Erschütterung der Gesellschaft
Die Erdstöße in Gujarat im Januar diesen Jahres waren die schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte des unabhängigen Indien. Das lag nicht nur an der Stärke des Bebens. Die hohe Zahl der Todesopfer ist auch darin begründet, dass die Behörden weder die Bauvorschriften durchgesetzt noch Rettungsmaßnahmen vorbereitet hatten. Nicht der Staat, sondern religiöse und nichtstaatliche Organisationen, Privatunternehmen und die Diaspora nahmen die Nothilfe in die Hand. Nicht wenige ließen sich dabei von Kasten- und Religionskonflikten oder Geschäftsinteressen leiten.
von Christophe Jaffrelot
Ahmedabad, Mitte Februar 2001. Der Bus, der zwischen dem Bahnhof und dem Hotel Cama verkehrt, trägt auf einer Windschutzscheibe noch die Aufschrift, dass er für Hilfsmaßnahmen von einer britischen nichtstaatlichen Organisation (NGO) requiriert wurde. Im Hotel, wo große Risse Decken und Wände durchziehen, nehmen die letzten Teams von ausländischen Ärzten und die wenigen anderen Bewohner die vierte und letzte Etage ein – eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall eines erneuten Erdbebens, erläutert der Empfangschef.
Das Epizentrum des Erdbebens vom 26. Januar – es erreichte die Stärke 8,1 auf der Richter-Skala – befand sich in der Nähe der Stadt Bhuj im Distrikt Kutch. Dieser Distrikt grenzt an Pakistan und war einer der Schauplätze des indisch-pakistanischen Krieges von 1965. Er ist von der Fläche der zweitgrößte Bundesstaat Indiens und besteht aus Halbwüste. Ländliche Behausungen, häufig in Form von Hütten, haben hier doppelt dicke Wände, damit das Innere kühl bleibt. Auf dem Land leben Hirtenvölker, die ihre kargen Einkommen mit Textilhandarbeiten aufbessern, die zu den prächtigsten in Indien zählen.
Es gibt aber auch Städte in Kutch. Dass diese Katastrophe, die schlimmste jemals in Indien, so viele Menschenleben gefordert hat, erklärt sich vor allem aus der stark gewachsenen Bedeutung dieser Städte. Die Zahl der Opfer werden wir nie erfahren. Der damalige indische Verteidigungsminister George Fernandes nannte am Tag nach der Katastrophe die Zahl von 100.000 Toten, die Regierung von Gujarat gab 30.000 an. Die Wahrheit liegt sicher dazwischen. Mehrere Städte wurden stark in Mitleidenschaft gezogen: Bhuj (150.000 Einwohner) ist ein Trümmerfeld; Teile von Anjar (80.000 Einwohner) und Bhachau (70.000 Einwohner) wurden dem Erdboden gleichgemacht. In Ahmedabad, dem wirtschaftlichen Zentrum Gujarats, gab es trotz der 5 Millionen Einwohner nur 700 Opfer, weil das Epizentrum nicht so nahe lag.
Die Hilfsmaßnahmen konzentrierten sich auf Gandhinagar, die Verwaltungshauptstadt. Ahmedabad, die bedeutendste Stadt in Gujarat, war dennoch ein ausgezeichneter Beobachtungsposten. Man konnte dort wie durch ein Vergrößerungsglas eine Reihe von politischen und sozialen Prozessen beobachten, die sich im ganzen Land mehr oder weniger latent vollziehen: den Niedergang des Staates, die zunehmende Ausrichtung der sozialen Solidarität an kommunalen Gruppen wie Kasten und Religionsgemeinschaften, das zunehmende Gewicht der Diaspora, den örtlichen Wirtschaftsboom und die zunehmende Korruption.
