Der Afrikakorrespondent und seine Redaktion in Deutschland
Unser Mann in Afrika – so wurde ich bei der alljährlichen Tagung der Auslandskorrespondenten oft begrüßt. Im altehrwürdigen Anglo-German Club an der Hamburger Außenalster klang das wie eine scherzhafte Anspielung auf Graham Greene: Unser Mann in Havanna, Außendienstmitarbeiter für exotische Aufgaben. Na, Grill, was ist los in Afrika? pflegte ein Kollege zu fragen, und er antwortete sich gleich selber: "Negerkampf im Tunnel." Und in der Tat war ich schon bald nach meiner Entsendung nach Südafrika zu einem Kriegsberichterstatter mutiert. Ich berichtete über die blutigen Konflikte in Somalia, Angola, Burundi, Zaire oder im Sudan, für good news aus Afrika blieb nur selten Platz.
von Bartholomäus Grill
Der einzige Trumpf, den ich gelegentlich ausspielen konnte, war ein gewisser Nelson Mandela und seine Mission, die friedliche Überwindung der Apartheid. Der alte Mann wurde in Europa allerdings nicht als Afrikaner gesehen, sondern so wie die Gefängnisinsel Robben Island, auf der er 19 seiner 27 Kerkerjahre verbrachte: als Weltkulturerbe. Zeitweiligen Aufmerksamkeitswert hatte auch Simbabwe, denn dort wurden die Albträume der Kolonialherren wahr. Das Regime von Präsident Robert Mugabe vertrieb die Nachfahren der britischen Siedler vom einst geraubten oder durch zwielichtige Verträge erschlichenen Land, und natürlich sandte jede britische Provinzpostille einen Sonderkorrespondenten an den Sambesi, um über die staatskriminellen Vorgänge zu berichten.
Sie schrieben hauptsächlich über das Schicksal der bedauernswerten Großgrundbesitzer; dass Hunderttausende von Farmarbeitern ihre Arbeit verloren, wurde nur in den Nebensätzen erwähnt – eine selektive Wahrnehmung, determiniert durch die Hautfarbe: Die schwarzen Farmarbeiter waren nur Statisten in einem Drama, bei dem weiße Farmer ermordet wurden. Und so produzierte die Enteignung und Vertreibung von Weißen in ein paar Monaten vermutlich mehr Schlagzeilen als das politische Leben Simbabwes in den zwanzig Jahren, die seit seiner Unabhängigkeit vergangen waren.
Als "Mann in Afrika" spürt man von Anfang an, dass das Einsatzgebiet an der Weltperipherie liegt. Das Zentrum ist jenseits der üblichen K-Themen – K für Kriege, Krisen, Katastrophen, Kriminalität, Korruption, Krankheiten – nur sporadisch an Afrika interessiert. Die britischen und französischen Kollegen haben es da besser, denn ihre Länder verbindet eine lange Kolonialgeschichte mit dem frankofonen respektive anglofonen Afrika, eine sentimentale Geschichte voller Verklärung und Verdrängung, die ökonomisch und mental in die postkoloniale Phase hineinverlängert wurde.
Für uns deutsche Korrespondenten ist der Platz immer knapp, wir müssen für unsere Geschichten kämpfen, nicht nur gegen die konkurrierenden Vorschläge all der anderen Korrespondenten, sondern auch gegen die Ignoranz der Redakteure. Ein Beispiel, das mir immer als erstes dazu einfällt: Als am 14. Oktober 1999 Julius Nyerere starb, schlug ich einen kurzen Nachruf vor. Julius wer? Der junge Kollege wusste mit dem Namen nicht viel anzufangen. Und so war in meiner Zeitung keine Zeile darüber zu lesen, dass einer der größten Denker und Humanisten des postkolonialen Afrika zu den Ahnen gegangen war.
Zweites Beispiel: Neben einem Artikel über den Krieg im Kongo stand ein Agenturfoto von einem Friedhof im Kongo; das Problem war nur, dass sich der Text auf ein ganz anderes Land bezog als das Bild – der Unterschied zwischen der Demokratischen Republik Kongo (Hauptstadt Kinshasa) und der Republik Kongo (Hauptstadt Brazzaville) hatte sich in der Fotoredaktion leider noch nicht herumgesprochen.
Aber warum sollten Zeitungsredakteure die große weite Welt anders betrachten als der gemeine Leser? Sie betrachten sie in der Regel eurozentrisch, also mit dem klassischen Tunnelblick des Westens, der von Washington über Paris und London nach Moskau reicht und nach Peking verlängert wurde, seit die "gelbe Gefahr" dank kräftiger Medienkampagnen wieder virulent geworden ist. Von dieser Wahrnehmungsachse führen noch ein paar Seitenstollen weg, die in Jerusalem, Bagdad oder am Hindukusch enden, denn dort wird bekanntlich unsere Freiheit verteidigt.
Quid novi ex Africa? Es gibt nichts Neues, nur Altbekanntes: Afrika in Agonie. Entscheidend ist die Wahrnehmung des Erdteils, nicht dessen Wirklichkeit. Das gilt im Weltbild von Krisenreportern übrigens nicht nur für Afrika, sondern für alle Konflikt- und Armutszonen. Sie streichen wie ein Wolfsrudel um den Globus, heute Haiti, morgen Irak, übermorgen Darfur, vorneweg marschiert Christiane Amanpour von CNN, die Jeanne d´Arc des Katastrophenjournalismus, hinterdrein folgt der Rest der Weltmedien. Im Konkurrenzkampf um Einschaltquoten, Auflagen und Anklickfrequenzen darf der Sonderberichterstatter "vor Ort" nicht fehlen.
Dieses "vor Ort" gehört übrigens zu meinen Hassbegriffen, es ist eine Chiffre des Aktualitätswahns, der Echtzeithechelei, der Windhundrecherche. Ihr blinder Gebrauch zeugt zugleich von der Verluderung der deutschen Sprache, denn eigentlich zutreffend ist diese Wendung nur an einem Schauplatz: im Bergwerk. Wenn die Kumpel im Stollen arbeiten, dann sind sie – und nur sie! – vor Ort. Neuerdings gehen manche Medien aus Kostengründen dazu über, den klassischen Korrespondenten gegen den "fliegenden Redakteur" auszutauschen. BBC und andere Globalsender setzen seit geraumer Zeit auf VJ genannte Videojournalisten, die gleichzeitig filmen, interviewen, fotografieren und schreiben. Wo immer diese preisgünstigen Mehrzweckgeschosse aufschlagen – ihre Wirkung ist verheerend.
Blenden wir kurz ins Jahr 1993 zurück, nach Somalia. Stahlgewitter über Mogadischu. Mordbrennende Milizen. Hunger, Seuchen, Massenelend. Die Krisenreporter befinden sich im Anflug auf die Hauptstadt eines Landes, dass vor zwölf Jahren aufgehört hat, zu existieren. Es sind verwegene Kerle, jung und furchtlos, die von den Heimatredaktionen ins "Herz der Finsternis" entsandt werden. Im Flugzeug überfliegen sie noch schnell ein paar Agenturmeldungen. Dann landen sie. Und betreten ein Land, das ihnen so vertraut ist wie die Nachtseite des Mondes.
Was sehen sie? Spindeldürre Gestalten, Ruinen, Gewaltexzesse. Die Menschen: eine amorphe Masse. Ihre Sprache: kehlig. Ihr Glaube: archaisch. Ihr Zorn: unbegreiflich. Eine Welt voller Bösartigkeit, beherrscht von ruchlosen Warlords. Aber da ist auch diese andere Welt, die farbenfrohen Kleider, das Lachen der Kinder, der heiße Wüstenwind, die Kamele, die Arabesken. Und vor allen die jungen Somalierinnen, die wie Modigliani-Figuren durch die Dornensavanne schreiten. Stammen nicht auch die überirdischen Supermodels wie Waris Dirie aus dieser Weltgegend? Die Krisenreporter schwärmen.
Ihre Blitzanalysen verblüffen all jene Landeskenner, die sich in der feinverästelten Sozialstruktur Somalias erst nach vielen Lehrjahren zurechtfinden. Da zerfällt dann eine ethnisch homogene Bevölkerung in undefinierbare Sprengel, da werden Sippen zu Clans und Clans zu Stämmen, auch wenn es in Somalia gar keine Stämme gibt. Geschenkt. Wen interessiert schon so genau, ob es Hawardle, Hawadle oder sonstwie heißt? Wen schert der Unterschied zwischen Issa und Issac? Rahanwejn - kann man den trinken? Nein, das ist auch irgendein Stamm, irgendwo in Afrika. Man stelle sich den umgekehrten Fall vor: Ein Afrikaner schreibt über Deutschland und nennt den Stamm der Schwiben einen Subclan der Frunken.
Es war mir meistens ziemlich unangenehm, wenn ich in der Meute der Weltpresse mitrennen musste, in Mogadischu kam ich mir vor wie in einem durchgeknallten Narrenhaufen. Wir wohnten in einem Hotel, das den trefflichen Namen "Al Sahafi" trug, was soviel wie "Journalist" heißt. Weil es die einzige halbwegs sichere Unterkunft in der Stadt war, hatte CNN gleich eine ganze Etage okkupiert und natürlich auch die Telefonleitungen und Stromanschlüsse und die besten Drehplätze auf dem Flachdach für die Live-Kriegsfilme. Die TV-Generalin Amanpour kommandierte ihr Nachrichtenteam wie einen Stoßtrupp der US-Marines. Die Kollegen rannten herum, als befänden sie sich in der Schlacht um Pearl Harbour. Und der Supersonderspezialkrisenberichterstatter der Anstalt RTL, deren Chefredakteure dank der UN-Mission "Restore Hope" gerade Afrika entdeckt hatten, drapierte zwei wild dreinschauende Milizionäre mit Kalaschnikows hinter sich, sein Aufsager in den Abendnachrichten sollte möglichst martialisch aussehen.
"Es gibt eine Unzahl Newcomer im professionellen Journalismus... diese Journalisten haben keine Ahnung, wo sie sich kulturell befinden, sie arbeiten ohne historisches Hintergrundwissen," kritisiert Ryszard Kapuscinski am Beispiel der Berichterstattung über Ruanda. "Jeder fängt einmal an!", hätte man dem im Januar verstorbenen Polen Kapuscinski, einem der feinfühligsten (und fachlich umstrittenen!) Korrespondenten, die je über Afrika schrieben, entgegenhalten mögen. Man kennt aus eigener Erfahrung die Fallstricke bei der Beurteilung eines äußerst komplizierten Landes wie Ruanda. Man erinnert sich an peinliche Fehler, die in zornigen Leserbriefen gegeißelt wurden. Und wird vorsichtiger in seinen Urteilen, weil das eigene Unwissen und Ungenügen stärker ins Bewusstsein rückt. Weil bekannt noch lange nicht erkannt heisst und man merkt, wie oft man selber Klischees auf den Leim geht.
Die Kollegen von der schnellen Eingreiftruppe scheint der Skrupel weniger zu plagen, ganz abgesehen davon, dass ihnen die Zeit zu gründlicher Vorbereitung und gewissenhafter Recherche fehlt. Aber man will in Europa ohnehin nicht so genau wissen, was auf dem "schwarzen" Erdteil außer Katastrophen geschieht. Afrikas Anteil am Welthandel ist marginal, sein geopolitisches Gewicht wiegt nicht schwer. Das andere Afrika, das heitere, gelassene, erfinderische, ist uninteressant. Andernfalls würde man herausfinden, dass Hungersnöte nicht an der Tagesordnung sind. Oder dass es in weiten Regionen friedlicher zugeht als, sagen wir, in einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, die von Neonazis regiert wird. Aber solche Nachrichten würden nicht ins präformierte Bild vom verlorenen, verzweifelten, moribunden Kontinent passen, das sich so vorzüglich verkauft. "Die Reportage soll bestätigen, was evident ist: Alles läuft schlecht da unten, seit wir nicht mehr da sind," schreibt Frantz Fanon, der Philosoph der Befreiung.
Es mangelt keineswegs an Berichten aus Afrika. Der Erdteil ist öfter in den Schlagzeilen als Südamerika oder Australien. Und warum sollte aus europäischer Sicht einem Land wie Mali mehr Aufmerksamkeit zuteil werden als dem randständigen Portugal? Das Kardinalproblem ist nicht die Quantität, sondern die Qualität der Berichte, die Art und Weise, wie sie im Wechselspiel von Vermarktungsinteressen und Wahrnehmungsrastern zustande kommen.
Gefragt ist in der Regel die oberflächliche, flinke Depesche, die Sensationsmeldung, nicht die nachdenkliche Analyse oder die gelassen erzählte Geschichte. Im globalen Infoschnellservice wird die Ware Information in kleinen, scharfen Bissen verabreicht. Allerdings muss ein Mindestwert auf der Richterskala der Unglücke erreicht werden, damit man sie überhaupt für nachrichtentauglich hält. "Der Wert unseres Lebens wird niedrig eingestuft – auch von uns selber", erklärte mir die kenianische Intellektuelle Wambui Mwangi, als wir uns während des Krieges im Kosovo auf der Sklaveninsel Gorée trafen. "Um eine vergleichbare Aufmerksamkeit zu erwecken, sind viele afrikanischen Menschenleben nötig. In dieser Indolenz verbirgt sich etwas zutiefst Rassistisches." Wenn auf einem afrikanischen Gewässer eine Fähre mit 300 Passagieren absäuft, lesen wir das nur als Randnotiz in der Rubrik "Bunt Vermischtes". Die Massaker, die vor dem Friedensschluss in Burundi geschahen, tauchten gar nicht auf. "Wir brauchen 500 Tote plus, erst dann kommt CNN", sagte ein deutscher Diplomat, den ich in der Hauptstadt Bujumbura traf.
