Frieden wächst aus Gerechtigkeit
Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit wird ewige Stille und Sicherheit sein. Jesaja 32,17
von Reinhard Höppner
Das Forsthaus liegt mitten im Wald. Die Bäume tragen die Last des Schnees, der in den letzten Stunden in leichten Flocken vor unserem Fenster tanzte. Stille breitet sich aus im Raum. Nur das Feuer im Kamin knistert vor sich hin. Ich genieße diese Stille. Der Lärm der letzten Tage fällt von mir ab. Hier kann mich der Lärm der Zivilisation nicht erreichen. Die Autogeräusche tief im Tal dringen nicht zu mir herauf. Ein menschengerechter Ort, denke ich, hier ist die Welt noch heil. Aber ewige Stille wird es nicht sein. Am Abend schalte ich doch die Nachrichten ein. Wieder ein Anschlag im Irak. Von Frieden sind wir weit entfernt. Wenn man den amerikanischen Präsidenten beim Wort nimmt, sind wir mittendrin im neuen Krieg des 21. Jahrhunderts, dem Krieg gegen den Terrorismus.
Ich weiß, die Terroristen sind nicht die Armen. Es sind die, die sich gedemütigt fühlen von der Arroganz der Macht, die die Reichen demonstrieren. Aber Armut hat auch immer etwas mit Demütigung zu tun. Und so wächst aus dieser Ungerechtigkeit Krieg. Mehr Sicherheit hat uns dieser neue Krieg des 21. Jahrhunderts nicht gebracht. Weder im Nahen Osten noch zu Hause. Flüge werden abgesagt. Die Geheimdienste haben uns unbekannte Erkenntnisse. Bloß gut, dass ich keinen auffälligen Namen habe, sonst könnte ich wohl meine Reise in die USA absagen. “Wenn du das Verwüsten beendet hast, so wirst du auch verwüstet werden; wenn du des Raubens ein Ende gemacht hast, so wird man dich auch berauben.” So steht es bei Jesaja wenige Verse nach dieser weisen Vision vom ersehnten Frieden.
Warum sind wir so weit entfernt von Frieden, Sicherheit und Stille? Sind wir die Verwüster, von denen es heißt: “Weh dir, Verwüster, der du selbst nicht verwüstet bist, und du Räuber, der du selbst nicht beraubt bist!”? Frieden lässt sich nicht mit Waffen bringen, diesem Werkzeug von Verwüstern. Frieden wächst. Frieden ist die Frucht der Gerechtigkeit. Darum haben die Landlosen in Brasilien gesungen: “Lasst uns den Weg der Gerechtigkeit gehen. Dein Reich komme.” Darum hat Jesus gesagt: “Suchet zuerst Seine Gerechtigkeit, dann wird euch alles andere zufallen.” Aber noch immer fehlt es an Nährboden, auf dem Frieden wachsen kann. Der Mangel an Gerechtigkeit lässt diese Pflanze verkümmern.
Was aber ist Gerechtigkeit. Unsere Kinder haben es schnell gelernt: “Einer teilt, der andere sucht aus.” Wie sähe unsere Welt aus, wenn der eine einteilen müsste und der andere auswählen könnte. Ich müsste mich darum kümmern, dass der schwächste Teil möglichst stark ist, denn es könnte ja mein Teil werden. Da ist keine Umdeutung von Gerechtigkeit möglich. Die Suche nach einer Definition von Gerechtigkeit, die den status quo rechtfertigt, ist nicht nur peinlich, besonders für eine Partei, die Gerechtigkeit und Solidarität auf ihre Fahnen geschrieben hat. Solche Umdeutung von Gerechtigkeit, die nicht mehr die vorrangige Option für die Schwachen in den Mittelpunkt stellt, sie gefährdet den Frieden. Nicht nur den draußen, sondern auch den drinnen, denn längst gibt es in unserer einen Welt dieses drinnen und draußen nicht mehr. Wenn alle Staaten, die sich der rücksichtlosen Macht wirtschaftlicher Globalisierung widersetzen, zu Schurkenstaaten werden, denen man de facto den Krieg erklärt hat, dann bleiben Recht und Gerechtigkeit auf der Strecke. Verwüstung ist das Ergebnis. Erst bei den “Schurken”, dann bei den Verwüstern selbst.
Gerechtigkeit ist kein Zustand, den man irgendwo findet. Gerechtigkeit beschreibt ein Verhältnis. Es geht um menschengerechtes Verhalten. Arbeit für Gerechtigkeit ist eine Integrationsaufgabe: Die an den Rand Gedrängten, die in das Aus des Vergessens Geschobenen wieder zurückholen in die Mitte der Gesellschaft, darum sollen wir uns kümmern. “Liebet eure Feinde” ist eine politisch höchst vernünftige Forderung. Nur wenn mein Feind auch einen menschenwürdigen Platz auf dieser Erde hat, kann ich in Frieden leben. Ein kluger Egoist - falls das nicht schon ein Widerspruch in sich ist - kümmert sich um einen menschenwürdigen Platz für seine Gegner. Und wenn das schon für die Gegner gilt, wie viel mehr dann für die Armen?
Oder haben wir Angst, dass die Armen uns in unserem Reichtum bedrohen, wenn sie ihr Recht auf Gerechtigkeit fordern? Aber solche Vorstellungen von der vorrangigen Sorge für die Schwachen scheint so gar nicht zu passen in unsere marktorientierte Wettbewerbsgesellschaft. Politik aber, die nur dem Markt Raum schaffen will, der es vor allem darum geht, die Marktbedingungen zu verbessern, die ist nicht menschengerecht. Wo es der Politik aber nicht um den Menschen geht, da ist sie keine gute Politik. Frieden und Sicherheit können aus ihr nicht wachsen.