Das Erdbeben hat die Unfähigkeit der staatlichen Behörden schonungslos deutlich gemacht. Indien gibt sich als ein starker Staat, der entschlossen seinen eigenen Weg geht. Das wurde am 26. Januar unter Beweis gestellt und ad absurdum geführt. Jedes Jahr wird an diesem Datum der Tag der Ausrufung der Republik mit farbenprächtigen Umzügen gefeiert – wahren säkularen Ritualen, an denen vor allem Schulkinder teilnehmen. Dieses Jahr haben die Behörden in Neu-Delhi stoisch an dem Umzug festgehalten und die Fahnen gehisst, obwohl um 8 Uhr 45 vormittags die Erde gebebt hatte. Der vom Ministerpräsidenten einberufene Krisenstab trat erst um 15 Uhr zusammen. Und was hat er beschlossen? Dass Indien sich der Anforderung allein stellen und Hilfsangebote von außen ablehnen werde. In diesem nationalistischen Reflex kommt deutlich die Zwangsvorstellung von der Eigenständigkeit zum Ausdruck, die das Land bereits bewogen hatte, nach dem Wirbelsturm in Orissa im Jahre 1999 Hilfe von außen abzulehnen.
Das ist kriminell, denn Indien hat schlicht nicht die Mittel, um mit einer solchen Katastrophe allein fertig zu werden. Obwohl es zuvor in zehn Jahren vier Erdbeben erlebt hatte – das schlimmste forderte im Jahre 1993 in Maharashtra 13.000 Tote –, hat es sich weder die notwendigen Strukturen noch das Material verschafft, um diese Art von Krisen zu bewältigen. Das nationale Katastrophenzentrum, das erst 1995 eingerichtet wurde, hat lediglich die Aufgabe, einheimische Funktionäre auszubilden. Es wurde keinerlei Aktionsplan oder System für Sofortmaßnahmen ausgearbeitet.
Indien mangelt es auch an so unerlässlicher Ausrüstung wie Kränen, Wolframschneidgeräten zum Durchschneiden von Beton, Infrarotkameras, Geräuschdetektoren oder Hunden, die darauf abgerichtet sind, Überlebende unter Trümmern aufzufinden. All dieses Material haben mehrere Ländern schon am 26. Januar angeboten, und die Regierung hat es zwei Tage lang stur abgelehnt, bevor sie sich der Tatsache beugte, dass sie ohnmächtig war. Diese Verzögerung von 48 Stunden hat einer nicht feststellbaren Zahl von Menschen das Leben gekostet – zum Beispiel die 43 Kinder in Ahmedabad, die in ihrer Schule eingeschlossen waren und stundenlang vergeblich Hilferufe aussandten, bevor sie erstickten. Nur ein einziges Kind überlebte.
Als dann ausländische Teams nach Indien einreisen durften, haben sie zuweilen Wunder vollbracht – zum Beispiel die Schweizer, deren Hunde Dutzende Personen gerettet haben. Aber auch sie hatten mit der unglaublichen Desorganisation der Behörden zu kämpfen. Zum Beispiel die türkischen Helfer und die israelischen Ärzte, die daran gehindert wurden, ihre Flugzeuge zu benutzen, um in die Nähe des Epizentrums zu kommen. Die Verwaltung von Gujarat erwies sich als derart unfähig, die Hilfe zu koordinieren, dass Neu-Delhi sich rasch entschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen – genauer gesagt: sie weitgehend den Streitkräften anzuvertrauen.
Man wusste es seit langem, und die Katastrophe hat es bestätigt: Die Streitkräfte sind die am besten funktionierende Institution in Indien. Die im Distrikt Bhuj stationierten rund 17.000 Soldaten – diese Region ist wegen der Nähe zu Pakistan stark militarisiert – haben nicht nur Erste Hilfe geleistet, sondern auch die Verteilung von Decken und Nahrungsmitteln übernommen. Kurz, die Streitkräfte haben die Arbeit der Regierung getan, und das häufig auf eigene Initiative und obwohl das Erdbeben auch sie stark getroffen hatte: Dutzende in dieser Zone stationierte Soldaten waren am 26. Januar umgekommen. Bis 15 Uhr an diesem Tag war der einzige Arzt, der in dem Gebiet Operationen vornahm, der der Grenzschutztruppe. Das Militärkrankenhaus von Bhuj, das aufgrund der Zerstörungen in ein Zelt verlegt worden war, führte in wenigen Tagen 791 schwere chirurgische Eingriffe durch, und die Soldaten retteten 419 Personen aus den Trümmern. Das Ansehen der Streitkräfte ist dadurch weiter gestiegen.
