Samba gegen die Obrigkeit
Vor vierzig Jahren fand in Brasilien ein Militärputsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten statt. Damit begann eine Diktatur, die 21 Jahre anhalten sollte. Insbesondere Künstler und Intellektuelle kritisierten die Militärherrschaft, wurden inhaftiert und gefoltert. Wer dem entgehen wollte, emigrierte oder setzte die Schere im Kopf an. Der wohl berühmteste Liedermacher des Landes, Chico Buarque, versteckte seinen Protest geschickt in Liedern, die auch noch heute die Menschen begeistern.
von Anja-Rosa Thöming
Manche Künstler waren verstummt oder nur schwer zu vernehmen, andere erhoben ihre Stimme. Nicht unbedingt lautstark, aber mit den leisen, intensiven und durchdringenden Tönen der poetisch-politischen Art. Und manch einer ist bis heute zu hören - wieder oder immer noch, nach vier Jahrzehnten. In acht von zehn lateinamerikanischen Ländern herrschten in den siebziger Jahren Militärdiktaturen - von den USA im Kampf gegen den Kommunismus tatkräftig unterstützt. Auch in Brasilien wurde die demokratisch legitimierte Regierung unter Präsident Goulart am 31. März 1964 von Militärs gestürzt. Eigentlich fand der Umsturz am 1. April statt, doch die Brasilianer - mit ihrer Liebe zum schwarzen Humor - meinen, das Regime habe seine “Revolution” nachträglich um einen Tag vordatiert, damit sie nicht als schlechter Aprilscherz in die Geschichte eingehe. Wenngleich die brasilianische Militärherrschaft den Diktaturen der Nachbarstaaten in vielem ähnelt, besonders in der finsteren Phase der Unterdrückung von 1968 bis 1974, der repressno, hat sie doch nicht die Ausmaße eines nationalen Traumas erreicht wie etwa in Argentinien oder Chile.
Im Jahr 2004 hat sich der Putsch, genannt golpe, zum vierzigsten Mal gejährt. Unter den Gedenkveranstaltungen und den zahllosen Veröffentlichungen sticht das traditionsreiche kritische Wochenmagazin O Pasquim mit einem Sonderheft zum Putsch hervor. Darin schildert der Schriftsteller Álvaro Caldas sein Schicksal als Opfer des Staatsterrors, als Entführter und Gefolterter. Vor einigen Monaten erschienen die Buchreihe vozes do golpe, das heißt “Stimmen des Putsches”. Darin verfolgen einige der bekanntesten Chronisten des Landes, darunter Moacyr Scliar und Luis Fernando Verissimo, in Erzählungen die Spuren der Diktatur bis in die Jetztzeit. Die Art, wie die Vergangenheit erneut durchdacht und verarbeitet wird, verdeutlicht, dass die Zeit der Diktatur für die Politik und die Nation als Ganzes keine schmerzende Wunde mehr ist. Damals waren es vor allem Künstler und Intellektuelle, die gegen die Militärherrschaft aufbegehrten, und es sind heute ähnliche Stimmen, welche die Erinnerung an die bleierne Zeit wachhalten.
Das Regime gab sich offensichtlich keine allzu große Mühe, die Folterungen an seinen politischen Gegnern zu verbergen. Davon berichtet die Erzählung A mancha, zu deutsch “Der Fleck” - von Luis Fernando Verissimo. Die Hauptfigur, Rogério, ist ein Mann um die Fünfzig, der nach Jahren des Exils in seine Heimat Brasilien zurückkehrt und als erfolgreicher Bauunternehmer ein bürgerlich angepasstes Leben führt. Als er zufällig das Gebäude wiederfindet, in dem er selbst als Zwanzigjähriger brutalen Verhören ausgesetzt gewesen war, steigt die Erinnerung in ihm auf. Das Unfassbare für ihn: Das Gebäude ist ein großbürgerliches Haus mitten in einer Wohnstraße, von anderen Häusern auf den Nachbargrundstücken dicht umgeben. Ist denn damals niemandem etwas aufgefallen, fragt er sich, hat niemand die Schreie der Gefolterten gehört? Doch ebenso wie damals, stößt er auch heute auf Schweigen. Seine Frau sagt “vergiss doch diese alten Geschichten”, sein Schwager ist ein bekennender “Reaktionär”, und sein Schwiegervater hatte als Immobilienhändler die Aktionen der repressno mit finanziert. Es drängt Rogério nach Gerechtigkeit und Genugtuung. Beim churrasco, beim Essen von an Spießen gegrilltem Fleisch im Kreis seiner Familie, wird er von dem Gedanken gequält, sich auf Folterer und Mitläufer eingelassen zu haben. Am Ende resigniert er und lässt das leerstehende Haus, in dem er einen Fleck seines eigenen Blutes gefunden hatte, abreißen, um es “in diesem Stadtviertel von Stummen” vollständig zum Schweigen zu bringen und der Vergangenheit in den Rachen zu werfen.
