Irene Fernandez ist der malaysischen Regierung ein Dorn im Auge
Kein Schild weist den Weg zum Büro von Irene Fernandez im
elften Stock des Bürogebäudes im indischen Viertel von Kuala Lumpur.
Auf der belebten Straße, die nach der Indischen Moschee Masjid India
benannt ist, schlängeln sich Autos und Mopeds. Von hier aus sind es nur
fünf Minuten Fußweg bis zum Gerichtshof im Herzen der Hauptstadt
Malaysias, einem mächtigen Backsteinbau im anglo-maurischen
Stil.
Irene Fernandez, die Chefin der malaysischen Frauenorganisation
Tenaganita (Kraft der Frauen), könnte die Strecke mittlerweile wohl
mit geschlossenen Augen zurücklegen. 220 Tage hat die rundliche Frau mit
den lebhaften Augen in den vergangenen vier Jahren im Gerichtssaal verbracht –
als Angeklagte im längsten Prozess der malaysischen Rechtsgeschichte. Das
vermeintliche Verbrechen der 54-Jährigen: Sie soll "böswillig falsche
Nachrichten" über die Situation in Malaysias Abschiebegefängnissen
verbreitet haben.
von Jutta Lietsch
Tenaganita hatte im August 1995 einen schockierenden Bericht veröffentlicht: Zahlreiche illegale Arbeitskräfte aus Bangladesh, Indonesien und anderen Ländern seien in malaysischer Haft an Misshandlungen, Hunger oder unbehandelten Krankheiten gestorben. Das Innenministerium gab kurz darauf den Tod von 42 Häftlingen "durch natürliche Ursache" zu. Dennoch bekamen Irene Fernandez und ihre Mitarbeiterinnen bald den Zorn der Behörden über die Enthüllung zu spüren: Ein hochrangiger Polizist verklagte sie. Im Frühjahr 1996 nahmen die Behörden Irene Fernandez vorübergehend fest und entzogen ihr den Pass. Wenige Monate später wurde sie wegen Verstoßes gegen das Druck- und Publikationsgesetz vor Gericht gestellt. Das kann mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden.
In- und ausländische Bürgerrechtler und Rechtsanwälte protestierten. Aus aller Welt trafen Solidaritäts-Postkarten ein, die inzwischen die Wände des Tenaganita-Büros bedecken. Internationale Juristenverbände bezeichnen den Fall inzwischen als Musterbeispiel für den Missbrauch der Gerichte durch die malaysische Regierung, die ihre Kritiker zermürben und mundtot machen will. Über den Ausgang macht Irene Fernandez sich keine Illusionen: "Es ist ein politischer Prozess, und deshalb werden sie mich verurteilen."
Das Verfahren zieht sich mittlerweile schon doppelt so lange hin wie ein anderer bizarrer Rechtsfall, der mehr internationales Aufsehen erregt hat: die Anklage gegen den früheren Vizepremier Anwar Ibrahim. Der war im Sommer 1998 bei Regierungschef Mahathir Mohamad in Ungnade gefallen und daraufhin entlassen, verhaftet, vom Polizeichef verprügelt und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden. Anwar steht derzeit wegen angeblicher Homosexualität erneut vor Gericht.
Irene Fernandez ist zwar im Ausland nicht so bekannt wie Anwar, der bis zu seinem tiefen Sturz auf der Sonnenseite der Macht gelebt hatte. Doch ihr Schicksal ist ebenso eng mit den dramatischen Veränderungen in diesem südostasiatischen Land verbunden, das sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einem Plantagenstaat zu einem der wirtschaftlich erfolgreichsten "kleinen Tiger" entwickelt hat. Als Symbol für das neue Malaysia verweist die Regierung stolz auf die höchsten Bürotürme der Welt in Kuala Lumpur. Premier Mahathir Mohamad plant die erste vollständig elektronisch vernetzte Verwaltungshauptstadt der Welt und versucht die fortschrittlichsten High-Tech-Betriebe in einem "Multimedia-Superkorridor" anzusiedeln. Vor der Asienkrise 1997 beschäftigten Malaysias Fabriken, Plantagen und Privathaushalte Hunderttausende Wanderarbeiter aus Bangladesh, Indonesien und anderen Ländern, die der Armut in ihrer Heimat entfliehen wollten.
