In Indonesien suchen immer mehr Christen in evangelikalen Überzeugungen Schutz
Als eine Reaktion auf das Erstarken eines militanten Islam seit dem Sturz des autoritären Präsidenten Suharto im Jahr 1998 wenden sich immer mehr Christen in Indonesien evangelikalen Glaubensüberzeugungen zu. Andererseits nutzen die christlichen Gemeinschaften die mehr und mehr zugestandene Religionsfreiheit, um sich in Hotels, Gesellschaftsräumen oder auch mal im Fußballstadion zu versammeln. Die Kirchenräume allein können nämlich nicht mehr alle aufnehmen. Mit ihrem christlichen Eifer aber heizen sie einen bereits brodelnden Kessel religiöser Spannungen weiter auf.
von Dini Djalal
An einem Montagabend sitzen mehrere Dutzend Geschäftsleute mit Anzügen und Krawatten in einem Besprechungszimmer eines Bürohochhauses in der indonesischen Hauptstadt Jakarta. Mit Gewinnspannen oder Produkteinführungen hat dieses Treffen nichts zu tun. Es geht um etwas sehr viel Grundlegenderes: Es geht darum, die Furcht zu bannen. "Wenn ich mit anderen Christen zusammen bin, fühle ich mich sicher", bekennt der 25-jährige Banker Thomas Sutanto, der - eine Bibel fest in der Hand - an seinem ersten Gebetskreis teilnimmt.
Menschen wie Sutanto gehören zu einer breiten Bewegung christlichen Engagements, das derzeit einen großen Auftrieb in Indonesien erlebt. In den großen Städten im ganzen Land haben evangelikale Gruppen bei ihren wöchentlichen Treffen enormen Zulauf. An Universitäten schließen sich Tausende von Studenten christlichen Netzwerken an. Die evangelikale Gemeinde Bethany ist so populär, dass sie das Kongresszentrum von Jakarta jeden Sonntag fünfmal füllen kann. Und Fernsehshows mit Predigern amerikanischen Stils haben in Lokalsendern ihren festen Platz.
Aber während sich Christen traditionell als von Liebe beflügelt beschreiben, wird die Welle des Evangelikalismus in Indonesien - mit seinen farbenfrohen Gottesdiensten, feurigen Predigten und dem Verbot von Nikotin, Alkohol und außerehelichem Sex - von einem elementareren Gefühl getrieben: von der Furcht. Indonesiens kleine christliche Minderheit fühlt sich durch die zunehmende Streitbarkeit des Islam bedroht. Das erschreckendste Beispiel ist die islamistische Gruppe Laskar Jihad, der man vorwirft, auf Ambon, der Hauptinsel der Molukken, sowie in der Stadt Poso auf der Insel Zentralsulawesi Krieg gegen christliche Gemeinden zu führen. "Was derzeit passiert, hat die christlichen Gemeinschaften in ihren Ängsten bestärkt", sagt Sydney Jones, Jakartas Vertreter in der International Crisis Group, einer Expertengruppe für Konfliktforschung mit Sitz in Brüssel. Als Reaktion wendet sich die christliche Gemeinschaft ihren eigenen Fundamentalisten - Predigern wie Kämpfern - zu und von der Mitte der Gesellschaft ab. Für Indonesien bedeutet die zunehmende christliche Militanz eine weitere Bedrohung für das ohnehin instabile religiöse Gleichgewichts.
In mancher Hinsicht ist das Erstarken eines evangelikalen Christentums ein Spiegelbild dessen, was mit der muslimischen Mehrheit im Land seit dem Sturz des autoritären Präsidenten Suharto im Jahr 1998 geschieht. Radikale Muslime, die sich in der gemäßigten muslimischen Mehrheit zunehmend Gehör verschaffen, haben wichtige politische Veränderungen durchdrücken können. Die Unruheprovinz Aceh führte in diesem Jahr die Scharia, das islamische Recht, ein. Nun fordern muslimische Politiker in Westsumatra und Südsulawesi ähnliche Gesetze in ihren Provinzen.
Der Aufschwung christlicher Gemeinschaften mit evangelikaler Ausrichtung ist auch eine Reaktion auf eine noch direktere Bedrohung: Unter Suharto gab es in Indonesien pro Jahr durchschnittlich ein Dutzend Angriffe auf Kirchen. Seit seinem Sturz sind über 400 Kirchen niedergerissen, zerbombt oder geplündert worden. Viele Indonesier chinesischer Abstammung suchen in den USA Asyl - nicht wegen Rassendiskriminierung, sondern wegen religiöser Verfolgung als Christen.
Im Jahr 2000 ging es besonders brutal zu. Im Oktober wurden mehr als 100 Christen in den Nordmolukken vor die tödliche Wahl gestellt: Übertritt zum Islam - der in diesem Fall mit einer schmerzhaften Beschneidung für Männer wie für Frauen einhergeht - oder Tod. An den Weihnachtsfeiertagen des gleichen Jahres kamen bei Bombenattentaten auf Kirchen in ganz Indonesien insgesamt 19 Menschen, unter ihnen einige muslimische Passanten, ums Leben.
Aus der Sicht vieler Christen ist ein Kampf ums Überleben ausgebrochen. "Der Konflikt hat alle Kirchen hinter einem gemeinsamen Anliegen geeint", sagt John Lindner von Christian Aid, einer Organisation gegen antichristliche Gewalt mit Sitz in den USA. "Sie haben ihre dogmatischen Differenzen um des Überlebens willen ausgeklammert."
Manche haben auch einen direkteren Ansatz gewählt. In der christlich dominierten Provinz Nordsulawesi patrouillieren schwarzgekleidete christliche Milizen durch die Städte, bereit, es mit Mitgliedern des Laskar Jihad aufzunehmen. Die christlichen Krieger von Poso sind ebenso gefürchtet wie der Laskar Jihad; sie stehen im Verdacht, im Mai 2000 ein Blutbad unter 500 Muslimen angerichtet zu haben.
In Ambon, das zur Hälfte muslimisch und zur Hälfte christlich ist, fordern militante Christen die Trennung von Indonesien, und mehr und mehr Ambonesen zeigen Sympathie für die Bewegung, die es vor zwei Jahren noch nicht gab. Christen aus Ambon und Poso behaupten, militante Gruppen träten bei Zusammenstößen immer "spontan" in Erscheinung. Und sie dienten lediglich der Selbstverteidigung, "weil die Regierung uns nicht schützen kann". So sagt es jedenfalls der Ambonese Jopie Wattimury, der im Forum für die Versöhnung und Rehabilitation der Molukken aktiv ist. Obwohl Vertreter der großen christlichen Konfessionen, insbesondeer römisch-katholische und protestantische Kirchenführer, die Gewaltaktionen verurteilt haben, glauben viele "einfache" Christen, dass die militanten Gruppen keine Alternative haben. "Ist es radikal, sich vor Killern wie dem Laskar Jihad schützen zu wollen?" fragt der frisch bekehrte Sutanto.
Das sich wandelnde Erscheinungsbild des Christentums gibt noch in weiterer Hinsicht Anlass zur Sorge: Die Gemeinden, die sich in Hotels und Gesellschaftsräumen versammeln, geraten in den Ruf, Heimlichtuer und öffentlichkeitsscheu zu sein. Bei den Veranstaltungen der wohl größten Gemeinde, Bethany, die jedes Wochenende Dutzende von Ballsälen füllen, sind Fotografen und Journalisten nicht zugelassen.
Ein derartiges Verhalten, sagen einige Muslime, sei in Indonesiens bereits angespanntem religiösem Klima provokativ. "Wie können wir all diese Gebetsgruppen sehen und glauben, dass sie das Land nicht christianisieren wollen?" fragt Agus Achmad (28), ein Aktivist in der Islamischen Studentenorganisation.
Vorwürfe, Christen würden in Indonesien aktiv missionieren, sind nicht neu. Lokale Unruhen, die 1997 in Ostjava ausbrachen, wurden mit dem als allzu aggressiv empfundenen Vorgehen einer evangelikalen Bewegung in traditionell muslimischen Gemeinden begründet. Und wie viele muslimische Hardliner glaubt auch Achmad, dass ausländische Gruppen lokale Christen finanzieren - was die Christen allerdings bestreiten.
Ronny Mandang (46), Leiter der sehr viel offeneren Gemeinde Carmel Congregation, hält nicht viel von religiösen Zusammenkünften in Hotels, weil sie seiner Ansicht nach als exklusiv empfunden werden können. Aber obwohl Mandang selbst seine Gemeindemitglieder lieber in der Kirche versammelt, kann er verstehen, warum manche Gruppen Hotels wählen. Laut Mandang ist es fast unmöglich, Baugenehmigungen für Kirchen zu bekommen. Stadtplaner weigern sich, Kirchen an Standorten zu bauen, wo es noch keine Moscheen gibt, und wo Kirchen bereits im Bau sind, wird oft die Baugenehmigung entzogen - und das alles mit Unterstützung durch die Politik. "Politiker sprechen von religiöser Harmonie, aber wir haben davon noch nichts bemerkt", sagt Mandang.
Der charismatische Pastor zählt sodann eine erschöpfende Liste politischer Vorgaben auf, die seiner Meinung nach gegen Christen gerichtet sind: Kirchen dürfen nur begrenzt finanzielle Hilfe aus dem Ausland erhalten. Ausländische Missionare dürfen nicht länger als zehn Jahre im Land leben, es sei denn, sie werden indonesische Staatsbürger. Ministerialerlasse verbieten christlichen Unterricht in nicht christlichen Schulen gemäß der Vorschrift, dass niemandem gepredigt werden darf, der bereits eine (andere) Religion hat.