Die Selbstwahrnehmung der Herrschenden war freilich eine ganz andere. Die “Präsidenten” zwischen den Jahren 1964 und 1984 waren zwar allesamt Generäle, ließen jedoch beispielsweise eine pragmatisch-zivile Außenpolitik weiterlaufen, die sich um diplomatische Kontinuität bemühte. Umso überraschender kam es im Herbst 1976 zu einer schweren Krise in den diplomatischen Beziehungen zwischen Brasilien und den USA: Jimmy Carter, der am 3. November 1976 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden war, kritisierte zum wiederholten Mal das brutale Vorgehen der brasilianischen Machthaber gegenüber Regimekritikern. Für die Regierung in Brasília war es unverständlich, mit einem Diktator wie Chiles General Pinochet in einen Topf geworfen zu werden. Der radikale Politikwechsel des neuen US-Präsidenten, die Menschenrechte auf der politischen Agenda nach ganz oben zu rücken, überraschte die brasilianischen Diplomaten umso mehr, als die USA den Militärputsch zwölf Jahre zuvor aktiv unterstützt hatten. Zu diesem Zeitpunkt war Lyndon B. Johnson US-Präsident - auch er ein Demokrat. Johnson hatte im März 1964 einen Flugzeugträger sowie sieben Kriegsschiffe mit hundert Tonnen Munition in Richtung der brasilianischen Küste gesandt, um, wenn nötig, der konservativen “Revolution” zum Sieg zu verhelfen und Präsident Goulart zu stürzen.
Während der Jahre der repressno organisieren sich zunehmend Studenten in Brasília oder Sno Paulo zu Protesten gegen die Diktatur. Nicht selten gehen sie als Guerilleros in den Untergrund und versuchen mit Terrorakten und Entführungen die Staatsgewalt zu unterhöhlen. Journalisten, Autoren und Liedermacher kämpfen mit Wort und Stimme, bis am 13. Dezember 1968 der Ato Institucional No. 5 verhängt wird, das letzte der “institutionellen” Gesetze, das die formale Rechtsstaatlichkeit vollends beseitigt: Der Kongress wird geschlossen, die Medien werden zensiert - eine bleierne Zeit des Schweigens beginnt. In der Folge verlassen Wissenschaftler und Künstler in Scharen ihre Heimat, darunter der berühmte Architekt und Kommunist Oscar Niemeyer, der Soziologe und spätere Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, die Musiker Caetano Veloso, Gilberto Gil und Chico Buarque. Sie alle folgen dem sarkastischen Spruch des Magazins O Pasquim: “Em terra de cego, que tem um olho emigra” - “Wer im Land der Blinden ein Auge hat, emigriert.”
Der größte Teil der Bevölkerung wird mit einem deutlich steigenden Wirtschaftswachstum und nicht zuletzt auch mit der dritten gewonnenen Fußballweltmeisterschaft im Jahr 1970 bei Laune gehalten. Die in Brasilien so beliebte und identitätsstiftende música popular spielt dabei eine zwiespältige Rolle: In der Musikszene selbst toben Ende der sechziger Jahre Auseinandersetzungen über einen “nationalen” Stil - Protestlieder mit zeitlosen, brasilianischen Themen - und über den Einfluss englischsprachiger Rockmusik. Die Machthaber verstehen es, manche der etablierten Stars der música popular zumindest kurzzeitig auf ihre Seite zu ziehen, damit sie für ein “patriotisches” Brasilien singen.
Chico Buarque, einer der berühmtesten und vielseitigsten Liedermacher des Landes und im Putschjahr zwanzig Jahre alt, hat sich nie vor den national-populistischen Karren spannen lassen, obwohl gerade er E-Gitarren und Rock ‘n’ Roll gegenüber distanziert blieb. Zurückhaltend in seinen Mitteln schrieb er weiter an der Geschichte der música popular und revolutionierte sie gewissermaßen von innen heraus: Er ist vielleicht der beste Texter unter den vielen guten Liedautoren, die Brasilien hervorgebracht hat. Seine Verse sind Lyrik für “das Volk”.
In der Zeitschrift Visno konnte er im Jahr 1971 ungehindert von seinen Erfahrungen mit der Zensur berichten: “Das Unangenehme ist, dass man aufgefordert wird, in eine persönliche Beziehung mit der Zensur zu treten. Mit jedem Lied, das du ihnen schickst, wirst du “eingeladen”, mit ihnen zu plaudern, zu einem Einvernehmen zu kommen. Die Leute von der Zensur hier in Rio haben Angst vor der Behörde in Brasília. Also brauchen sie sehr viel Zeit, sie wollen die Aufnahme hören, führen ein ausführliches Gespräch, und zensieren, weil sie unsicher sind, am Ende immer. Dann schicken sie es nach Brasília und sind es los.”
