Langsamer Abschied
Während in Panama die Seelen Verstorbener sofort eine lange gefährliche Reise antreten, warten in Indonesien die Toten manchmal Jahre lang auf ihre Bestattung. Gemeinsam ist beiden Kulturen, den Toten nützliche Dinge auf ihren Weg mitzugeben.
von Maria Susana Cipolletti
Die Sadan Toradja leben auf Sulawesi, einer Insel im Osten Indonesiens. Seit den siebziger Jahren haben sie neben der Landwirtschaft eine neue Einkommensquelle gefunden: den Tourismus. Heutzutage besteht ein Druck - auch von Seiten der lokalen Regierungsstellen - die komplizierten, langen Bestattungszeremonien in die Zeit zu verlegen, wenn sich viele Touristen im Land befinden. Die Anzahl der Gäste - besonders wenn es sich um Ausländer handelt - bestimmt das Prestige der Verstorbenen.
Je höher der Status eines Menschen, desto langwieriger sind die Bestattungsriten. Auch das Schicksal des Toten im Jenseits ist mit seinem Status verknüpft. Das Totenland Puya liegt südlich des Sadan Toradja Gebietes. Die meisten Toten gelangen in dieses Reich. Nur Verstorbene, die dem Adel angehören und für die ein langwieriges Totenfest mit komplizierten Riten veranstaltet wurde, gelangen in den Himmel in der Nähe des Gottes Puang Matua. Ihre Seele lebt dann weiter in der Nähe des Großen Bären oder der Plejaden und wird als Ahne angesehen. Einige Totenseelen erreichen jedoch auch das Totenland nicht: Diebe, Selbstmörder und an Lepra Gestorbene werden bei dem Versuch, eine schwankende Brücke zu überqueren von Katzen erschreckt und fallen in einen Fluss. Auch kleine Kinder können nicht ins Totenreich gelangen. Sie werden einfach ohne Ritual in Bäumen bestattet.
Zwischen dem Ableben und dem Bestattungsritual vergehen bei den Sadan Toradja zwischen sechs Monaten und fünf oder mehr Jahren. Einer der Gründe ist, dass für einen reichen oder adeligen Verstorbenen umfangreiche Vorbereitungen nötig sind. Die ganze Familie muss zusammenkommen. Sie entscheidet darüber, wer wie viele Ochsen für die Beisetzung zur Verfügung stellen muss. Reis muss gepflanzt werden, und der Tote darf nicht eher begraben werden, bis der Reis reif und geerntet ist. Das hat natürlich auch praktische Gründe: Eine Beerdigung ist ein großes Fest. Die Reisernte hilft, die vielen Gäste bewirten zu können. Gleichzeitig wird mit der Aussaat die Frage der Erbfolge geregelt. Außerdem müssen Hütten errichtet werden, um die Gäste unterzubringen.
Während der langen Zeit wird die Leiche in viele Meter Stoff eingewickelt und im Haus aufbewahrt. Ein Bambusstab - in das Bündel gesteckt - leitet die Leichenflüssigkeit durch eine Öffnung im Boden des Hauses ab. Angst vor der Nähe zu einem Toten hat dabei niemand. Auch spricht man vor der Beisetzung nicht von einem Toten, sondern von einem Schlafenden oder Behinderten.
Für reiche und adlige Tote wird eine Tau-Tau-Figur, eine kleine Person, die "sichtbare Seele", geschnitzt. Die ein bis ein Meter fünzig große Figur wird auf die Schlafmatte neben den Leichnam gelegt. Die Leiche wird nun Richtung Süden dem Totenreich entgegen gebettet. Hat man die mit Schweineblut besprenkelte Figur aufgeweckt und in sitzender Position ebenfalls gen Süden ausgerichtet, wacht auch die Seele des Verstorbenen auf. Später werden beide zusammen zum Reisspeicher der Familie gebracht, wo sie einige Tage bleiben. Die Familie darf so lange keinen Reis oder eine warme Mahlzeit zu sich nehmen, bis alle Gäste bewirtet wurden.
Ein kleiner Umzug, wenn schon fast alle Gäste abgereist sind, bringt die Leiche schließlich zum Bestattungsort. Der Leichnam wird in eine Felsengrotte hinabgelassen, einer Art Krypta der Familie. Die Tau-Tau wird auf einem Balkon oder einer Galerie an einer Felsenwand hingestellt. Sie ist ein sichtbares Zeichen für Reichtum und Macht des Verstorbenen. Wichtig für die Zeremonie sind die Totengesänge, die die Männer anstimmen, um die Heldentaten des Verstorbenen zu besingen und ihn in die Reihe seiner Vorfahren zu stellen.
Auf der Insel Kalimantan (Borneo) leben die Ngadju-Dayak. Sie geleiten ihre Toten mit einem Schiff in das Totenreich. Das Sterben beginnt aber schon vor dem Tod. Einige Zeit vor seinem tatsächlichen Tod bekommt jeder Mensch ein Zeichen seines baldigen Endes. Eine völlige Wandlung seines Charakters setzt ein. Sobald die Angehörigen eine derartige Veränderung bemerken, opfern sie dem mächtigsten Sangiang, dem Halbgott Tempon Telon, um das Geschick abzuwenden. In aller Stille trifft man jedoch Vorkehrungen für den Todesfall.
Stirbt jemand, wird die Leiche von den nächsten Verwandten mitten im Haus auf eine schöne Matte gelegt. Die Augen bedeckt man mit Goldmünzen, damit der Tote seine Angehörigen nicht mehr anschauen und damit Schaden anrichten kann. Um ihn herum werden seine persönlichen Besitztümer aufgestellt. Man streut Reis auf die Leiche, damit die Reisseele - Gana - der Seele des Verstorbenen folgt und ihr im Jenseits als Nahrung dient. Ebenso wird der Tote mit möglichst kostbarer und schöner Kleidung ausgestattet.
Die Dayak praktizieren die sekundäre Bestattung: Erst wird die Leiche bestattet und später werden die Gebeine herausgenommen und endgültig beerdigt. Dazu werden zwei Totenzeremonien veranstaltet, die für die Lebenden ebenso von Bedeutung sind wie für die Toten. Die Zeremonie des Tantolak matei - das Wegschieben des Todes - und das Tiwah-Fest, das Fest der Erlösung.
Die Einflüsse des Todes wölben sich wie eine Glocke über Häuser und Dorf. Sie verhüllen das Dorf wie Nebel. Vor allem die Verwandten des Toten sind diesen Einflüssen ausgesetzt. Es ist die Aufgabe der Priesterinnen durch die Zeremonie des Tantolak matei am dritten oder siebten Tag nach der Beisetzung, das Dorf vom Unheil des Todes zu befreien. Dazu rufen sie die Sangiang um Hilfe an. Noch wichtiger ist es die Reisseelen in die Oberwelt zu schicken, damit sie sich dort in Regen verwandeln und das Haus und das ganze Dorf von den Einwirkungen des Todes reinwaschen.
Doch nicht die Zeremonie des Tantolak matei lässt den Toten im Totenreich ankommen sondern erst das Tiwah-Fest. Solange hält sich die Seele in einem Holzbrett, auf das Totenschiffe gemalt sind und das am Haus des Verstorbenen aufgehängt wird, auf.
Das Tiwah-Fest wird erst einige Monate wenn nicht Jahre nach einem Todesfall begangen. Es ist ein aufwendiges und teures Fest, das bis zu einem Monat dauern kann, weshalb heute durchaus mehrere Verstorbene einer Familie zusammen gemeinsam gefeiert werden. Ein wichtiger Teil des Festes ist es Beinhäuser herzustellen, wo die Gebeine der Toten endgültig bestattet werden. Außerdem werden Hampatong, hölzerne Figuren, geschnitzt, deren Seelen im Totenreich die Sklaven des Verstorbenen darstellen sollen. Sie ersetzen seit dem 19. Jahrhundert die Sklaven, die ihren Herren in den Tod folgen mussten, nachdem die holländischen Kolonialherren diese Praxis der Totenfolge verboten.
Der fünfte oder siebte Tag des Tiwah-Festes, an dem ein Festmahl für bis zu 1000 Personen ausgerichtet wird, gilt als eigentlicher Höhepunkt des Festes. Am nächsten Tag werden die Hampatong, die hölzernen Skulpturen, aufgestellt. Am letzten Tag wird alles, was dem Toten gehörte, gereinigt und ebenfalls alle Menschen, die mit ihm in Kontakt waren, wie die Besitzer der Äxte, mit denen man den Sarg herstellte oder die Schnitzer der Hampatongs. Außerdem steigt die ganze Familie in den Fluss, um sich zu reinigen.
Bis zu Beginn des Festes hatte sich die Totenseele in dem bemalten Brett aufgehalten, auf dem die Totenschiffe abgebildet sind. Das Wirken des Tempon Telon wird nun unentbehrlich. Er gilt als Bote des höchsten Gottes Marhalla und als derjenige, der den ersten Menschen gelehrt hat, das Tiwah-Fest zu veranstalten. Nur die Totenseelen sollen zu ihm in den Himmel gelangen, für die ein Tiwah-Fest ausgerichtet worden ist.
Die wichtigste Aufgabe der Priester und Priesterinnen besteht darin, die Totenseelen während des Tiwah-Festes ins Jenseits zu führen. Das Totenreich, Lewu liau - Ort der Totenseelen - liegt auf einer Insel im Wolken-See des Himmels. Die Totenseele fährt auf einem Schiff, das von Tempon Telon und seinen Helfern gesteuert wird. Der Fluss ist zuerst ein breiter, klarer Strom, wird dann immer schmaler und reißender, bis man zu einem Feuerstrudel gelangt.
Bevor das Totenreich erreicht ist, passiert man verschiedene Totenreiche, die für diejenigen bestimmt sind, die gegen die Stammessitten verstoßen oder einen "schlimmen Tod" erlitten haben. So gibt es ein Totenreich für Diebe, in dem die Häuser keine Dächer haben und die Toten stets im Regen und Wind stehen. Zwei weitere Dörfer sind für Selbstmörder bestimmt, die sich mit Gift das Leben nahmen: Dieses Dorf ist von giftigen Pflanzen umgeben. Wenn Tempon Telon hier vorbeikommt, macht er Schnitte in die Rinde der Bäume, damit die Totenseelen durch die Ausdünstungen leiden. Weiter gibt es ein Dorf für Ertrunkene. Sie müssen stets bis zum Bauch in Wasser stehen. Erst danach kommen sie zum eigentlichen Totenreich.
Das Totenreich sieht wie die Erde aus - nur viel schöner. Man pflanzt Reis, und es gibt keinen Krieg. Eine Besonderheit ist die Sprache der Toten. Sie ist zwar dieselbe Sprache wie die der Lebenden, doch jedes Wort hat im Totenreich eine umgekehrte Bedeutung: Statt süß sagt man bitter, statt groß klein.
Alle Haare, Finger- und Fußnägel, die der Tote zu Lebzeiten verloren hat, werden vom Templon Telon gesammelt. Nachdem er all diese Teile und die Seelenteile mit Lebenswasser begossen hat, findet eine Vereinigung zwischen diesen Teilen statt.
Allerdings leben die Toten nicht für ewig. Wenn sie spüren, dass ihre Kraft nachlässt, trinken sie von dem Lebenswasser und verjüngen sich. Dieselbe Eigenschaft hat das Wasser eines großen Sees, der den Mittelpunkt des Totenreiches bildet und "Freude des Lebens" genannt wird. Häufig bestand die Auffassung, dass die Totenseelen, die im Totenreich wieder sterben, in eine Frucht oder in ein Blatt übergehen. Isst ein Mensch davon, nimmt er die Seele in sich auf, und später wird ihm ein Kind geboren.
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Die Cuna leben an der Atlantikküste Panamas mit den vorgelagerten Inseln, die wenige Kilometer vor dem Festland liegen. Es ist eine Sammelbezeichnung für etwa 30.000 Indigenas der Chibcha-Sprachfamilie.
Ein sterbender Cuna wird von Bekannten und Nachbarn besucht, die ihm Botschaften für tote Verwandte und Freunde, die er ja bald treffen wird, geben. Nach dem Tod wird die Leiche gewaschen, mit den besten Kleidern versehen und in die Hängematte gelegt. Die Frauen beweinen den Toten und zählen seine guten Taten auf. Dann wird der Trauersänger (Masartuleti) gerufen, der unter der Hängematte des Verstorbenen Platz nimmt und singt. Der Gesang dauert manchmal bis zu einem ganzen Tag; er soll Geleit der Seele (Purpa) ins Totenreich sein.
Die Begräbnisplätze der Cuna in San Blas liegen auf dem Festland. Wenn der Verstorbene auf einer Insel lebte, muss er im Kanu dorthin überführt werden. Das Grab ist eine große, rechteckige Kammer; Darin wird die Hängematte mit dem Toten an zwei Pfähle geknüpft. Das Grab wird mit Bohlen abgedeckt, darauf kommt eine Schicht aus Blättern und Erde, so dass der Tote nicht in Kontakt mit der Erde kommt. Über dem Grab errichtet man eine Grabhütte ohne Wände.
Dem Toten können alle möglichen Dinge des Alltags mit ins Grab gegeben werden. Die "Seelen" dieser Gaben gehen mit ihm ins Jenseits ein und dienen ihm dort. Besonders wichtig sind einige Miniaturgegenstände: Einer davon ist das Baumwollseil, das der Totenseele als Brücke dienen soll, um Seen oder Flüsse im Jenseits zu überqueren. Ein Baumwollseil spielt auch in den Begräbnisriten eine Rolle: Es wird von einem Pfosten des Grabhauses aus über den nächstgelegenen Fluss gespannt. Die erste Person, die dann im Kanu den Fluss entlang fährt, hat die Aufgabe, das Seil zu durchtrennen. Weil das Seil für die Jenseitsreise dient, so die Annahme, muss es im Diesseits durchschnitten werden. So ermöglicht man der Totenseele die Reise ins Jenseits, gleichzeitig schützt man die Hinterbliebenen; nach dem Durchschneiden gibt es für den Toten keine Rückkehr mehr. Ein Miniaturkanu, aus Holz geschnitzt, wird am Ufer eines Flusses in der Nähe des Grabes befestigt und dient der Totenseele als Fahrzeug für die Jenseitsreise.
Auf einer Miniaturleiter, die man dem Toten ins Grab gibt, gelangt er von einer Schicht des Kosmos zur nächsten. Ebenfalls gehören vier Rohrstäbe ins Grab, die am oberen Ende einige Federn und eine kleine Kette aus Glasperlen tragen. Im Jenseits nehmen die Stäbe menschliche Gestalt an: Die Federn werden dann zum Federkopfschmuck, die Glasperlen zur Halskette, die spiralförmige Bemalung wird zur Kleidung der vier Wesen, die den Toten leiten. An diese vier Wesen (Masartule) richtet man den Trauergesang, der unmittelbar nach dem Tod eines Menschen gesungen wird.
Es obliegt dem Medizinmann, die vier Rohrstäbe als Begleiter der Totenseele ins Jenseits zu schicken. Das gleiche tut er während des Initiationsprozesses der Mädchen und der Krankenheilung. In beiden Fällen schickt der Medizinmann holzgeschnitzte Figuren ins Jenseits, diesmal jedoch um die Seele des Kranken bzw. der Initiandin zurückzuholen. Das bedeutet, dass die geschnitzten Holzfiguren bzw. die Rohrstäbe die Seele eines Menschen begleiten, entweder aus dem Jenseits zurück zur Erde (Heilung und Initiation) oder von der Welt der Lebenden ins Jenseits.
Die Totenseele beginnt, von den vier Masartule begleitet, eine Reise durch den Kosmos, die zunächst durch mehrere Schichten der Unterwelt und dann durch die Schichten der Oberwelt führt.
Während der Körper des Toten im Grab bleibt, beginnt seine Purpa die Reise. Zuerst fährt sie mit den vier Schutzgeistern in einem Kanu. An einem bestimmten Punkt muss der Tote seine Reise unterbrechen und selber ein Kanu für die Weiterreise finden. Hier erscheinen schon Unterschiede, die von den Tugenden und der sozialen Stellung des Toten zu Lebzeiten abhängig sind: Für die verschiedenen Arten von Medizinmännern gibt es verschiedene Kanus, so auch für die schlechten und die guten Menschen.
Der Fluss auf dem sie fahren, liegt in der Unterwelt und wird die "Mutter aller Flüsse" genannt, da alle Flüsse der Welt aus ihm entspringen. Die guten Menschen fahren schnell vorwärts und kommen in einem Wald an, wo es Bäume, Sand, Steine und Früchte aus reinem Gold gibt. Dann fahren sie an mehreren Dörfern vorbei, in denen verschiedene mythische Wesen sowie die Herren der Tauben, der Pekariarten und anderer Tiere wohnen. All dies erklären die vier Masartulen der Totenseele. Auf seinem Weg trifft der Tote oft auf Gabelungen, die mit Pfaden aus Gold und Silber in Verbindung gebracht werden. Der Tote, der zu Lebzeiten einen guten Charakter hatte, wird durch einen dornigen Pfad geschickt, der sich bald in einen mit Gold gepflasterten Weg verwandelt. Die Totenseele und ihre vier Begleiter kommen dann zu einem großen See. Hier wird das Seil von Nutzen, das dem Toten mit ins Grab gegeben wurde: Die Masartule werfen es von einem Ufer zum gegenüberliegenden, und das Seil verwandelt sich in eine Brücke. Für den guten Toten ist damit das Hindernis überwunden, der schlechte jedoch fällt ins Wasser und wird von Wassertieren gefressen. Vor einem zweiten See spielt sich ähnliches ab: Ins Wasser fallen hier die Totenseelen derer, die zu Lebzeiten ihre Ehefrauen und Kinder entweder geschlagen oder schlecht behandelt haben.
Bis hierhin ist die Jenseitsszenerie die Unterwelt. Von nun an beginnt der Tote seinen Aufstieg in die Oberwelt: Er wird auf den höchsten Punkt geschleudert, der die Erde vom Himmel trennt.
Die großen, goldenen Adler wurden von Gott an diese Stelle plaziert, um diejenigen, die zu Lebzeiten durch schlechtes Verhalten aufgefallen waren, zu strafen und zu vernichten. Eine weitere Probe für die Totenseele stellen die Scheren dar. Diejenigen, die zu Lebzeiten sexuelle Beziehungen mit verheirateten Frauen unterhielten, werden von ihnen zerstückelt.
Die Totenseele und ihre vier Schutzgeister kommen in weitere Dörfer. In einem sehen sie einen Baum, der ein Dutzend verschiedene Früchte trägt: Pflückt man eine Frucht, wächst gleich die nächste nach und reift über Nacht. Der Tote kommt zu einer Mauer, die sich auf ein bestimmtes Wort hin öffnet. In diesem Augenblick erscheinen Jaguare, die die Schlechten auffressen. Weiter als bis hierher können die Masartule nicht vordringen. Die Totenseele wird aber jetzt von einem anderen Schutzgeist begleitet. Auf einem Weg trifft die Totenseele ihre verstorbenen Verwandten, die sie begrüßen. Ab hier muss sie ihre Reise allein fortsetzen. Die Totenseele steigt in ein Boot, am Ufer des Flusses sind schöne Gebäude zu sehen. Nach einer langen Reise kommt sie zu einem Haus, in dem ihr Charakter geprüft wird. Ein weibliches mythisches Wesen verschließt sie in einen goldenen Kasten und setzt sich darauf. Wenn sie aufsteht, öffnet sich der Deckel und die Totenseele steigt aus: Jetzt ist sie mit Kleidern aus Gold geschmückt, sogar ihr Körper ist aus reinem Gold. Sie wird zu einem schönen Gebäude geschickt, in dem sich viele Leute befinden. Sie zeigen ihr einen großen Spiegel. Die Totenseele versteht jetzt, wie der menschliche Körper gebaut ist. Sie setzt ihre Reise fort, die Bäume sind aus Gold, und die Flüsse bestehen aus Fruchtsäften. Der Schutzgeist nimmt einen Kasten, worin sich männliche Samen und weibliche Eier befinden. Wenn man sie berührt, werden sie zu Kindern. Der Verstorbene darf im Himmel bleiben, er gelangt jedoch nicht zu Gott.
Die Oberwelt wird vom Medizinmann als ein Ort, an dem schöne Paläste stehen, geschildert. Gold und Silber spielen dabei eine Rolle; einiges erinnert an das Schlaraffenland wie der Baum, an dem alle Früchte wachsen oder die Flüsse, deren Gewässer aus Fruchtsaft bestehen. Das in der Oberwelt gelegene Totenreich wird von jenen Toten erreicht, die zu Lebzeiten ein nach den Stammestraditionen gerechtes Leben geführt haben.
Das bis hierher Berichtete wird vom Medizinmann der Cuna erzählt, damit sie erfahren, was sie nach dem Tode erwartet. Die Betonung der Ursachen des Scheiterns während der Reise besitzt offensichtlich eine ethische Bedeutung. Einige Stellen der Beschreibung beziehen sich lediglich auf die guten oder die schlechten Menschen. Andere erklären, was nach den Cuna-Traditionen das Schlechte bedeutet: Schlecht ist, die eigene Frau oder die eigenen Kinder zu schlagen oder mit verheirateten Frauen sexuelle Beziehungen zu unterhalten. Diese Toten werden entweder von Wassertieren aufgefressen, von goldenen Adlern vernichtet oder von großen Scheren zerstückelt. Diese Strafen, die an den christlichen Glauben des Jüngsten Gerichts erinnern, sind nicht unbedingt auf christlichen Einfluss zurückzuführen. Viele indianische Kulturen Lateinamerikas vertreten ähnliche Auffassungen: Der Verstorbene, der gegen die einheimischen Traditionen verstoßen hat, stirbt oft auf der Jenseitsreise. Hier handelt es sich um einen zweiten, endgültigen Tod.
aus: der überblick 02/2003, Seite 65
AUTOR(EN):
Maria Susana Cipolletti:
Maria Susana Cipolletti ist Privatdozentin am Institut für Altamerikanistik und Ethnologie der Universität Bonn. Sie hat für das Museum für Völkerkunde in Frankfurt am Main 1989 die Ausstellung "Langsamer Abschied. Tod und Jenseits im Kulturvergleich" konzipiert und den Ausstellungskatalog verfasst.