Um die Ernte rechtzeitig einzubringen, setzt Usbekistan auf Kinderarbeit
Usbekistan ist der zweitgrößte Exporteur von Baumwolle in der Welt. Doch das weiße Gold ist teuer bezahlt. Vor allem Kinder und Studenten werden von September bis November zur Zwangsarbeit auf den Feldern verpflichtet, viele Schulen und Universitäten sind während der Ernte geschlossen.
von Edda Schlager
Der Dekan der Universität in Samarkand möchte keinen Besuch. Hier gibt es nichts zu sehen, wehrt er am Telefon ab. Irgendwo in Richtung Buchara liege das Dorf Ilim, doch ohne Wegbeschreibung sei es kaum zu finden. Ich kann Ihnen nicht helfen, sagt er. Das Institut für Fremdsprachen ist an diesem Tag fast ausgestorben. Vorlesungen finden nicht statt, dabei hat das Semester längst begonnen. Auf die Ursache für die Leere statt Lehre deutet ein Schild im Foyer. Es weist den Weg zum Einsatzstab Baumwolle.
Mein Sohn studiert Architektur, erzählt Sadi, ein Nuss-Verkäufer auf dem Basar, doch seit fünf Wochen war er nicht mehr an der Universität. Stattdessen sammelt er Baumwolle. In Usbekistan ist die Ernte des weißen Goldes in vollem Gange, und das heißt für den akademischen Nachwuchs des Landes: Ernteeinsatz. Als einzige Entschuldigung gilt ein ärztliches Attest. Doch die Bescheinigung über eine Baumwollallergie kostet 30 Dollar. Nicht jeder Student in Samarkand kann oder will sich das leisten.
Drei Monate lang, von September bis Ende November, bestimmt die Baumwollernte das öffentliche Leben des Landes. Usbekistan ist nach den USA zweitgrößter Baumwollexporteur weltweit und verdient damit etwa 20 Prozent seiner Devisen. Die Erfüllung des Ernteplans hat landesweit höchste Priorität und obliegt den Gouverneuren der 14 Provinzen. Die bestimmen auch das Erntekontingent, das die Universitäten einzubringen haben und die Schulen. Denn neben Studenten bilden Kinder das Gros der Erntehelfer.
Die Kinderarbeit in den Baumwollfeldern ist in Präsident Islam Karimows autoritärem Regime ein sensibles Thema. Wer nach der Baumwollernte fragt, den hält man von den Feldern fern. In meinem Heimatdorf werden die Grundschüler jeden Morgen mit Bussen in die Baumwollfelder transportiert. Selbst die Kleinsten müssen 40 bis 60 Kilogramm sammeln. Das ist Sklaverei im 21. Jahrhundert, erzählt ein junger Mann in Samarkand. Wie der Ort heißt, könne er auf keinen Fall sagen, entschuldigt er sich. Auch seinen Namen will er nicht nennen; zu groß ist die Angst vor Polizeigewalt gegen Eltern und Geschwister.
Direkt vor der Stadtgrenze von Samarkand beginnen die Baumwollfelder. Am Straßenrand steht ein Lastwagenanhänger, auf dem sich weißer Baumwollflausch türmt, daneben Männer in staubigen Anzügen. Kennen Sie den Weg nach Ilim? Was wollen Sie da?, kommt die argwöhnische Gegenfrage. Doch dann hält einer der Männer einen Kleinbus an. Ilim, ruft er dem Fahrer zu.
Auf etwa 1,5 Millionen Hektar wird in Usbekistan Baumwolle angebaut. Die Region um Samarkand und Buchara ist neben dem Ferghana-Tal und Karakalpakstan, im Nordwesten Usbekistans eines der wichtigsten Baumwollgebiete des Landes. Mehr als 90 Prozent der Felder müssen künstlich bewässert werden. Das dafür nötige Wasser wird Flüssen wie dem Amudarja und dem Syrdarja entnommen. Als Folge dieses schon Jahrzehnte währenden Raubbaus ist der Aralsee im Norden des Landes auf ein Drittel seiner Fläche geschrumpft, mit katastrophalen Konsequenzen für die gesamte Region Zentralasiens.
Seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 müssen Maschinen gegen harte Devisen eingekauft werden. Das ist teuer. Deshalb werden 90 Prozent der usbekischen Baumwollernte per Hand gepflückt. Zwar haben private Kooperativen die sowjetischen Kolchosen ersetzt, doch de facto hält der Staat das Monopol bei der Baumwollproduktion. Auch Ilim ist eine ehemalige Kolchose. 2000 Menschen leben hier. Zur Ernte hat das Dorf zusätzlich 1500 Studenten aus Samarkand zugewiesen bekommen. Nodira, 20 Jahre alt, ist eine von ihnen. Seit vier Jahren studiert sie Germanistik, zum vierten Mal ist sie in der Baumwolle. Jedes Jahr nimmt man uns fast drei Monate Studienzeit. Wann wir wieder nach Hause kommen, wissen wir nicht, klagt sie. 60 Kilogramm Baumwolle müssen die Studenten pro Tag sammeln. Doch jetzt seien nur noch zehn bis 20 Kilo zu schaffen, die Felder schon fast abgeerntet, erzählt die Studentin.