Die direkte Zensur sei nicht das schlimmste, fährt er fort: “Das Schlimmste ist, dass man nie weiß, was man sagen darf und was nicht und noch viel weniger, warum. Ich glaube, es ist fast unmöglich, keine Selbstzensur auszuüben, hauptsächlich deshalb, weil Selbstzensur nicht bewusst stattfindet. Du schreibst ein Lied, du machst diese wunderschöne, ernsthafte Arbeit, und plötzlich kommt die eine kleine Passage, und du sagst: Da, das wird nicht durchgehen. Es ist klar, dass das Schreiben dadurch behindert wird. Und vielleicht ist das ihre eigentliche Absicht: die Selbstzensur des Autors. Aber ich versuche sie zu vermeiden. Ich finde es wichtig, mich nie auf die Zensur einzulassen, sondern mich immer so zu positionieren, als würde ich sagen: ‘Seht her, ich stehe hier, und ihr steht dort; wir spielen nicht im gleichen Team’.”
Im Jahr 1970 war Chico Buarque aus dem Exil in Italien zurückgekehrt. Anderthalb Jahre hatte er dort verbracht. Ins Exil gegangen waren auch Caetano Veloso und Gilberto Gil, die rebellischen “Tropicalisten”*. Sie hatten sich für eine Zeit lang nach England gerettet. Doch anders als sie, die nach ihrer Rückkehr unbehelligt auftreten konnten - die Rebellion war zu den Akten gelegt - bekam Chico immer wieder Schwierigkeiten mit der Zensur: Mal wurde die Veröffentlichung einer Liederserie erlaubt, aber der Verkauf der Schallplatte verboten, mal ging der Text in der Zensurbehörde durch, aber ein Live-Auftritt wurde durch die Staatsgewalt vorzeitig beendet. Im Jahr 1974 kommt seine siebte Platte auf den Markt, die nicht umsonst den Titel Sinal fechado, das heißt “Rote Ampel”, trägt - so benannt nach einem verhalten-traurigen Samba von Paulinho de Viola - und vordergründig von einer gescheiterten Liebe erzählt. Es ist die einzige Platte, auf der Chico ausschließlich als Interpret, nicht als Komponist oder Texter auftritt, bis auf eine Ausnahme: Ein einziges eigenes Lied kann er der Zensur unter einem Pseudonym unterjubeln.
Der Fall Chico Buarques ist typisch für den Widerstand von Künstlern und Intellektuellen gegen die Diktatur und zugleich herausragend. Denn der zurückhaltende Sänger mit den unwiderstehlichen grünen Augen ist wohl auch heute noch von allen populären Künstlern des Landes am tiefsten im Herzen der Brasilianer verankert - wegen seiner Lieder, Klassiker, in denen sich auf so eigentümliche Weise Volkstümlichkeit mit Intellektualität paart. Besonders Frauen, auch jüngerer Generationen, bemerken immer wieder anerkennend, wie einfühlsam seine Liedtexte auf “weibliche” Befindlichkeiten eingehen. Auch Chicos Landsmann und Altersgenosse Gilberto Gil reiste bei seiner Europa-Tournee im Sommer 2004 nicht ohne Buarque-Hit im Gitarrenkoffer. Chicos cançtes begeistern die Menschen, ob Mann oder Frau, arm oder reich, schwarz oder weiß. Die Liedthemen sind groß, dennoch singt er sie leicht und authentisch: Liebe, Schmerz, Freude, Alltag.
Die Arbeiter-Ballade Construçno (Baugerüst) aus dem Jahr 1971 etwa wirkt heute immer noch avantgardistisch. Die konstruktivistische, also strenge und betont formale Komposition der poetischen und musikalischen Struktur des Liedes ist Ausdruck einer menschenfeindlichen Arbeitswelt. Der namenlose Held ist Arbeiter auf der Baustelle eines Hochhauses und erlebt seinen letzten Arbeitstag: “Er liebt seine Frau, als wär’ es das letzte Mal, er küsst sein Kind zum Abschied, als wär’ es das einzige, er steigt auf das Baugerüst, als wär’ er eine Maschine, er isst Bohnen und Reis, als wär’ er ein Prinz, er stolpert in den Himmel, als wär’ er ein Betrunkener, er stürzt vom Gerüst. Er stirbt mitten auf der Straße, den Samstagsverkehr aufhaltend.” Worin liegt die Anziehungskraft dieses Liedes über ein so banales, hässliches Arbeiterschicksal? Chico Buarque singt das Lied wie ein emotionsloser Chronist, und dennoch liegt eine geradezu unheimliche Intensität in dem unerbittlichen, maschinenhaften Fortschreiten der Ballade. Die hohe Qualität der musikalisch-textlichen Komposition verbindet sich mit dem scheinbar anonymen Schicksal eines beliebigen Menschen aus der Masse, mit dem man sich auf einmal identifiziert.