Viele christliche Hardliner behaupten sogar, dass in Indonesien die Zahl der Christen in Wirklichkeit doppelt so hoch sei wie die offizielle Zahl von 20 Millionen. "Es ist nicht unsere Zählung", kommentiert ein Kirchenvertreter. Viele arme Christen gäben sich als Muslime aus, um staatliche Beihilfen zu bekommen oder in das staatliche Siedlungsprogramm aufgenommen zu werden.
Ob das zutrifft oder nicht, ist eher unerheblich. Was zählt ist, dass viele Christen diese Behauptungen glauben und dass sie christlicher Militanz Nahrung geben. In der Tat betont Prediger Mandang, dass solche Schwierigkeiten die christliche Gemeinschaft in ihrer Entschlossenheit nur stärken. Als Beweis für den neuen Geist führt er an, dass er neuerdings in christlich geführten Unternehmen, die "spirituelle Orientierung" suchen, mittags und abends predigt und dass er vor kurzem der Einsetzung von zehn Geschäftsleuten in evangelikale geistliche Ämter beiwohnte. So etwas, meint er, wäre noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen. "Die Geschichte lehrt uns, dass dort, wo es Verfolgung gibt, der Kampfgeist wächst", betont er mit sichtbarem Stolz. "Wir werden stärker und entschlossener werden."
Paradox ist dann allerdings, dass Mandang und andere Evangelikale ihren aktuellen Zulauf - zumindest zum Teil - einer Ausweitung, nicht einem Abbau religiöser Freiheiten verdanken. Im Januar 2000 hob die Regierung ein Verbot der nicht christlichen Baha'i-Religion auf, und 18 Monate danach wurden Restriktionen gegen die Zeugen Jehovas zurückgenommen. Kirchliche und weltliche Studentengruppen können heute relativ frei agieren. Als vor kurzem 10.000 Gläubige zu einer Gebetsnacht in einem Fußballstadium zusammenkamen, nahm die Regierung das mit wenig mehr als einem Stirnrunzeln zur Kenntnis.
Einige christliche Führungspersonen glauben, die Evangelikalen gehen unnötige Risiken ein. Ishak Pamumbu Lambe, der Leiter der christlichen Dachorganisation Indonesian Council of Churches (PGI), beklagt, dass solche Versammlungen außerhalb der Kirchen dem Bild der Christen in der Öffentlichkeit nicht zuträglich sind. "Sie machen die Lage noch schwieriger", sagt er.
Lambe, der von kirchlichen Aktivisten als zu weich kritisiert wird, ist der Ansicht, christliche Führer sollten auf Muslime zugehen und sich nicht hinter Hoteltüren verbarrikadieren. Er weist darauf hin, dass einige PGI-Mitglieder in politischen - auch muslimisch dominierten - Parteien aktiv sind und so einen Beitrag zum Selbstschutz der christlichen Gemeinde leisten. Statt auf die Straße zu gehen, arbeiteten sie hinter den Kulissen gegen politische Bestrebungen, islamisches Recht einzuführen. "Nur weil wir nicht öffentlich auftreten", betont Lambe, "heißt das nicht, dass wir nichts tun. Wir intensivieren unsere Kontakte zu nationalistischen Gruppen, wir sagen ihnen, dass Radikale nicht nur religiöse Minderheiten, sondern auch die nationale Einheit bedrohen."
Und doch teilt Lambe die Befürchtung anderer Christen, Ambon werde nicht die einzige Provinz mit einer Separatistenbewegung bleiben, wenn die Regierung nicht mehr zum Schutz der christlichen Minderheit tut. Auf die Frage, was die Kirche zur Beendigung solcher Konflikte beitragen kann, antwortet er: "Die Kirche hat nicht die Macht, jemanden zu zwingen; wir können nur moralische Unterstützung anbieten. Wir sind keine Rechtsvollzugsbehörde."
Die Kirchenoberen mögen andere, etwa evangelikale Gruppen oder die Regierung, für die zunehmenden religiösen Spannungen verantwortlich machen, aber es gibt auch religiöse Führungspersonen, die der Kirche eine Mitschuld zuweisen. Soritua Nababan, ein engagierter Kirchenmann, leitete den PGI über Jahrzehnte. Er brachte das Suharto-Regime gegen sich auf, als er dessen Aufforderung an Kirchenführer, öffentlichen Protesten gegen den autoritären Regierungsstil und die Diskriminierung des Regimes Einhalt zu gebieten, nicht Folge leistete. Die evangelikale Bewegung, sagt er, ist eine Reaktion auf die Unfähigkeit der Kirchen, ihren Gemeinden Führung, Schutz und Orientierung zu geben. "Religiöse Führer müssen zugeben, dass wir versagt haben", sagt Nababan. Für Indonesien droht dieses Versagen sehr ernste Folgen zu haben.
aus: der überblick 03/2002, Seite 100
AUTOR(EN):
Dini Djalal:
Dini Djalal ist Journalistin mit dem Schwerpunkt Asien und lebt in Jakarta. Wir drucken ihren Beitrag mit freundlicher Genehmigung der "Far Eastern Economic Review", wo er am 13. Juni 2002 zuerst erschienen ist.