Sema Genel ist eine Helferin aus Leidenschaft
Die Türkin Sema Genel hat mit Hayata Destek ein kleines, je - doch sehr effizientes Hilfswerk geschaffen. Im Auftrag der Diakonie Katastrophenhilfe leistet sie im Erdbebengebiet in Kaschmir Not- und Aufbauhilfe.
von Toni Keppeler
Chikar muss einmal ein schönes Städtchen gewesen sein: In fast 2000 Metern Höhe ist es an den steilen Hang geklebt, dahinter die imposante Kulisse von schneebedeckten Fünftausendern. Rund tausend Meter weiter unten, im tief eingeschnittenen Jhelum-Tal, schlängelt sich die Straße vom pakistanischen in den indisch verwalteten Teil des Kaschmir. Doch Seit dem Erdbeben vom 8. Oktober vergangenen Jahres liegt Chikar in Trümmern.
95 Prozent der Häuser sind unbewohnbare Ruinen. 85.000 Menschen starben damals im Kaschmir und im Norden Pakistans. In Chikar und den umliegenden Weilern waren es über dreitausend.
Wenn sich heute die Männer treffen, um Entscheidungen über die Zukunft ihres Städtchens zu treffen, tun sie das im Freien auf einem kleinen betonierten Platz zwischen halb und ganz eingestürzten Häusern. Sie kommen in ihrer traditionellen Kleidung: mit Turban oder Wollmütze, in knielangen Hemden und weiten Hosen. Gegen die Kälte haben sie sich in Mäntel, Jacken oder einfach nur in Wolldecken gehüllt. Der Winter in Chikar dauert lange und ist hart.
Alle, die sich versammelt haben, tragen Bärte: die Jungen schwarze, die Älteren graue oder weiße und ein paar auch karottenrote, mit Henna gefärbt. Sie reden in Urdu, der Sprache des Kaschmir, und auch ohne die zu verstehen, begreift man schnell, wer hier das Sagen hat: Es sind die Alten. Wenn einer von ihnen das Wort ergreift, sind die anderen still. Der Kaschmir ist eine patriarchalische Gesellschaft.
Niemand wagt es, die alten Männer zu unterbrechen. Niemand widerspricht. Außer einer der einzigen Frau in der Männerrunde. Sie ist klein und zierlich; die Männer überragen sie um mehr als einen Kopf. Mit ihrer feinen Brille wirkt Sema Genel fast zerbrechlich. Ihre kurzen rostroten Haare leuchten. Niemand stört sich daran, dass sie keinen Schleier trägt. Konzentriert hört sie zu, fragt nach, lässt sich erklären. Sie fährt zwischen zwei Streithähne, wägt Argumente ab und entscheidet schließlich: So wird es gemacht. Die Alten nicken zustimmend. Ein paar jüngere klatschen sogar Beifall. "Natürlich hören sie mir zu und respektieren mich", sagt Sema Genel nach der Versammlung. "Schließlich bin ich diejenige, die ihnen Hilfe bringt." Genel ist Gründerin und Vorsitzende der kleinen türkischen Hilfsorganisation Hayata Destek/Support to Life, die sich im Auftrag der Diakonie Katastrophenhilfe um die Opfer des Erdbebens im Kaschmir kümmert. Bei der Versammlung in Chikar ging es darum, ob für die zerstörte Schule zunächst ein Provisorium oder gleich ein solides Gebäude errichtet werden soll. Man entscheidet sich für ein Provisorium. Ein richtiger Neubau würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen.
Die Kinder sollen so schnell wie möglich wieder ordentlichen Unterricht bekommen. "Gut", willigt Genel ein. "Ihr liefert das Holz und stellt die Arbeiter, wir sorgen dafür, dass genügend Wellblech da ist." Die Alten nicken. "Die Arbeiter werden mit Lebensmittelpaketen entlohnt", sagt Genel. Die Alten nicken. Und sie warnt: "Dass ihr mir keine Kinder zum Arbeiten schickt. Wir akzeptieren keinen, der jünger ist als sechszehn Jahre." Wieder nicken die Alten. Und man spürt: Hinter dem Respekt steckt mehr als die Tatsache, dass die junge Frau Vertreterin einer Hilfsorganisation ist.