Der Staat hat Geld bereitgestellt, und das sollte anerkannt werden. Am 13. Februar gab die Regierung von Gujarat bekannt, dass sie 40 Milliarden Rupien (gut 1,9 Milliarden Mark) für Entschädigungen für die Opfer bereitstellt. Doch da die Kassen leer sind, wurde gleichzeitig für 2001-2002 eine Erhöhung der Einkommensteuer um 2 Prozent angekündigt.
Der Staat hat ferner und vor allem zu Spenden aufgerufen und die Initiativen der nichtstaatlichen Organisationen und der Privatunternehmen koordiniert. Die Regierung hat zum Beispiel in der Presse einen Aufruf an diejenigen erlassen, die zerstörte Dörfer wiederaufbauen konnten, und sich lediglich vorbehalten, ein Leistungsverzeichnis dafür festzulegen. Damit hat sie einen starken Trend bestätigt. Denn schon seit einigen Jahren verlassen sich die Bundesstaaten darauf, dass NGOs öffentliche Dienstleistungen erbringen, etwa im Bildungswesen.
Zahlreiche NGOs haben auf den Aufruf reagiert. Doch waren sie nicht die ersten, die handelten. Dem geübten Auge konnte nicht entgehen, wieviel die militanten Anhänger der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, Vereinigung nationaler Freiwilliger), die an kurzen Kakihosen, weißen Hemden und schwarzen Mützen zu erkennen sind, geleistet haben. Diese hinduistische nationalistische Bewegung, die einer fremdenfeindlichen Ideologie anhängt, hat sich bereits bei vielen anderen Katastrophen durch ihre Hingabe und ihre tadellose Disziplin ausgezeichnet. Diese »Strategie der Wohltätigkeit« verbessert ihr Image noch stark und führt ihr neue Anhänger zu. Gujarat wird seit 1990 von der Partei regiert, der die RSS organisatorisch verbunden ist, der BJP, und es gehört zu ihren Bastionen; von 7037 Ortsgruppen der RSS in ganz Indien sind 1780 in Gujarat.
Am 26. Januar hatten die RSS-Angehörigen die Uniform der Bewegung angelegt, um ihr Ritual Bharat Mata Puja (Gebet an die Mutter Indien) zu feiern; es soll in Konkurrenz zum offiziellen Tag der Republik treten, den die RSS-Anhänger für zu laizistisch halten. 35.000 von ihnen sind sofort nach den ersten Erdstößen den Opfern zu Hilfe gekommen und haben sich dann um die Einäscherung der Leichname, die Versorgung der Überlebenden mit Nahrungsmitteln und die Einrichtung von Lazaretten auf dem Land gekümmert. Sie haben sogar Waisenhäuser eingerichtet aus Sorge, dass hinduistische Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, von christlichen oder muslimischen Institutionen aufgenommen werden könnten. Christen und Muslime wurden von ihnen eindeutig diskriminiert. Manchmal wurden sie gezwungen, dem Gott Ram Ehre zu erweisen und »Jai Shri Ram« (»Es lebe Ram«) zu rufen, bevor sie ihre Rationen erhielten. Muslime haben vor dem Verwaltungsgebäude des Distrikts Bhuj gegen diese Praktiken demonstriert.
Das Unvermögen des Staates schürt so den hinduistischen Nationalismus, der sich ohnehin seit über zehn Jahren als aufsteigende Kraft erweist. Doch die RSS ist nicht die einzige private Institution, die von Anfang an geholfen hat. Die Vielfalt der Initiativen war erstaunlich. Sie kamen nicht nur von NGOs (448 von ihnen hatten über 7000 Freiwillige geschickt) und von Zeitungen, die systematisch Spendenaufrufe veröffentlicht haben, sondern aus allen gesellschaftlichen Gruppen und vor allem von jenen, die selbst in jüngerer Zeit Opfer von Erdbeben waren. Etliche Ärzte aus Latur in Maharashtra und Jabalpur in Madhya Pradesh waren sehr rasch an Ort und Stelle. Um das Beispiel Bhopals zu nennen, einer Stadt mittlerer Größe: Dort spendeten die Beschäftigten der Zentralbank und der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft ihren Lohn für ein bis fünfzehn Tage, der Lions Club und die Anwaltskammer schickten Zelte und Decken, die Muslim Educational Society sammelte unter Studenten 10.000 Rupien (477 Mark), die Dalit Mukti Sena (Gewerkschaft der Unberührbaren) beim wichtigsten Unternehmen der Stadt entsandte eine Gruppe von Freiwilligen.
Noch spektakulärer war die Mobilisierung in den großen Städten. In Delhi schickte das Shiromani Gurudwara Prabandhak Committee, das die Sikh-Tempel verwaltet, 21 Lastwagen mit Nahrungsmitteln und Medikamenten. In Bombay gab die Filmindustrie 100 Millionen Rupien (4,77 Millionen Mark). Ivan Diaz, der Erzbischof von Bombay, der vor kurzem zum Kardinal ernannt worden ist, teilte mir am 16. Februar mit, die Kirche habe 150.000 US-Dollar gestiftet und den Wiederaufbau von 100 Dörfern zugesagt, insbesondere über die NGO Caritas, die ihre eigene Spendenkampagne durchgeführt hat. Kurz: Sehr rasch war das wirkliche Problem nicht mehr, wie Hilfsmittel aufgebracht werden, sondern wie sie verteilt werden konnten.
Diese Mobilisierung ist Ausdruck der Herausbildung einer Zivilgesellschaft besonderer Art, die sich durchsetzt, während sich der Staat zurückzieht. Gesellschaftliche Gruppen organisieren sich zum Zweck der Solidarität und gegenseitigen Hilfe – in diesem Fall für Maßnahmen, die das Überleben sichern. Manche überschreiten die Grenzen von Religionen und Kasten, aber im allgemeinen ist das nicht der Fall, eher im Gegenteil: Dass muslimische, christliche und von Unberührbaren getragene Organisationen entstehen, zeigt klar, dass die Gesellschaft noch wenig bürgerlich (bien peu »civile«) ist in dem Sinne, dass ihr Grundbestandteil nicht der Staatsbürger ist, sondern die Gruppe, in die er hineingeboren wurde. (Societé civile und civil society sind ursprünglich die französische bzw. englische Übersetzung des Begriffs »bürgerliche Gesellschaft«; Anm. d. Red.)
Das ist nicht verwunderlich, denn die Religionsgemeinschaften und Kasten bestimmen in Indien immer noch die wichtigsten Linien der sozialen Trennung und Unterdrückung. Das gilt auch nach einer Katastrophe. Die religiösen Minderheiten hatten nicht als einzige unter Diskriminierung während der Hilfsmaßnahmen zu leiden. Auch für die unteren Kasten war das der Fall. Wie vielen Dalits (Unberührbaren) wurde Hilfe oder ein Platz in Zelten verweigert, die die oberen Kasten nicht mit Gruppen teilen wollten, die sie für unrein halten?
Bemerkenswert ist auch der Beitrag der Diaspora und der Geschäftswelt zu den Hilfsmaßnahmen. Die Solidaritätsbekundungen nach dem Erdbeben waren auch deshalb besonders spektakulär, weil seit langem Gujaratis – sie sind für ihren Geschäftssinn bekannt – in andere Teile Indiens abgewandert oder ins Ausland emigriert sind, um dort ihr Glück zu versuchen, ohne aber die Bindungen zu ihrer Herkunftsregion oder ihrem Heimatdorf zu kappen. Viele waren erfolgreich.
Das Erdbeben hat einen wichtigen Aspekt des gegenwärtigen Indien erkennen lassen: das wachsende Gewicht der Emigranten, vor allem derer, die in den Vereinigten Staaten reich geworden sind. Der Direktor des Indischen Instituts für Management in Ahmedabad sagte mir zugleich stolz und verlegen, dass »Kopfjäger« aus Amerika letztes Jahr erstmals die Hälfte des Abschlussjahrgangs seines Eliteinstituts angeworben hatten. Patel, der Name der in Gujarat vorherrschenden Kaste, ist zwar in den Vereinigten Staaten schon lange praktisch gleichbedeutend mit »Inder«. Aber deren Status hat sich geändert, denn heute sind die »indischen Amerikaner« die asiatische Gemeinschaft mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in den USA. Das hat in den letzten Regierungsjahren von Präsident Bill Clinton zur Annäherung zwischen Indien und den USA beigetragen. Clinton hat übrigens kurz nach seinem Abgang aus dem Weißen Haus mit Hilfe einiger der wohlhabendsten Mitglieder der indischen Gemeinde einen Hilfsfonds für die Opfer von Gujarat eingerichtet.
Auch die Diapora in England hat die Hände nicht in den Schoß gelegt. Dort leben rund 40.000 Kutschis; sie gehören zu den Indern, die aufgrund besonders feindseliger örtlicher Verhältnisse in ihrer Heimat als erste emigriert sind. Ihr Verband Kutch Samaj, dessen Mitglieder jedes Jahr einmal in London zusammenkommen, hat in sehr kurzer Zeit 50 Tonnen Medikamente und Kleidungsstücke gesammelt; zu diesem Zweck hat er sein Hauptquartier im neuen Tempel in Willesden im Norden Londons aufgeschlagen, den die Swaminarayan-Sekte gebaut hat, die unter Gujaratis sehr populär ist. Das ist ein weiteres Beispiel für Solidarität über wenig »zivile«, wenig staatsbürgerliche, Kanäle.
Das Erdbeben gab auch Geschäftskreisen die Gelegenheit, ihren wachsenden Einfluss in der indischen Gesellschaft dadurch zu zeigen, dass sie sogar den Hilfeaufrufen des Staates zuvorkamen. Alle großen Unternehmen haben ihren Beitrag geleistet. So hat Pepsi-Cola India 500.000 Dollar gespendet und 100 Beschäftigte ins Notgebiet geschickt. Andere Unternehmen sind Pepsi auf dem Fuße gefolgt und haben wiederaufzubauende Dörfer »adoptiert«. Hindustan Lever hat sich für zwei zuständig erklärt. Tata hat ein Eisenbahnkrankenhaus auf die Schiene gesetzt, das Gujarat durchfährt, während die Essar-Gruppe beschlossen hat, 1500 Häuser im Distrikt Surendranagar wiederaufzubauen. Die indischen Kapitalisten teilen so nach und nach die Zonen des Neuaufbaus unter sich auf.
Auch die Verbände der Arbeitgeber haben gehandelt. So hat die Föderation der indischen Industrie- und Handelskammern zugesagt, 4000 Häuser im Distrikt Kutch zu bauen. Der Industrieverband will 35 völlig zerstörte Dörfer wiederherstellen, von der Kanalisation bis zum Bau von Privathäusern. Der für den Bundesstaat Gujarat zuständige Mitarbeiter des Verbandes, Sunil Parekh, sagte mir am 12. Februar, damit reagiere der Verband auf eine dringende Bitte der Regierung. Er befürchte aber, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Der Verband hat bereits Architekten aus den USA kommen lassen, doch ihre Projekte gefallen den Kutchis nicht; die wollen von mehrstöckigen Häusern nichts mehr hören.
Die spektakulärste Hilfe aus der Geschäftswelt stammte jedoch von der Firma Reliance der Familie Ambani. Dieses ist eines der bedeutendsten Industrieunternehmen Indiens und hat in Gujarat große Geschäftsinteressen. Es sandte das erste Ärzteteam – 60 Personen – per Flugzeug nach Bhuj. Das Unternehmen hat dann schlichtweg Anjar »adoptiert«, eine weitgehend zerstörte Stadt mit 80.000 Einwohnern, und dort sämtliche Hilfsmaßnahmen übernommen. Während das Oberhaupt der Familie, Dhirubhai Ambani, Ministerpräsident Vajpayee schriftlich eine Spende von 200 Millionen Rupien an Hilfsmaterial ankündigte, befanden sich sein Sohn und seine Schwiegertochter bereits vor Ort. Sie beaufsichtigten die Hilfsmaßnahmen und besuchten Krankenhäuser.
Solche Tätigkeiten sind Ausdruck einer veränderten Strategie der Wohltätigkeit: Es geht nicht mehr darum, eine ideologische Botschaft zu verbreiten, sondern ein gutes Umfeld für Geschäfte zu schaffen und den Namen des Unternehmens aufzuwerten. In diesem Sinne geht die Wohltätigkeit der großen indischen Kapitalisten direkt zurück auf die unter ihren Vorfahren übliche Mildtätigkeit örtlicher Notabeln, für die die Finanzierung eines Krankenhauses nur dann Sinn hatte, wenn eine Tafel mit ihrem Namen daran angebracht wurde. Die Bindung an diese Tradition beginnt sich jedoch zu verwischen, sobald die Spender nicht mehr einzelne Firmen sind, sondern Handelskammern. Deren Bedeutung nimmt immer stärker zu; sie haben dem Staat bereits bei der Durchführung seiner Wirtschaftspolitik geholfen, und Behörden betrauen sie nunmehr mit neuen Aufgaben – von Erster Hilfe bis zum Wiederaufbau von Dörfern.
Wenn sich der Staat derart von Aufgaben entledigen konnte, die zuvor in seine Zuständigkeit gefallen waren, dann auch deshalb, weil die Gujaratis sehr früh einen Unternehmensgeist entwickelt haben, der mit der Bedeutung der Handelskasten in dieser Region zusammenhängt. Er schützt sie vor dem Syndrom des mabap, das heißt des »Papa-Mama-Staates », womit man in Indien die Mentalität des von Hilfe Abhängigen bezeichnet. Alle Zuwanderer aus anderen Provinzen Indiens, die ich in Ahmedabad getroffen habe, haben betont, dass nur die Gujaratis sich so rasch von einer solchen Katastrophe erholen konnten.
Ein weiteres Phänomen fällt dem aufmerksamen Beobachter in Ahmedabad nach dem Erdbeben auf: der Schock, den die Gewinner des Wachstums, die neue Mittelschicht, erlitten haben. Gujarat ist neben seinem Nachbarn Maharashtra der Bundestaat, der am meisten von der Wirtschaftsliberalisierung der neunziger Jahre profitiert hat. Das Wachstum wurde stark gefördert von Investitionen aus dem Ausland und, im Fall von Kutch, von Rücküberweisungen der Emigranten. Die Banken der Region verzeichnen einen Anteil von nicht ansässigen Indern an den Spareinlagen, der zu den höchsten im ganzen Land gehört. Im Ergebnis ist die Wirtschaft Gujarats im letzten Jahrzehnt um jährlich 9,6 Prozent gewachsen – das ist ein Rekord und fast doppelt so hoch wie der Landesdurchschnitt. Dieser Aufschwung ging mit dem Aufstieg einer Mittelschicht einher, der das »Haben« wichtiger ist als das »Sein« (was die letzten Anhänger von Mahatma Gandhi, dessen Ashram in Ahmedabad nur noch von westlichen Touristen besucht zu werden scheint, sehr bedauern).
Daher das Streben nach Grundbesitz und die anarchische Vermehrung von Prestigegebäuden. Gerade diese aber sind wie Kartenhäuser zusammengefallen. Von den 110 Gebäuden, die in Ahmedabad eingestürzt sind, waren 79 in den letzten sechs Jahren erbaut worden. An einer Straßenecke lässt eine Anhäufung von Geröll den Ort eines dieser Dramen erkennen, bei dem über 700 Menschen umgekommen sind. Von vierstöckigen Gebäuden ist nichts geblieben als ein lächerlicher grauer Haufen, als ob das Baumaterial selbst nur Staub gewesen wäre.
Dies ist die erste Naturkatastrophe, bei der so viele Opfer aus den wohlhabenden Schichten kommen. Normalerweise wohnen die anfälligsten Gruppen in Slums oder Dörfern – in Orten, die weder Wirbelstürmen noch Überschwemmungen widerstehen. Diesmal sind die Rollen seltsam vertauscht: Die Kulis in den großen Bahnhöfen beglückwünschen sich, weil sie in Bruchbuden mit Wellblechdächern wohnen, und legen Geld zusammen, um den Mietern von »Hartbauten« zu helfen. Die Mittelschicht hat ein schweres Trauma erlebt. Eine ganze Lebensart, eine Art, Reichtum ohne Rücksicht auf »bürokratische« Vorschriften zügellos anzuhäufen und zu konsumieren – kurz, der Boom der liberalen Wende –, ist in Frage gestellt. Denn dass diese »Hartbauten« in so großer Zahl zerstört wurden, während keine Industrieanlage ernsthafte Schäden erlitt (die Produktionsausfälle sind auf den Exodus der Arbeiter zurückzuführen, insbesondere derer aus anderen Provinzen Indiens, die zu ihren Familien zurückgekehrt sind), das liegt daran, dass sie unter Missachtung der elementarsten Sicherheitsnormen gebaut wurden. Die Bauträger erhielten Baugenehmigungen mit Hilfe von Bestechung, und die Unternehmer haben an allem gespart: Dem »Stahlbeton« fehlte der Stahl, und dem Zement war viel Sand beigemischt.
Von tausend Gebäuden mit mehr als vier Stockwerken in Ahmedabad waren zehn von den Behörden abgenommen worden und hatten die Genehmigung für den Einzug der Bewohner erhalten. Die Eigentümer der anderen haben auf eine solche Genehmigung verzichtet: Entweder schmieren sie die Bauinspektoren, die mit der Evakuierung von vorschriftswidrigen Wohnungen beauftragt sind, oder sie wenden sich an Politiker (die übereifrige Beamte zur Raison zu bringen wissen) und bieten als Gegenleistung einen Beitrag zur Finanzierung des nächsten Wahlkampfs. In Indien wie in vielen anderen Ländern bilden Bauträger, Bauunternehmer und Politiker ein Netz, das skrupellos mit ungeheuren Geldsummen hantiert.
Eine unter Schock stehende Bevölkerung hat sich nun gegen Unternehmer und Bauträger gewandt; gegen 55 von diesen sind gerichtliche Schritte eingeleitet worden. Die meisten hatten da bereits die Flucht ergriffen. Einer von ihnen, Satish Shah, hatte den Shikhar Tower von Ahmedabad gebaut, wo am 26. Januar 65 Personen umkamen. Er hat den Überlebenden zugesagt, neue Unterkünfte zu stellen, diese Zusage dann jedoch wieder zurückgenommen und mit physischen Repressalien gedroht, falls die Betroffenen auf ihrer Forderung bestünden. Diese haben dem Druck widerstanden und Klage eingereicht. Shah ist auf der Flucht, doch seinen Mitarbeitern wird der Prozess gemacht.
Hier zeigt sich eine andere Stärke des heutigen Indien: ein aktives Justizwesen. In dem Maße, wie sich die Korruption und die Kriminalisierung der Politik ausbreiten, nehmen die Richter ihre Aufgaben ernster. Das Gericht von Gujarat hat von sich aus, unabhängig von jeder Anzeige, die Initiative ergriffen und die Regierung des Bundesstaates aufgefordert, eine Untersuchung über die Qualität der Bauten durchzuführen, die zusammengefallen sind. Es steht viel auf dem Spiel. Denn da zahlreiche Politiker an den fragwürdigen Immobiliengeschäften beteiligt sind, ist dies die Gelegenheit, ein Exempel zu statuieren und zu zeigen, dass das, was wie eine Naturkatastrophe aussieht, in Wirklichkeit eine »von Menschen gemachte Tragödie« ist – so der Ausdruck der engagiertesten und bestinformierten Journalisten.
Indien ist eine erdbebenträchtige Zone und in fünf Regionen aufgeteilt, wo die Gefahr von Beben mehr oder weniger groß ist. Obwohl Gujarat in der am stärksten gefährdeten Zone liegt, waren keine besonderen oder auch nur einfachen Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden. Ein Erdbeben der gleichen Stärke hat 1992 in Kalifornien nur 54 Todesopfer gefordert, weil dort die Sicherheitsnormen eingehalten worden waren.
Das Leben beginnt wieder seinen Lauf zu nehmen. Doch der Einschnitt ist tief und erfordert eine echte Therapie für die Familien der Opfer oder diejenigen, die das Vertrauen in das stabile Element, die Erde, verloren haben: Man kann es vermeiden, sich aufs Meer oder in die Luft zu wagen, doch was wird aus einem, wenn der feste Boden unter den Füßen wegsinkt? Manche Gujaratis können nur noch im Freien oder in ihren Autos schlafen. Diese Psychose erklärt den Erfolg von Scharlatanen, Astrologen und anderen Gurus, die wie Pilze aus dem Boden schießen. In den Schulen lässt man Kinder Bäume malen, die fest im Boden verwurzelt sind, damit sie ihr Gleichgewicht wiederfinden.
Wenn die Angst vergeht, weicht sie dem Zorn auf einen unfähigen Staat und ein korruptes Establishment. Neben dem Kampf mit diesen steht jedoch eine neue Mobilisierung: Der Staat hat sein Scheitern zugegeben (außer was die Streitkräfte angeht), und nun suchen die Bewegungen einzelner Gemeinwesen – von der RSS bis zur katholischen Kirche -, nichtstaatliche Organisationen, die Diaspora und Privatunternehmen dessen Mängel auszugleichen. Der Wiederaufbau hat begonnen. Er ist dringend, denn in einigen Monaten werden die Temperaturen auf bis zu 50 Grad steigen und ein Leben in Zelten unmöglich machen.
Die Bevölkerung von Gujarat wird den Politikern jedoch nicht ihr Versagen verzeihen. Es könnte die BJP bei den nächsten Wahlen den einzigen Staat kosten, wo sie allein regiert – und das trotz der großen Anstrengungen ihrer Verbündeten von den nationalen Freiwilligenverbänden. Vor allem aber werden der Umfang der Tragödie und das Gefühl, dass sie sich nicht wiederholen darf, die Justiz in ihrem neuen Pflichtgefühl bestärken.
aus: der überblick 02/2001, Seite 53
AUTOR(EN):
Christophe Jaffrelot:
Christophe Jaffrelot ist Direktor des Centre d'Etudes et de Recherches Internationales in Paris und Chefredakteur der Zeitschrift "Critique Internationale". Er ist unter anderem Autor von "La Démocratie en Inde. Religion, caste et politique", Paris 1998, und "Dr. Ambedkar, leader intouchable et père de la Constitution indienne", Paris 2000. Der Artikel ist zuerst unter dem Titel "Ahmedabad après le séisme" in Critique Internationale Nr. 11 vom April 2001 erschienen.