Auch die Eltern von Irene Fernandez waren Zuwanderer. Wie viele Inder waren sie unter der britischen Kolonialherrschaft nach Südostasien gezogen, um auf den Kautschuk-Plantagen zu arbeiten. Die katholische Familie Fernandez aus dem südindischen Kerala landete in der Provinz Kedah. Anders als die meisten Kinder in den Plantagen hatte die kleine Irene Glück: "Ich durfte zur Schule gehen." In einer von Nonnen geführten Schule machte sie ihr Abitur. Nach dem Studium arbeitete sie drei Jahre als Lehrerin.
In ihre Jugendzeit fielen die Unruhen, die 1969 die malaysische Nation erschütterten. In Kuala Lumpur und anderen Orten des Landes verwandelten sich damals politische Demonstrationen in antichinesische Pogrome. Die Wut der malayisch-muslimischen Bevölkerungsmehrheit entlud sich gegen die Minderheit der Chinesen, die rund 30 Prozent der Bewohner stellte, aber den größten Teil des Vermögens besaß. Die Ereignisse sollten sich tief in die Psyche des Landes eingraben. "Eine pluralistische und multi-religiöse Gesellschaft steht immer am Rande der Katastrophe", beschrieb später Anwar Ibrahim das Lebensgefühl in Malaysia. Die Angst der Malaysier vor neuen Krawallen dient der Regierung seither dazu, Kritik und Demonstrationen zu unterdrücken.
Auch Einflüsse aus dem Ausland prägten die Jugend von Irene Fernandez: Ausläufer der europäischen 68-er Bewegung erreichten auch die Universitäten in Asien. Auch die malaysischen Studenten debattierten über den Vietnamkrieg und über die anti-kolonialistischen Bewegungen in der Dritten Welt. "Es war eine aufregende Zeit", erinnert sich Irene Fernandez.
1971 gab die junge Lehrerin ihren Job auf. "Unser Schulsystem ignorierte damals völlig die Bedürfnisse der Kinder aus den armen Familien. Die waren nicht dümmer, aber sie bekamen nie eine Chance." Statt dessen begann sie hauptberuflich im Young Christian Workers’ Movement (YCWM) zu arbeiten. "Wir haben damals Arbeitslosen geholfen, handwerkliche Fähigkeiten vermittelt, Plantagenarbeiter organisiert", berichtet sie. Es war die Periode der so genannten Neuen Wirtschaftspolitik und der Industrialisierung: Die Regierung begann, muslimische Malayen (rund 50 Prozent der Bevölkerung) gezielt zu bevorzugen. Malayische Kinder erhielten Quotenplätze an den Universitäten und die begehrten Beamtenposten. Damit hoffte die Regierung, die Kluft zwischen Malayen und den Minderheiten zu verringern und neuen Krawallen vorzubeugen.
Textil- und Elektronikfabriken, die für den Weltmarkt produzierten, siedelten sich in großer Zahl in Malaysia an. Die Regierung sorgte mit harter Hand dafür, dass die Arbeitskräfte billig und willig blieben. Fernandez: "Damals habe ich gesehen, wie die Gesellschaft funktioniert und wie leicht Menschen an den Rand gedrückt werden." Die offiziellen Gewerkschaften waren eingeschüchtert und regierungstreu. "Wir begannen, die Textilarbeiterinnen zu organisieren. Wir sahen, dass wir etwas bewirken konnten."
Der Student Anwar Ibrahim, damals als feuriger Muslim bekannt, gehörte wie Irene Fernandez zu den Organisatoren des Malaysischen Jugendrates, in dem muslimische und christliche Studenten, Arbeiterverbände und Bauerngruppen zusammenarbeiteten. Als Anwar und seine Freunde Demonstrationen für bessere Landrechte der Bauern organisierten, reagierte die Regierung 1975 scharf: Sie ließ zahlreiche Mitglieder des Jugendrats verhaften, darunter auch den späteren Vizepremier Anwar.
Zu ihren wichtigsten Erfahrungen zählt Irene Fernandez heute eine Reise nach Chile Mitte der siebziger Jahre. Als Vertreterin des YCWM sollte sie nach dem Schicksal von Arbeitern forschen, die unter dem Pinochet-Regime "verschwunden" waren. "Das hat mich sehr erschüttert", sagt Fernandez: "Zu sehen, wie die Menschen dort für Gerechtigkeit kämpften und was die Familien der Verschwundenen durchmachten." Damals, erinnert sie sich, "fand ich, dass ich selbst bisher nicht genug getan hatte. Ich nahm mir vor, mich stärker als bisher zu engagieren."