Den Armen in dieser Welt fehlt der menschenwürdige Platz. Und dabei ist Armut nicht nur ein materieller Tatbestand. Der indische Nobelpreisträger für Wirtschaft Armartya Sen hat in seiner “Ökonomie für den Menschen” darauf hingewiesen, dass Armut immer Armut an Verwirklichungschancen ist, Bildungschancen, Entwicklungschancen, Chancen, die eigene Zukunft mit zu gestalten. Natürlich sind die materiell Armen meist auch arm an Verwirklichungschancen. Aber längst gehen diese Grenzen quer durch alle Gesellschaften. Wie wäre es, wenn wir hier einmal praktizieren würden, was unsere Kinder schon beim Teilen der Schokolade gelernt haben: Einer teilt die Chancen auf, der andere darf auswählen. Würden wir das Risiko eingehen, dass für unsere Kinder nur die Chancen der Kinder in den Armenvierteln von Sno Paulo übrig bleiben?
Von Gerechtigkeit sind wir weit entfernt. Das ist zu Jesajas Zeiten nicht grundsätzlich anders gewesen. Aber das ist nur ein Teil unserer Krankheit. Uns fehlen auch die konkreten Visionen einer Welt, in der es leichter wäre, gut zu sein. Dieses gerade, diese Vision will Jesaja seinem Volk vermitteln. Dann, wenn “über uns ausgegossen wird der Geist aus der Höhe, dann wird die Wüste zum fruchtbaren Land”.
Uns fehlen solche Visionen. Die Politik ist im Kleinen wie im Großen gekennzeichnet von Perspektivlosigkeit. Dass man in Zeiten großer Veränderungen die Zukunftslösungen nicht kennt, dass sollten wir uns nicht gegenseitig vorwerfen. Aber dass wir aus dieser Hilflosigkeit heraus ziellos werden, nicht mehr nach der Gerechtigkeit suchen, sondern sie umdefinieren, damit der Widerspruch zwischen der Welt, wie sie sein sollte, und der Welt, wie sie ist, nicht zu groß wird, das ist ein Skandal.
Und es kommt noch schlimmer: Ich habe am Ende der DDR, noch einige Monate bevor die Mauer gefallen war, ein Mitglied des Zentralkomitees der SED im Vier-Augen-Gespräch gefragt, was denn aus der DDR werden solle, wenn der Sozialismus immer mehr an Anziehungskraft verliert. Seine Antwort: “Ich weiß es nicht.” Auf meine Frage, wo denn darüber nachgedacht werde, antwortete er ebenfalls: “Ich weiß es nicht.” Das Ende ist bekannt. Implosion eines hohlen Systems ohne Visionen.
Wenn ich heute die Spitzen der politischen Parteien fragen würde, wo denn wirklich über Visionen für eine nachhaltige Entwicklung hin zu mehr Gerechtigkeit in unserer Welt nachgedacht wird, dann wäre die ehrliche Antwort: “Ich weiß es nicht.” Denn das Nachdenken, von dem ich weiß, reicht bestenfalls bis zur nächsten Wahl, oft nur bis zur nächsten Sitzung des Vermittlungsausschusses, und selbst der lebt dann doch nur von Improvisation und Marketing.
Der Geist aus der Höhe, neues Denken ist nötig, Befreiung von den allgegenwärtigen Ideologien einer sich an neoliberalen Marktgesetzen orientierenden Welt. Manche haben gedacht, mit dem Ende des real existierenden Sozialismus wäre die Ideologisierung von Politik an ihr Ende gekommen. Statt dessen hat nur die stärkere Ideologie gesiegt um sich jetzt umso kräftiger zu verbreiten. Vom Weg der Gerechtigkeit kommen wir damit nur immer weiter weg. Noch nie waren die weltweiten Einkommensunterschiede so groß wie heute. Im “Atlas der Globalisierung” wird die Größe der Kontinente entsprechend der Größe ihres Sozialprodukts dargestellt. So zeigt sich Südamerika und noch drastischer Afrika lediglich als Wurmfortsatz von Nordamerika beziehungsweise Europa. Das könnte ein Schaubild sein zur Frage, wer gegen wen Krieg führt.
Frieden wächst aus Gerechtigkeit. Aber mehr Gerechtigkeit braucht neues Denken. Mir scheint, im Lärm dieser Welt hat es keine Chance. Die Versuchung, sich in die Stille meines Forsthauses zurückzuziehen und den tanzenden Schneeflocken zuzusehen, ist groß. Aber ich habe schon einmal erlebt, wie Menschen in der Nischengesellschaft DDR aus ihren Nischen herausgetreten sind und gewaltfrei Ungerechtigkeiten überwunden haben. Darum weiß ich, das scheinbar Unmögliche ist möglich. Darum will ich dem Propheten glauben: “Dann wird die Wüste zum fruchtbaren Land” und “der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein”. Das neue Denken wächst auch in der Stille. Aber es braucht das Gespräch, in dem Visionen entstehen und Ziele verabredet werden. Und im Gedanken daran summe ich vor mich hin, während das Feuer im Kamin beim Auflegen eines neuen Scheites Funken sprüht: “Ihr fragt: Ist das denn wahr, dass Brot vom Himmel fällt in der Sahara? Ich sage euch: Versucht es doch, was damals ging, geht heute noch!”
aus: der überblick 01/2004, Seite 130
AUTOR(EN):
Reinhard Höppner:
Dr. Reinhard Höppner ist langjähriger Präses der Synode der Kirchenprovinz Sachsen und sitzt im Vorstand des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Der promovierte Mathematiker ist seit 1989 Mitglied der SPD und war von 1994 bis 2002 Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt.