Migranten schaffen neue Lebensräume über alle Grenzen hinweg
Im 21. Jahrhundert verändern sich die Rahmenbedingungen und die Muster internationaler Wanderungen. Migration ist immer weniger ein einmaliger Ortswechsel, sondern vollzieht sich als komplexe Etappen- oder Pendelbewegung. Dadurch entstehen dauerhafte Netzwerke, die sich zwischen Ankunfts- und Herkunftsregionen aufspannen.
von Dorothea Goebel und Ludger Pries
Doña Guadelupe lebte mit einer ihrer sechs Töchter und anderen Familienmitgliedern in New York City. Sie war schon weit über 60 Jahre alt, als sie beschloss, für einige Monate in ihr Heimatdorf Piaxtla im mexikanischen Bundesstaat Puebla zurückzukehren. Einer ihrer drei Söhne betrieb dort ein kleines Hotel, das mit dem in den USA erarbeiteten Geld finanziert wurde. In diesem Hotel quartierten sich vor allem Angehörige und Freunde von Auswanderern während ihrer Besuche in Piaxtla ein. Früher verwaltete eine von Doña Guadelupes Töchtern das Hotel, die sich aber vor einiger Zeit entschieden hatte, für ein paar Jahre einer Schwester in Newark, New Jersey, im Haushalt zu helfen.
Doña Guadelupe hatte früh die Eltern verloren und ihr ganzes Leben gearbeitet. Schon als junges Mädchen war sie nach New York gegangen und hatte dort bei einer schon lange in den USA lebenden Migrantenfamilie aus Piaxtla im Haushalt gearbeitet. Später konnte sie die Anzahl ihrer meist einige Monate bis Jahre dauernden Aufenthalte in New York und in Piaxtla schon nicht mehr zählen. Ihre Großfamilie verteilt sich auf diese und andere Städte nördlich und südlich des Rio Grande. Hätte man sie gefragt, ob sie sich als Mexikanerin, als US-Amerikanerin oder als Amerikanerin fühlte, hätte sie wohl geantwortet, dass ihr Zuhause dort sei, wo ihre weit verzweigte Familie lebe - nämlich an vielen verschiedenen Plätzen. Auch ihre Kinder, Enkel und die älteren ihrer Urenkel schätzten das Gemeindefest zu Ehren des Dorfheiligen in Piaxtla wesentlich mehr als die pompösen Feiern zum Independence Day in New York.
Als aktive Geschäftsfrau hatte sie allerdings auch die Vorzüge des liberalen Kapitalismus der Metropole am Hudson-River schätzen gelernt. Eigeninitiative, Tüchtigkeit und Gespür für die Bedürfnisse vor allem der hunderttausenden Latinos in New York hatten ihr und einem Großteil ihrer Familie äußerst erfolgreiche Karrieren ermöglicht. Doña schätzte darüber hinaus das Gesundheitssystem und die funktionierende öffentliche Verwaltung. Ein Hamburger und die fast food-Kultur waren aber nichts im Vergleich zu den frischen tortillas und salsas einer Familienfeier in Puebla.
Doña Guadelupe, ihre Kinder und Enkel lebten zwischen verschiedenen Welten. Vier ihrer Kinder hatten sich definitiv für ein Leben in New York entschlossen und fühlten sich als Einwanderer. Drei zogen ein Zuhause in Mexiko den Gefahren und der Kälte "auf der anderen Seite" vor, sie waren Remigranten oder Rückkehrer. Die anderen beiden Kinder konnten oder wollten sich nicht festlegen, und auch deren Nachkommen waren zwischen Mexiko und den USA unterwegs. Sie lebten als Transmigranten an verschiedenen Plätzen mit kulturellen Orientierungen und Lebensstrategien, die sich zwischen beiden Ländern aufspannten und eine eigene Sozialwelt begründeten.
Doña Guadelupe ist kein Einzelfall. Verbesserte Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten stützen soziale Netzwerke von Migrantinnen und Migranten, die sich über nationalstaatliche Grenzen hinweg meistens zwischen sehr genau abgrenzbaren Regionen erstrecken. Ein Teil von Migranten wird zu "Wanderern zwischen den Welten", zu Transmigranten, die zum Beispiel durch Geldüberweisungen, Erwerbstätigkeiten, Familienkontakte oder politisches Engagement gleichzeitig zu verschiedenen Orten enge Beziehungen haben und mal hier und mal dort leben. Diese transnationalen Migrationsräume funktionieren in gewissem Maße unabhängig von nationalen Migrationspolitiken. Nicht selten entstehen sie durch undokumentierte Migration und erleichtern diese für Nachfolger. Deshalb wächst in der Migrationsforschung die Erkenntnis, dass sich Migrationsbewegungen nicht wie Wasserströme lenken lassen, sondern eine eigene Dynamik entwickeln.
Transnationale Migrationsnetzwerke entziehen sich sehr stark einer einzelstaatlichen Steuerung. Sie mögen zwar zahlenmäßig nur einen kleinen Teil der internationalen Migrationsströme ausmachen, können aber - der Wirkung von Enzymen oder Fermenten ähnlich - die Dynamik internationaler Wanderungen insgesamt verändern.
Zu Beginn der 1980er Jahre lebten etwa 77 Millionen Menschen außerhalb ihres Herkunftslandes. Am Anfang des 21. Jahrhunderts wird die Zahl der Migranten von der International Organization for Migration (IOM) auf etwa 150 Millionen weltweit geschätzt. Etwa ein Viertel bis ein Fünftel dieser Menschen sind internationale Flüchtlinge und Vertriebene, also unfreiwillige Migranten. Hinzu kommen noch ungefähr 20 Millionen unfreiwillige Binnenmigranten vor allem in Afrika und China. In diesen Ländern sind viele Menschen gezwungen, ihre Dörfer zu verlassen, um Arbeit in den großen Städten zu finden. Vieles spricht dafür, dass das Ausmaß der internationalen Migrationsbewegungen in diesem Jahrhundert noch wesentlich größer wird.
Allein in China wird der Umfang der Binnenwanderung auf etwa 100 Millionen Menschen geschätzt. Nimmt man andere bevölkerungsreiche Weltregionen vor allem in Asien hinzu, so ergibt sich für die nächsten Jahrzehnte ein gewaltiges Potential von Hunderten Millionen Menschen, die ihr Herkunftsland verlassen müssen oder wollen. Die Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger internationaler Migration wird sowohl für die Betroffenen selbst als auch für den wissenschaftlichen Beobachter häufig kaum möglich sein.
Freilich kann man künftige Migrationsbewegungen kaum präzise vorhersagen. Die völlige Freizügigkeit der Menschen innerhalb der Europäischen Union hat zum Beispiel nicht zu umfangreichen Wanderungsbewegungen zwischen den Ländern geführt, obwohl durchaus beachtliche regionale Unterschiede etwa bei Einkommen und Beschäftigungschancen bestehen. In den Ländern des Südens wird sich auch nicht jeder von Armut betroffene Mensch aus seinen lokalen Bindungen reißen lassen und für die Auswanderung entscheiden. Es sind in der Regel auch nicht die am stärksten verarmten Bauern in den Ländern des Südens, sondern eher Angestellte aus den größeren Städten der Schwellenländer, welche die Kommunikations- und Transportkosten zahlen können, die eine grenzüberschreitende Migration erfordert.
Dennoch ist davon auszugehen, dass Migrationsbewegungen erheblich zunehmen werden. Denn einerseits haben sich die weltweiten Einkommensunterschiede dramatisch zugespitzt. Andererseits sinken die Barrieren für internationale Migration: Neue Kommunikationstechnologien wie das Internet und preiswerte Transportmöglichkeiten für Waren, Geld und Personen, aber auch bereits etablierte internationale Migrationsnetzwerke erleichtern die Wanderung. Die weltweit von Medien verbreiteten typischen Konsummuster und Bilder des modernen Lebens verändern die Erwartungen vieler Menschen und erhöhen die Bereitschaft zu grenzüberschreitender Wanderung. Ökologische Katastrophen, gewaltsame ethnisch-soziale Konflikte oder religiöse und politische Verfolgung machen zudem viele Menschen zu internationalen Flüchtlingen.
Solche Faktoren sind oft wirksamer als die Barrieren, die mit den Migrationspolitiken einzelner Nationalstaaten oder Staatenbünde errichtet werden. In Deutschland wird die Zahl der Migranten ohne gültigen Aufenthaltstatus auf eine Million Menschen geschätzt. In den USA leben allein mehrere Millionen Mexikaner als indocumentados, als Einwanderer ohne Aufenthaltsgenehmigung, und auch in Süd- und Ostasien nimmt diese Form der Migration zu. Transnationale Migrationsräume wirken unter diesen Bedingungen als Katalysatoren für viele der genannten Faktoren.
Welche Bedeutung die internationale Migration in den nächsten Jahrzehnten haben wird, lässt sich heute schon am Beispiel der bevölkerungsreichsten und in vieler Hinsicht dynamischsten Region der Welt zeigen, nämlich an Süd- und Ostasien. Auch dort sind Migrationsbewegungen kein neues Phänomen. Schon vor Jahrhunderten wanderten indische und chinesische Händler in die Region ein. In vielen südostasiatischen Hafenstädten wie Manila, Patani oder Phnom Penh entwickelten sich chinesische Gemeinden, die mit Pfeffer, chinesischer Seide und Porzellan handelten. Viele Händler investierten aber auch an Ort und Stelle und brachten für ihre Unternehmungen eigene chinesische Arbeitskräfte ihrer jeweiligen Dialektgruppe mit. Mit der Kolonialisierung entstanden durch das Coolie-System ähnliche Migrationsmuster: Die europäischen Kolonialherren "importierten" hauptsächlich indische und chinesische Vertragsarbeiter, die unter sklavenähnlichen Bedingungen für Infrastrukturarbeiten wie den Eisenbahnbau, auf Plantagen und Schiffen oder als Soldaten eingesetzt wurden.
In den 1950er Jahren betrug die Anzahl aller im Ausland sesshaften Chinesen 20 Millionen. 12 Millionen von ihnen lebten allein in Südostasien. Die Wanderungsbewegungen innerhalb Süd- und Ostasiens sind zirkulär, das heißt, viele Menschen kehren in ihre Herkunftsregionen zurück. Ferner bildeten sich transnationale Netzwerke heraus, die die Entsenderegionen (vor allem Gouangdong und Fujian) mit den chinesischen Minderheiten in Übersee verbanden. Migrationsströme Ende der 1960er Jahre waren auch politischer Natur. Indochina verwandelte sich zum heißen Schlachtfeld des Kalten Krieges. Noch heute kommen ein Drittel aller Flüchtlinge weltweit aus Asien.
Mit der Ölkrise und steigenden Ölpreisen prosperierte die Golfregion. Für viele der dortigen Großbauprojekte wurden Arbeitskräfte aus den Philippinen, Indonesien, Indien, Thailand, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka rekrutiert. 1990 schätzte man die Zahl asiatischer Arbeitskräfte in der Golfregion auf 5,2 Millionen Menschen. Auf den Großbaustellen wurden überwiegend Männer beschäftigt. Frauen waren - in geringerer Anzahl - in der Hauswirtschaft zu finden. Der durchschnittliche Migrant der 1980er Jahre war männlich, verheiratet, 36 Jahre alt, und hatte geringe formelle Bildung.
Während anfangs die Arbeitskräfte noch von den Firmen direkt rekrutiert wurden, bildeten sich bald die ersten Vermittlungsagenturen. Oft gründeten zurückgekehrte Migranten solche Firmen. Aufgrund der steigenden Nachfrage entwickelte sich ein florierender Geschäftszweig, der auch viel Spielraum für Betrug bot. Anfang der 1990er Jahre ging die Migrationsrate aus den südostasiatischen Ländern in die Golfregion zurück. Ausschlaggebend waren der Rückgang der Ölpreise, der Golfkrieg und die Fertigstellung mehrerer größerer Bauprojekte.
Dafür nahm die Migration innerhalb Süd- und Ostasiens zu. Länder wie Singapur, Hongkong, Taiwan, Brunei, Japan und Korea waren neue Ziele für die Auswanderer. Thailand und Malaysia sind sowohl Empfänger- als auch Entsendeländer. Klassische Auswanderungsländer sind die Philippinen, Indonesien, Vietnam, China und Burma. Zwischen diesen Staaten findet seit Ende der 1980er Jahre ein regionaler Austausch von Arbeitern statt. So verrichten burmesische Bauarbeiter in Thailand dieselben Arbeiten wie thailändische Arbeiter in Singapur oder Taiwan. 1997 betrug der Anteil der ausländischen Erwerbstätigen an der Gesamtzahl der arbeitenden Bevölkerung in Japan 2 Prozent, in Taiwan 5 Prozent, in Hongkong 13 Prozent und in Singapur 18 Prozent. Welche Ursachen sind für diese unterschiedlichen Entwicklungen verantwortlich?
In den so genannten Newly Industrialized Countries, den Schwellenländern, boomte seit Ende der 1980er Jahre die Wirtschaft. Gleichzeitig gingen hier die Geburtenraten zurück. Deshalb hatten diese Länder einen verstärkten Bedarf an internationalen Arbeitskräften. Auch durch ausländische Direktinvestitionen wurden innerhalb Asiens besonders die Kolonie Hongkong und das chinesische Festland sowie Taiwan und Thailand miteinander verbunden. Darüber hinaus wandern Bauern aus dem armen Nordosten Thailands nach Bangkok, erhöhen dort die Arbeitslosigkeit und veranlassen weitere Bewohner Bangkoks zur internationalen Migration.
Dieser Zusammenhang zwischen Binnenwanderung und internationaler Migration ist besonders für Schwellenländer wie Thailand, Malaysia und China von Bedeutung. Migration wird als Möglichkeit des individuellen und familiären Aufstieges wahrgenommen. Außerdem sollen die fehlende Arbeitslosenunterstützung und Altersversorgung oder der schlechte Zugang zu Kredit ausgeglichen werden. Auch die Erzählungen erfolgreicher zurückgekehrter Migranten motivieren andere, dasselbe zu versuchen.
Durch die internationale Migration werden Ankunfts- und Herkunftsregion miteinander verknüpft. Dabei fallen besonders Verflechtungen in Grenzregionen ins Auge. Diese sind beispielsweise zwischen Burma und Thailand, China und Korea sowie Indonesien und Malaysia zu beobachten. Die Grenzen zwischen diesen Ländern sind besonders durchlässig und schwer zu kontrollieren. In vielen Fällen leben ethnische Minderheiten beiderseits der Grenzen. Teilweise knüpfen solche transnationalen Netzwerke auch an kulturelle Gemeinsamkeiten an, so zum Beispiel das zwischen der überwiegend islamisch geprägten Insel Mindanao in Indonesien und der ebenso islamisch geprägten malaysischen Provinz Sabah.
Im Zusammenhang mit asiatischen Migrationsbewegungen ist häufig die Rede von Feminisierung, Illegalisierung und Kommerzialisierung. Einige Beispiele können das veranschaulichen. Die meisten Migranten sind gering bis nicht qualifizierte Arbeitskräfte. Im Gegensatz zu den 1970er Jahren wandern heute auffallend mehr Frauen aus. Zudem sind die Migranten im Durchschnitt jünger. 1999 wurden nach OECD-Angaben in Asien 16 Prozent mehr Migrantinnen neu eingestellt, während die Beschäftigung von männlichen Arbeitsmigranten stagnierte.
Die Feminisierung der Migration hängt eng mit den neu entstandenen Arbeitsplätzen in der Textilindustrie, in der Hauswirtschaft, im Dienstleistungssektor und in der Unterhaltungsindustrie zusammen. In diesen Sektoren sind vorwiegend Frauen beschäftigt. Hinzu kommen geschlechtsspezifische Stereotype. So gelten in Süd- und Ostasien Frauen als verlässlicher, ihnen wird stärker als in vielen anderen Weltregionen eine gleichwertige Verantwortung, etwa für die Altersversorgung der Eltern, zugeschrieben.
Viele der Arbeitsmigranten lassen sich nicht dauerhaft in der Ankunftsregion nieder. Im Gegensatz zu der europäischen Gastarbeitermigration besteht in Süd- und Ostasien dazu auch keine Möglichkeit. So wurden beispielsweise zwischen 1990 und 1997 nur 16.000 Migranten in Malaysia eingebürgert. Die Migranten mit Arbeitsgenehmigung werden nur für einen kürzeren Aufenthaltszeitraum rekrutiert, ein Recht auf Familiennachzug besteht nicht. Gerade diese fehlende Integrationsmöglichkeit bewirkt, dass sich die Migranten stark an ihrem Heimatland orientieren und Verbindungen dorthin aufrechterhalten.
Auch Migrationsbewegungen in Süd- und Ostasien unterliegen einer starken Kommerzialisierung. Für private Rekrutierungsagenturen und Menschenschleuser ist die Organisation von Emigration ein lohnendes Geschäft. Die illegale Einreise von Thailand nach Japan kostet inklusive Flugticket und Arbeitsplatz 16.500 US-Dollar. Oft wird dieser Betrag von den Einwanderern von dem Lohn abbezahlt, den sie im Ankunftsland beziehen. Auch Routen des Menschenhandels sind in Süd- und Ostasien zu finden. In China verliert - bedingt durch die wirtschaftliche Öffnung, Modernisierung und Dezentralisierung - die chinesische Zentralregierung zu Gunsten der lokalen Regierungen an Macht. Die neu entstehenden korrupten Strukturen begünstigen Schmugglerringe. Zwischen der südchinesischen Provinz Yunnan und dem angrenzenden Thailand etwa hat sich eine solche Route herausgebildet.
In Süd- und Ostasien nehmen illegale Migrationsbewegungen rapide zu. So wird für 1999 die Zahl der Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung in Thailand und Malaysia jeweils auf eine Million geschätzt. Auch in Japan halten sich 40 Prozent aller Einwanderer ohne gültigen Aufenthaltsstatus auf. Migranten, die illegal eingereist sind, stehen außerhalb des staatlichen Schutzes und sind häufig Betrug und Ausbeutung durch Arbeitgeber ausgesetzt. Gerade im informellen Bereich und bei Hausangestellten sind Missbrauch und Betrug keine Seltenheit. Die asiatische Wirtschaftskrise 1997 trug zum Aufschwung illegaler Migrationsbewegungen in der Region bei. Während man vor der Wirtschaftskrise noch versuchte, illegal eingereiste zu registrieren und zu legalisieren, änderte sich dies mit der Wirtschaftskrise schlagartig.
Nun wurden die Einwanderer ohne Papiere schnell zu Sündenböcken für die zunehmende Arbeitslosigkeit abgestempelt. Der Versuch, illegal arbeitende ausländische Arbeitskräfte durch einheimische zu ersetzen, schlug allerdings größtenteils fehl. Auch die nach der Wirtschaftkrise eingeleiteten Rückführungskampagnen erwiesen sich in der Praxis als schlecht umsetzbar. So konnte Thailand 1998 lediglich 200.000 illegal eingereiste burmesische Arbeitsmigranten zurückführen, in Malaysia betraf diese Maßnahme ebenfalls nur 200.000 indonesische Arbeiter ohne Papiere. Durch Massenentlassungen wurden viele ehemals legal arbeitende Migranten in die Illegalität und den informellen Sektor abgedrängt.
Migrationsbewegungen in Asien sind also nur zu einem eingeschränkten Teil durch staatliche Politik unmittelbar zu kontrollieren. Je stärker sich transnationale Migrationsnetzwerke und Sozialräume ausbilden, desto größer ist in der Regel die Eigendynamik der Wanderungsbewegungen. Vor dem Hintergrund der über mehrere Jahrhunderte gewachsenen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen transnationalen Beziehungen haben viele Menschen und Familien in Süd- und Ostasien Freunde, Bekannte und Verwandte und kennen Erwerbsgelegenheiten in mehreren Ländern. Lebensplanungen und soziale Beziehungsnetzwerke sind nicht auf einen Ort oder ein Land beschränkt, sondern in transnationalen Sozialräumen verankert.
Ein relativ gut erforschtes Beispiel für Transmigration und das Entstehen von transnationalen Sozialräumen ist die Arbeitswanderung zwischen den USA und Mexiko. Das eingangs zitierte Beispiel von Doña Guadelupe aus Piaxtla im mexikanischen Bundesstaat Puebla macht bereits einige Elemente deutlich.
Für einige Gemeinden in dieser Region organisierten sich in New York City Unterstützungskomitees, die sich zum Beispiel bei der Verlegung von Trinkwasserleitungen in ihren Herkunftsgemeinden oder die Restauration von Kirchen und Dorfplätzen engagieren. Für diese Ziele sammeln die Komitees bei den in New York arbeitenden Migranten Spenden. Über Telefonkonferenzschaltungen werden wichtige Entscheidungen und Fragen mit den Verantwortlichen in den Herkunftsgemeinden abgesprochen. Die aus New York zusammengetragenen Geldbeträge übertreffen nicht selten die öffentlichen Ausgaben für Infrastrukturmaßnahmen in den mexikanischen Gemeinden.
Über Telefon, Regionalradio und Internet werden täglich über bis zu 4000 Kilometer Entfernung hinweg Informationen ausgetauscht. Selbst gefertigte Video- und Audio-Aufnahmen zum Beispiel von Familienfeierlichkeiten oder der Empfang mexikanischer Telenova-Fernsehserien ermöglichen auch den Analphabeten unter den Arbeitsmigranten eine Teilhabe an mehreren Sozialwelten. Politische Gruppierungen und Organisationen wie die Frente Indigena Oaxaqueña Binacional oder die Zeitschrift La Mixteca Año 2000 setzen sich für die wirtschaftlichen Interessen und Menschenrechte der Arbeitsmigranten auf beiden Seiten der Grenze ein und entwickeln eine gewisse transnationale Identität. Das Potential dieser Gruppen, in den USA, aber vor allem auf mexikanischer Seite politischen Druck auszuüben, übersteigt dabei nicht selten die Einflussmöglichkeiten der Lokalpolitiker. Der Leiter der mexikanischen Fußballliga in New York formulierte es im Gespräch so: "Als einfache Mexikaner und auch als einfache Arbeitsmigranten zählten wir doch gar nicht, aber jetzt werden wir auf einmal von hohen mexikanischen Politikern hofiert."
Ein Teil der mexikanischen Arbeitsmigranten in den USA schickt nicht nur regelmäßig Geld an die Verwandten nach Hause, sondern investiert auch in der Herkunftsregion, baut etwa Häuser, verbessert die Qualität des Agrarlandes oder richtet Bewässerungssysteme ein. Dies gilt nicht nur für die erste Generation von Arbeitsmigranten. Die Herkunftsregionen in Mexiko scheinen auch auf längere Sicht ein zentraler Orientierungspunkt in den Lebensprojekten der Wanderarbeiter bleiben.