Chico Buarque ist einer der wenigen Sänger der weißen Mittelklasse, die die volkstümliche Tradition des Sambas so intuitiv fortgeführt haben wie die - meist farbigen - Sambistas der morros, der Berge Rio de Janeiros mit den ärmeren Stadtvierteln. In dieser Tradition steht auch der berühmte Protestsong Apesar de vocL von 1970: Ein “Trotzdem”-Lied, das auf den ersten Blick an eine untreue Geliebte gerichtet ist, die irgendwann für all die geflossenen Tränen bezahlen wird. Doch unter der Oberfläche ist es eine politische Abrechnung mit dem verhassten Staat; das “Du” ist die Diktatur: “Für all diese unterdrückte Liebe, für diesen in der Kehle steckenbleibenden Schrei, für diesen Samba im Dunkeln werde ich dir die Zinsen berechnen. Ich werde den Garten blühen sehen, den du nicht wolltest; du wirst verbittern, wenn der Tag zu strahlen beginnt, ohne dich um Erlaubnis zu bitten. Ich werde sterben vor Lachen, denn dieser Tag kommt früher als du denkst. Wie willst du verhindern, dass wir vor deinem Angesicht singen?” Der immer wiederkehrende Refrain Apesar de vocL ist von einer ansteckenden Fröhlichkeit, wie der lautstarke, gesungene und getrommelte Samba der Karnevalsumzüge.
Der damals rebellische “Tropicalist” Gilberto Gil, der vor zwei Jahren Kulturminister wurde, sagt von sich: “Ich war ein Steinewerfer und wurde zum Glashaus.” Das könnte man über Chico Buarque nicht sagen. Seine Wirkungskraft war stiller, auch wenn ohne ihn die Geschichte der música popular brasileira während der Zeit der Diktatur nicht denkbar ist. Doch Chico klammert sich nicht an seine Rolle als Ikone des Widerstands. Wie Brasilien seinen Weg in die politische Normalität gefunden hat - wenn auch unter schweren Auseinandersetzungen und mit noch ungelösten sozialen Problemen - so hat der Sänger-Dichter aus Rio gewissermaßen seinen Weg in die künstlerische Normalität gefunden: Neben populären Theaterstücken veröffentlichte er nach 1991 drei beachtete Romane, Estorvo (1991, auf deutsch 1994 unter dem Titel “Der Gejagte” erschienen), Benjamin (1995) und Budapeste (2003).
Eine Hommage an Chico Buarque stammt aus den Jahren des französischen Exils von Fernando Henrique Cardoso, dem späteren Staatspräsidenten: “Chico Buarque wird bleiben. Er drückt mit Authentizität einen Moment des Lebens aus. Was ist Kunst? Das Besondere, das Eigene bis in die Tiefe hinein auszudrücken.”
Der liberale Demokrat Cardoso besitzt knapp zehn Jahre nach Ende der Diktatur das politische Fingerspitzengefühl und die Entschlossenheit, im März 1995 erstmals auf militärische Feierlichkeiten zum Jahrestag des Putsches zu verzichten. Im gleichen Jahr wird ein Gesetzentwurf eingebracht zur Entschädigung der Familien von 136 “Verschwundenen” - insgesamt kann man von mehreren hundert Todesopfern durch den Staatsterror ausgehen. Im Jahr 1998 - Cardoso war mittlerweile wiedergewählt worden - werden die drei Militärministerien Heer, Marine und Luftwaffe als letzte Relikte der Militärdiktatur zu einem Verteidigungsministerium eingeschmolzen. Aber die Worte, Texte und Lieder halten die Erinnerung wach, auch wenn es kaum noch sichtbare Relikte gibt.
* Der Tropicalismo war in den sechziger Jahren eine Bewegung in der Kunst, die auch die Musik ergriff und sich in Rebellion und Protest Luft machte. Später war sie Ausdruck des Widerstands gegen die Militärdiktatur (vergl. “der überblick” 1/2003).
aus: der überblick 04/2004, Seite 91
AUTOR(EN):
Anja-Rosa Thöming:
Anja-Rosa Thöming ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Musik, Kultur und Leben. 2000/01 hat sie in Porto Alegre gelebt und für deutsche Tageszeitungen aus Brasilien berichtet.