"Wir haben es hier leichter als andere Hilfsorganisationen, weil wir Türken sind", sagt Genel. "Die Menschen sind uns gegenüber offener, weil wir wie sie aus einem muslimisch geprägten Land kommen. Sie begegnen uns als Brüder und Schwestern im Glauben." Eine ähnliche Erfahrung hat sie auch im Iran gemacht, wo Hayata Destek ebenfalls im Auftrag der Diakonie Katastrophenhilfe seit dem Erdbeben vom Dezember 2003 erst Nothilfe leistete und bis heute den Wiederaufbau unterstützt. Oder vorher in Afghanistan, auch da nach einem Erdbeben.
Doch auch der gemeinsame Glaubenshintergrund reicht nicht aus, um den Respekt vor Sema Genel zu erklären. Da ist noch etwas: So klein und zierlich sie auch ist, sie ist entschlossen. Sie weiß, was sie will, und sie weiß, dass sie das auch erreichen kann. Die bärtigen Alten in Chikar spüren das. Das verschafft ihr Respekt und Autorität.
Sema Genel wurde vor 33 Jahren in Balikesir im Westen der Türkei geboren. Ihr Vater war Militär und wurde, als sie sechs Jahre alt war, als Gesandter zur Nato geschickt. Sema ging in Belgien, den Niederlanden und in Luxemburg zur Schule und hat dort auch studiert. Für Entwicklungspolitik interessiert sie sich seit den achtziger Jahren. "Es war die Zeit der großen Hungersnöte in Afrika. Es gab damals viele Fernsehberichte und Hilfskampagnen. Das hat mich beeindruckt. Ich wollte nach Afrika und den Kindern helfen." Sie hat Politologie studiert, mit einem Schwerpunkt auf Entwicklungspolitik. Sie hat sich viel mit den Themen Lobby-Arbeit und nichtstaatliche Organisationen (NGOs) auseinandergesetzt und ihre ganze Studentinnenzeit über als Freiwillige in Hilfswerken gearbeitet immer in den Büros in Europa. Als sie mit der Magisterarbeit begann, wollte sie endlich hinaus, in die Arbeit vor Ort. "Ich habe viele NGOs angeschrieben, die in Afrika arbeiteten. Aber Antwort bekommen habe ich schließlich von einer aus Indien, und so bin ich eben 1995 für drei Monate nach Indien." Es war reiner Zufall, sagt sie, aber ein guter Zufall. "Ich habe in landwirtschaftlichen Projekten für Frauen gearbeitet und nebenher für meine Magisterarbeit geforscht."
Für ihre Doktorarbeit ging sie dann in die Heimat. "Ich war so lange weg gewesen und wollte schon lange wieder zurück in die Türkei. Ich wollte die verschiedenen Kulturen des Landes kennen lernen, wollte ins Kurdengebiet, das damals wegen des Konflikts noch eine Tabuzone war." Und sie wollte in der Türkei den NGO-Gedanken stärken. Bis in die achtziger Jahre hinein gab es dort fast nur Wohltätigkeitsvereine, die meist sehr eng mit Moscheen verbunden waren. Aber moderne NGOs, die Projekte im Feld unterstützen und Lobby-Arbeit betreiben solche NGOs waren erst im Entstehen. "Ich hatte den nötigen akademischen Hintergrund, um mitzuhelfen, dass diese für die Türkei noch neue Art von Organisationen ihren Platz bekommt", sagt Genel.
Fünf Jahre lang, von 1997 bis Ende 2002, blieb sie im Kurdengebiet und arbeitete dort mit einer türkischen NGO in Frauenprojekten, beim Aufbau von Gemeindezentren und in Umsiedlungsprogrammen. "Jeder Einsatz war für mich gleichzeitig eine Fallstudie für meine Doktorarbeit", erzählt sie. Dort lernte sie auch Mitarbeiter der Diakonie Katastrophenhilfe kennen: "Sie waren 1976 nach einem Erdbeben gekommen, und weil die Lage dort eigentlich immer eine Katastrophe ist, sind sie geblieben. Katastrophenhilfe ist oft nur ein Einstieg in ein langfristiges Engagement."
Nicht lange nach ihrer Promotion gründete Sema Genel Hayata Destek/Support to Life, ihre eigene NGO. Sie sollte klein sein, flexibel und effizient. "Ich hatte gelernt: Je größer eine Organisation ist, desto größer wird der Aufwand für Verwaltung und Bürokratie." Hayata Destek hat gerade einmal fünf fest angestellte Mitarbeitende, vier Frauen und einen Mann. Das erlaubt es, flexibler und damit effizienter zu sein als große Organisationen mit starren Regeln und langen Entscheidungswegen. Im Kaschmir etwa sind Genel und ihre Leute so hoch hinauf in die Berge vorgedrungen wie kaum ein anderes Hilfswerk. Sie verteilten Decken, Öfen, Wellblech und Lebensmittel an Orten, an die außer ihnen keine andere NGO kam. Erdrutsche, die bis heute immer wieder Wege verschütten und Dörfer abschneiden, sind für sie kein Hindernis. "Wo keine Straße ist, gehen wir eben zu Fuß", sagt Genel. "Das machen die Einheimischen auch. Wir gehen meistens ein bisschen weiter als andere NGOs." Das verschafft ihr und ihren Mitarbeitern Respekt bei der Bevölkerung.
Und es schafft Arbeitsplätze. Obwohl Chikar immer wieder tagelang wegen Erdrutschen von den Versorgungswegen über das Jhelumtal abgeschnitten ist, hat Hayata Destek dort seine Einsatz- und Verteilzentrale eingerichtet. Die Hilfsorganisation ist der größte Arbeitgeber am Ort. Neben vier der fest Angestellten (die fünfte ist noch immer in Bam im Iran) arbeiten dort 40 Einheimische. Sie verdienen gut drei Euro am Tag; deutlich mehr als den im Kaschmir üblichen Lohn. Die Finanzierung der Nothilfe nach dem Beben kam von der Diakonie Katastrophenhilfe.
Hayata Destek betreibt kein eigenes Fundraising. Es ist eher so etwas wie der operative Arm seiner Geldgeber. Die Arbeit hat auch andere Geldgeber überzeugt. Nun, da es an den Wiederaufbau geht, sind neue Auftraggeber dazu gekommen: "Wir verteilen jetzt auch Saatgut im Auftrag der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO. Und wir haben ein Projekt des European Commission Humanitarian Office zur Wasseraufbereitung und zum Wiederaufbau des Kanalisationssystems bekommen", sagt Genel. "Wir werden noch mindestens sechs Monate im Kaschmir bleiben. Wahrscheinlich sogar bis Ende 2007."
Für die Mitarbeitenden von Hayata Destek bedeutet dies weitere sechs, zwölf oder achtzehn Monate Leben im Zelt, im Winter bei Temperaturen von nachts weit unter Null Grad und bei Regen knöcheltief im Schlamm. Es bedeutet Arbeitstage, die um sechs Uhr morgens mit dem Wecken beginnen und oft erst nach Mitternacht enden. Heimaturlaub gibt es höchstens einmal im Jahr.
Bleibt da noch Platz für Privatleben, für eine Partnerschaft? "Es gab Zeiten, in denen das möglich war und Zeiten, in denen das unmöglich war", sagt Genel. "Aber so bin ich nun mal. Das ist mein Lebensstil, meine Leidenschaft. Ich wollte mich nie irgendwo niederlassen; wollte nie, dass ein Tag dem anderen gleicht. Nur wenn ich draußen bin, spüre ich Adrenalin." Sie ist 33 und voller Energie. Und doch weiß sie, dass sie mit ihren Kräften haushalten sollte. "Ich bin nun schon das vierte Jahr in Folge im Feld. Erst Afghanistan, dann der Iran und jetzt der Kaschmir. Man muss wachsam sein, sich selbst beobachten. Sonst bekommt man gar nicht mit, wie man ausbrennt."
aus: der überblick 02/2006, Seite 98
AUTOR(EN):
Toni Keppeler
Toni Keppeler ist freier Journalist mit Schwerpunkt
Entwicklungsländer und Mitarbeiter der
Agentur Zeitenspiegel.