Gerade mal 45 Sum, umgerechnet etwa drei Cent, erhalten die Studenten pro Kilogramm Baumwolle. Übrig bleibt von dem Erntegeld kaum etwas. Allein das Essen kostet 1000 Sum pro Tag. Mittags und abends erhielten sie eine warme Mahlzeit, erzählt Nodira, doch das reiche nicht aus, um satt zu werden. Ihre Mutter komme demnächst, um Brot und Obst vorbeizubringen, und Mineralwasser, denn sauberes Trinkwasser sei knapp.
In der Dorfschule ist die Kommandozentrale der Erntehelfer von Ilim. Gerade rollt ein klappriger Lada Niwa auf den Hof. Der Dekan der Universität springt aus dem Wagen. Mit drei Kollegen bewohnt er ein Klassenzimmer. Auch in den übrigen Klassenräumen stehen Betten, das Schulmobiliar ist im Flur gestapelt. Dies sei das alte Schulgebäude, erklärt der Dekan. Es ist nicht mehr in Betrieb. Da drüben, ganz in blau, stehe die neue Schule. Befragt, wo die Kinder seien, zögert der Dekan. Sie haben nur morgens Unterricht, jetzt sind sie zu Hause.
Idik ist es nicht. Eine halbe Stunde Fußmarsch von der blauen Schule entfernt bahnt sich der Zehnjährige seinen Weg durch Reihen stacheliger Baumwollsträucher, die fast so hoch sind wie er selbst. Flink zupft er die weißen Fasern aus den aufgeplatzten Samenkapseln und stopft sie in ein großes Tuch, das um Hüften und Schultern geschlungen ist. Seine Hände sind zerstochen und verschorft. Außer den Erstklässlern sind alle Kinder des Dorfes in der Baumwolle, die Jüngsten sind sieben Jahre alt. 20 Kilogramm sollen sie sammeln, das ist die Norm. Ich würde lieber Englisch lernen, und Russisch, sagt Idik, der Zehnjährige. Fremdsprachen haben es dem Jungen angetan. Doch auf neue Vokabeln wird er noch ein paar Wochen warten müssen. Erst wenn der Regen kommt, ist die Ernte beendet. Der Vater von Idik hat zehn Hektar Land, auf denen Baumwolle wächst. Er selbst hat nur in den ersten Tagen gepflückt. Seitdem die Studenten da sind, fährt er wieder Taxi, seine wichtigste Einkommensquelle und einträglicher als die Baumwolle, gibt er zu. Dass sein Sohn Baumwolle erntet, statt in die Schule zu gehen, ist für Idiks Vater normal. Auch ich musste als Kind auf dem Feld arbeiten, sagt er. So wie Idiks Vater sehen viele in Usbekistan Arbeit als Teil der Erziehung. Obwohl Kinderarbeit auch in Usbekistan bis zum Alter von 15 Jahren verboten ist.
Nodira weiß, dass es den Erntehelfern woanders schlechter geht, dass Kinder geschlagen werden und Studenten exmatrikuliert werden, wenn sie sich weigern, die Norm zu erfüllen. In der Studie The Curse of Cotton: Central Asia's Destructive Monoculture zur Baumwollwirtschaft in Zentralasien schätzt die International Crisis Group in diesem Jahr, dass allein in Usbekistan jährlich mehr als eine Million Kinder und Studenten Baumwolle ernten. Ich kann die Studenten nicht zwingen zu arbeiten, sagt der Uni-Dekan. Er sei von ihnen so abhängig, wie sie von ihm, denn er werde zur Verantwortung gezogen, wenn die Universität ihr Soll nicht erfüllt.
Dieses Jahr braucht er sich keine Sorgen mehr zu machen. Kürzlich verkündete Viktor Dyachkov, Chef des größten staatlichen Baumwollunternehmens Uzkhlopromsbyts, dass in dieser Saison 3,8 Millionen Tonnen Rohbaumwolle geerntet würden. Der Plan sei bereits übererfüllt. Für 2005 erwarte man einen neuen Ernterekord seit der Unabhängigkeit des Landes. Über 900.000 Tonnen des weißen Goldes sollen exportiert werden, vor allem in den Iran, nach Russland und Südkorea. Etwa 60.000 Tonnen der usbekischen Rohbaumwolle haben Importeure aus Deutschland geordert.
aus: der überblick 01/2006, Seite 42
AUTOR(EN):
Edda Schlager
Edda Schlager ist Diplom-Geographin und Betriebswirtin. Sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Almaty, Kasachstan. Dieser Artikel ist ein Nachdruck aus der Moskauer Deutsche Zeitung vom 8. Dezember 2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin.