, der uns vor dem Sinn, nicht vor Augen steht, der uns wie ein Magnet weiter zieht – so wie Michael Endes »Lokomotive Emma von Lummerland«.
Dieser Traum von einem Ruhepunkt hat immer schon sehr unterschiedliche Formen angenommen. Zu Zeiten, als die ersten Jesaia-Texte verfasst wurden (sie stammen wahrscheinlich von mehreren Autoren), war das inzwischen fremdbestimmte Jerusalem Gegenstand der Hoffnung, der Träume. In Zeiten eines in die ganze Welt zerstreuten Judentums wurde Jerusalem immer mehr dazu: Kristallisationspunkt, gemeinsame Hoffnung, Ort eines zukünftigen Zur-Ruhe-Kommens. Diese Hoffnung des frühen Jesaia-Verfassers wird vom neuen Testament aufgenommen: »Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet wie eine geschmückte Braut ihrem Mann« (Offenb. 21,2). Hier ist die Hoffnung bereits ein eschatologisches Bild: die geschmückte Braut – die Sehnsucht nach dem Glück symbolisierend, den Traum vom Ort des Friedens, an dem all das nicht mehr sein wird, was die Mühsal des jetzigen Lebens ausmacht. Es wird keine Tränen, kein Leid, keinen Tod, keinen Schmerz mehr geben.
Ein selbstbestimmtes, sozial gerechtes »Jerusalem« wird für die Menschen des ausgehenden 8. Jahrhunderts v. Chr. immer mehr zu einer Chiffre für Frieden, für Atemholen von rastlosen Zeiten. Es ist nicht die Zeit, von der unendlichen Freiheit zu träumen, die angeblich mit dem Nomadenleben verbunden ist. Weite und Ungebundenheit – Begriffe aus dem Vokabular der Auto- und Tabakwerbung – mögen ein vorübergehender Traum sein, der seine begrenzte Zeit hat. Aus der Sehnsucht nach »Jerusalem« spricht ein anderes Lebensgefühl, das gerade die Weite als Ungesichertheit und raumzeitliche Zweifelhaftigkeit empfindet.
Dieses Lebensgefühl kennt auch Entfremdungselemente. Stets vom anderen, eigentlichen Ort zu träumen, bedeutet, immer am Jetzt und Hier als dem Uneigentlichen zu leiden. Freundlich wohlwollend karikiert wird dieses Syndrom von Janosch in seinem Bilderbuch »Oh, wie schön ist Panama«: Die auszehrungsreiche Reise des kleinen Bären und des kleinen Tigers zum Traumland endet nach dem Beschreiben eines großen Kreises am Ausgangspunkt, der mit neuen Augen entdeckt und gelebt wird, und nun ist die Seele endlich bei sich selbst angekommen.
Es gibt mehrere Erscheinungsformen des entfremdeten Befindens. Menschen, die lange Zeit in anderen Kulturkreisen zugebracht haben und den »Kulturschock« ihrer Rückkehr nie überwinden. Dort – so sehen sie es in einer Art Nostalgie – war alles viel menschlicher, natürlicher, nicht technisch überkandidelt; hier, im Land der Rückkehr, ist es menschlich und klimatisch kalt, entfremdet, es gibt Pünktlichkeitswahn und Hektik. Ein unheilbares Defizit. Die Seele hat keine Lust mehr zum Angepasstsein. Ebenso gibt es das Stück Exotismus verbunden mit dem Umkehrsyndrom: Nach den ersten drei Tagen Urlaub im anderen Land beginnt der Traum von Eisbein mit Sauerkraut. Oder die seitenvertauschte Version: Im Gastland wird politisches Engagement um der Heimat willen ausgelebt, der Heimat, in der die Seele geblieben ist.