Eine der bekanntesten malaysischen Bürgerrechtsgruppen war die Consumer Association of Penang, die unter anderem Fischern und landlosen Bauern half, sich zu organisieren. Irene Fernandez engagierte sich fünf Jahre lang bei dieser Organisation. Seit dieser Zeit ist sie im regionalen Pesticide-Action Network for Sustainable Agriculture aktiv, das sie heute leitet. Nach ihrer Hochzeit 1979 gab Irene Fernandez ihre Arbeit vorübergehend auf. Ihr Mann Joseph Paul arbeitete für das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR mit vietnamesischen Bootsflüchtlingen. In den Jahren darauf kamen ihre drei Kinder zur Welt, die heute 19, 17 und 15 Jahre alt sind.
Im Vorstand des Malaysischen Jugendrates war Irene Fernandez die einzige Frau gewesen. Das war, wie sie später erkannte, kein Zufall. So gründete sie gemeinsam mit ihrer Schwester Aegile und einigen Freundinnen Mitte der achtziger Jahre die Gruppe Tenaganita und bald darauf mit Kolleginnen aus anderen Ländern ein Netzwerk asiatischer Frauenorganisationen unter dem Namen Asia-Pacific Forum for Women, Law and Development. Irene Fernandez: "Wir hatten häufig erlebt, dass die Frauen in Fabriken, Plantagen und auch in den Familien Opfer von Gewalt geworden waren. Wir wollten die grundlegenden Ursachen der Unterdrückung von Frauen erforschen und etwas dagegen unternehmen."
Doch Tenaganita fand anfangs wenig Unterstützung unter Fernandez früheren Kollegen in den Bürgerrechtsgruppen: "Für die war das nicht wichtig. Die beklagten sich immer nur darüber, dass die Frauen sich in den Gewerkschaften nicht genug engagierten", sagt sie. "Über persönliche Dinge, die den Bereich der Religion, Sexualität und unterschiedliche kulturelle Vorstellungen berühren, wollten viele Leute nicht reden." Dass sie Christin und Inderin ist, machte ihre Arbeit nicht leichter, sagt sie. Ein Grund: "Für viele Malaysier ist christlich gleichbedeutend mit westlich und damit abzulehnen."
Irene Fernandez scheute sich dennoch nicht, Tabuthemen anzupacken. Eines davon ist die medizinische Versorgung von Prostituierten. Viele illegale Arbeitskräfte enden als Sexworker, schutzlos Zuhältern und korrupten Polizisten ausgeliefert. Tenaganita richtete Wohngemeinschaften für Frauen ein, die an AIDS erkrankt waren. Inzwischen leitet Irene Fernandez auch ein Netzwerk asiatischer AIDS-Hilfegruppen (CARAM-Asia). Untersuchungen über die medizinische Situation der illegalen Arbeitsmigranten führten schließlich dazu, dass Tenaganita den Bericht über die dramatische Lage in den Abschiebelagern veröffentlichte.
Paradoxerweise hat die Affaire um Anwar Ibrahim, den Mitstreiter aus der Zeit des Malaysischen Jugendrates, das politische Klima in Malaysia in den vergangenen zwei Jahren "positiv verändert", wie sie sagt: "Seitdem ist die Bürgerbewegung aufgewacht und arbeitet besser zusammen als je zuvor." Der Fall Anwars hat Irene Fernandez bewogen, sich zum ersten Mal in einer politischen Partei zu engagieren: Sie sitzt im Vorstand der von Anwars Ehefrau Wan Azizah 1999 gegründeten Nationalen Gerechtigkeitspartei. Bei den Wahlen im vergangenen November schaffte Irene Fernandez es allerdings nicht, einen Parlamentssitz zu gewinnen.
Was bewegt sie trotz der ständigen Repressionen dazu, nicht aufzugeben? "Mein Traum", sagt sie, "von einer gerechteren Gesellschaft für mich und meine Kinder. Und mein christlicher Glaube." Nachfragen über ihre schmerzenden Glieder und die dunklen Ringe unter den Augen, die von Stress und Überarbeitung zeugen, wehrt sie ab. "Seit neuestem", sagt sie lachend, "stellen wir unsere Familienzusammenkünfte unter das Motto: Zeitlose Körper, nimmermüder Geist".
aus: der überblick 02/2000, Seite 79
AUTOR(EN):
Jutta Lietsch:
Jutta Lietsch ist freie Journalistin und lebt als Auslandskorrespondentin in Peking, Volksrepublik China.