Eine Befragung von über 700 mexikanischen Migrantinnen und Migranten im Rahmen einer von uns durchgeführten Studie ergab, dass ein erheblicher Teil von ihnen fünf- oder gar zehnmal die Grenze zwischen beiden Ländern überschreitet. Diese Arbeitsmigranten - je nach Kriterium zwischen zehn und zwanzig Prozent der Befragten - pendeln jeweils für einige Jahre. Das betrifft nicht nur die erste, sondern auch spätere Generationen mexikanischer Immigranten. Viele verstehen sich selbst als "Wanderer zwischen den Welten", sehen Vorzüge sowohl in dem Leben in den USA als auch in der Lebensweise in Mexiko. Ihren Kindern wollen sie sowohl Mexiko als auch die Vereinigten Staaten nahe bringen. Das, was wir transnationale soziale Räume nennen, ist ganz offensichtlich nicht nur ein Übergangsphänomen auf dem Weg zu einer vollständiger "Integration" oder "Assimilation".
Nicht nur Mexiko hat die enorme wirtschaftliche und politische Bedeutung der Arbeitsmigranten erkannt. Im Jahr 2001 überstiegen Mexikos Einnahmen aus den Rücküberweisungen zum ersten Mal die bis dahin wichtigste Devisenquelle der Erdölexporte. Seit den Präsidentschaftswahlen 1988, bei denen die mexikanischen Wanderarbeiter überproportional gegen die Staatspartei PRI votierten, ist ihre Bedeutung als Wählerpotenzial erkannt. Seitdem bemühen sich die mexikanischen Regierungen, die Migranten wirtschaftlich und politisch-kulturell einzubinden. So reisen etwa die Bürgermeister kleiner mexikanischer Gemeinden nach New York, um den dortigen Migrantenvereinigungen Investitionsprojekte für die heimische Dorfentwicklung vorzuschlagen. Neben den Sportverbänden in New York unterstützt die Botschaft aktiv die Entwicklung von Guadelupana-Gruppen, die den Kult um die Jungfrau von Guadelupe, der wichtigsten mexikanischen Nationalheiligen, in New York organisieren sollen.
Die alltäglich gelebte Wirklichkeit transnationaler Migration hat weit reichende politische Konsequenzen. Denn es entstehen relativ unabhängige soziale Zusammenhänge, die sich dem territorialen Gestaltungsbereich von einzelnen Nationalstaaten entziehen. Auch vom bisherigen Netz globaler Regelungen und Normen werden sie wenig beeinflusst.
Alle Versuche und Möglichkeiten, die internationale Migration zu kontrollieren oder in ihrem Ausmaß zu steuern, haben bisher bestenfalls sehr begrenzte Wirkung gezeigt. Nicht selten riefen entsprechende Versuche sogar nicht einkalkulierte Konsequenzen hervor. Gewaltsame Konflikte und globale sowie regionale Wohlstandsgefälle sind dauerhafte Triebkräfte für internationale Wanderungen. Die politische Großwetterlage der letzten beiden Jahrzehnte hat eher Rückschläge als Fortschritte auf dem Weg zu einer nachhaltigen globalen Sozialpolitik als "Weltinnenpolitik" mit sich gebracht. So lange die globale soziale Polarisierung weiter besteht, wird die Inschrift im Sockel der Freiheitsstatue von New York für viele Menschen Programm sein: "Gib mir Deine Müden, Deine Armen, Deine hinausdrängenden Massen, die danach streben, frei zu atmen, den elenden Abfall Deines wimmelnden Landes, schick diese, die Heimatlosen, Sturmgeschüttelten zu mir, ich hebe meine Leuchte neben dem goldenen Tor!"
Literatur
Douglas S. Massey u.a.: Worlds in Motion. Unterstanding International Migration at the End of the Millennium. Clarendon Press, Oxford 1999.
Ludger Pries: New Transnational Social Spaces: International Migration and Transnational Companies in the Early Twenty-first Century. Routledge, London 2001.
aus: der überblick 03/2002, Seite 37
AUTOR(EN):
Dorothea Goebel und Ludger Pries:
Dorothea Goebel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Organisationssoziologie und Mitbestimmungsforschung der Ruhr-Universität Bochum und arbeitet unter anderem zu Migration und Transnationalisierung. Professor Ludger Pries leitet dieses Institut. Er forschte und lehrte unter anderem in Mexiko, Brasilien, Spanien und den USA.