»Jerusalem« liegt allerdings für viele weder in Palästina, noch in der Exotik einer völlig anderen Kultur, noch kommt es vom »Himmel« wie in Offenbarung 21. Es ist für sie das Ziel spiritueller meditativer Suche, der Ort, an dem im Hier und Jetzt gelebt werden kann, ohne dass Zerfaserung droht. Es ist eine Nische im hektischen Treiben, der Ruheort, an dem die Seele baumeln kann. Sei es meditative Praxis, sei es Yoga, seien es chinesische Bewegungstherapien, es geht den Menschen, die auf der Suche sind, oft um nichts anderes als um den langen Weg zu sich selbst, um den Weg zu einem »Ort«, an dem sie fühlen: Hier und so bin ich gerne, so kann ich leben, dies ist mein Panama.
Dieses Panama mag Erleuchtung heißen, es mag Erwachen heißen, es mag Heilung heißen, für manche mag es auch Heil heißen. Viel verbindet sich damit: Einheitserfahrung in einer zerrissenen Welt, das Zusammenbringen von Leib und Seele, gelungene Beziehungen zu sich selbst und zu anderen. Mir wurde von Gesprächspartnern berichtet, sie hätten dank einer ostasiatischen Therapiemethode »den Faden wiedergefunden«, hätten die Fähigkeit erlangt, Entscheidungen zu fällen, sähen nun eine Linie in ihrem Leben.
Aber dieser Vergleich kann auch als Verharmlosung gelesen werden. Das Seufzen der exilierten Judäer nach »Jerusalem« war keine Orientierungssuche auf dem Markt der esoterischen Angebote. Die Entfremdungen waren sehr real, das Leiden unter der Entwurzelung und unter Fremdherrschaft schmerzte jeden Tag aufs Neue. Erfahrungen dieser Art werden auch heute gemacht, von Migranten im buchstäblichen Sinne, von vielen anderen im übertragenen Sinn. Und die Defizite sind keine eingebildeten. Obdachlose, die auf Bahnhöfen selbst produzierte Zeitungen verkaufen (und damit bereits zur Elite der Obdachlosen gehören), haben ein sehr handgreifliches »Jerusalem« vor Augen. Die Mittel auf dem Weg zu diesem »Jerusalem« müssen immer neu erfunden werden: Einer von ihnen sagt in der S-Bahn die Schlagzeilen der neuesten Ausgabe einer Obdachlosenzeitung in Gedichtform auf, einer fasst den ihm wichtigsten Artikel kurz zusammen, der nächste hält einen Metadiskurs über die Störung, die er für die Fahrgäste bedeutet. Dann gibt es mitunter außer den gesammelten Markstücken auch kurze Lacherfolge, hier und dort freundliche Gesichter zwischen den normalerweise eher Genervten, es gibt kleine Lichtblicke beim lustlosen Hecheln von Wagon zu Wagon. Eine junge, aber von Krankheit und Hunger ausgemergelte Frau bettelt in der immer gleichen Berliner U-Bahnlinie mit den immer gleichen Worten: »Ein bisschen Mut zum Leben ist alles, was ich wünsche.«
Für diese Menschen hat das Leben die Lebensentwürfe brutal zurückgeschnitten. Aus »Jerusalem« ist eine warme Nacht, eine Mahlzeit, ein freundliches Lächeln geworden. Der Jesaia-Text sagt aber, dass wir so bescheiden nicht sein sollen. »Jerusalem« als Gottes Zukunft für uns ist viel mehr. Zusammen mit der Frau aus der U-Bahn sagt der Text: Eine Vision ist wichtiger als eine Mark – und sie muss nicht mit einer Mark anfangen, aber sie kann. Die Vision »Jerusalem« trägt bis heute das in alle Welt zerstreute Volk der Juden, sie trägt alle Menschen, die noch ihren Ort suchen, das Zelt, dessen Pflöcke nicht mehr versetzt werden müssen. Jerusalem ist der Mut zum Leben, Gottes und unsere Freundschaft mit dem Hier und Jetzt ohne Entfremdung.
aus: der überblick 02/2001, Seite 91
AUTOR(EN):
Ulrich Dehn:
Ulrich Dehn ist Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin, für nichtchristliche Religionen, insbesondere fernöstliche Spiritualität.