Afrika wird wie durch ein umgekehrtes Fernglas betrachtet: Das Objekt rückt in die Ferne, seine Feinstrukturen werden unkenntlich. Der Katastrophenjournalismus verfestigt diesen Grobblick: Afrika schreit. Afrika weint. Afrika stirbt. Manches Klischee wurde seit dem Ende des Kolonialismus so oft wiederholt, dass es Eingang in unsere Alltagssprache gefunden hat. Wenn wir ein dünnes, rachitisches Kerlchen sehen, sagen wir: Das sieht ja aus wie ein Biafra-Kind.
Wie geht es weiter? Nach rechts oder nach links? Oder sollen wir den Pfad in der Mitte nehmen? Wegweiser existieren nicht, unser Fahrer ist mit seinem Latein am Ende, und weit und breit findet sich kein Mensch, den wir fragen könnten. Die Landkarte gibt keine Auskunft, die Kreuzung irgendwo im unermesslichen Waldmeer des Kongobeckens, an der wir gerade stehen, liegt auf einem weißen Flecken. Hic sunt leones, hier wohnen Löwen, schrieben die Römer an solchen Stellen auf ihre Atlanten.
So wie im kongolesischen Urwald erging es mir oft in meinen dreizehn Jahren als Korrespondent in Afrika. Die Wegscheide ist eine Metapher der Orientierungslosigkeit: Ich fühlte mich wie ein Elementarteilchen, dass durch einen riesigen Kosmos treibt. Ich kam zum ersten Mal in ein großes Land, nach Nigeria, Angola oder in den Sudan und fragte mich: Wo anfangen? Wie einen Überblick gewinnen, wo ich doch nur ein paar Splitterchen zu Augen bekommen, nur mit einem Dutzend Leute sprechen, zwei, drei Orte besuchen werde? Ich sah ein Ritual, ein Symbol, eine Geste, hörte eine Geschichte, erlebte eine Begebenheit, und konnte das Wahrgenommene nicht einordnen oder begreifen. Es fehlten die historischen Kenntnisse, der religionssoziologische Hintergrund, das ethnografische Referenzsystem. Da stand ich dann und tat, was ein kluger Kopf einmal "hermeneutischen Kolonialismus" genannt hat: interpretieren, hineindeuten, spekulieren. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass dabei oft Zerrbilder oder Projektionen entstehen, die mehr mit uns selber zu tun haben als mit der sozialen Wirklichkeit.
Und so kämpft man als Korrespondent zunächst auch gegen die eigenen Stereotype an, die die Wahrnehmung Afrikas seit Jahrhunderten prägen: Afrika, der kriegerische, dunkle, bettelarme, verlorene Kontinent, die Afrikaner, ein sorgloser, fröhlicher und nicht allzu fleißiger Menschenschlag. Schnell und überheblich urteilen Europäer über einen Kontinent, in dem der ihre zehn Mal Platz fände. 750 Millionen Menschen, vielleicht 800 Millionen oder noch mehr, fünfzig Staaten, Tausende von großen Völkern und kleinen Ethnien, Kulturen und Religionen – ist es nicht vermessen, sich ein Urteil über diesen Erdteil zu erlauben? Und muss es nicht geradezu anmaßend wirken, wenn wir über das "Wesen" der Afrikaner reden und keine einzige ihrer zweitausend Sprachen sprechen? Es ist anmaßend – auch wenn man sich seit zwei Jahrzehnten mit ihrem Kontinent beschäftigt. Denn man stellt fest, dass es immer noch jede Menge Unschärfen auf dem Bild gibt, das man sich von Afrika gemacht hat.
Am Anfang meiner Jahre in Afrika haben mich diese Unschärfen oft gewurmt. Das änderte sich, als ich das Tagebuch von Michel Leiris entdeckte. Der französische Literat hatte an der Dakar-Dschibuti-Expedition des berühmten Ethnologen Marcel Griaule teilgenommen. Am 5. Oktober 1931 notiert er: "Ich verzweifle daran, dass ich in nichts wirklich bis auf den Grund einzudringen vermag." Der Poet Leiris hat sich mit dem allwissenden Forscher Griaule überworfen, weil er mit kompromittierender Offenheit die Grenzen der völkerkundlichen Erkenntnis beschreibt. Der Dichter will eintauchen in die "ursprüngliche Mentalität" und muss schließlich feststellen, dass er nur ein Afrique fantôme erlebt und ein Gefangener des eurozentrischen Blicks bleibt.
Wir können uns nicht selber entfliehen. Die Bekenntnisse des Michel Leiris waren ein erhellender Trost. Und dann gab es noch ein zweites wichtiges Buch: "Traurige Tropen" von Claude Lévi-Strauss. Jeder Korrespondent, der über den Süden schreibt, sollte es Zeile für Zeile studieren – denn dieser grandiose Anthropologe seziert die Strukturen der westlich-kolonialen Wahrnehmung und treibt uns den abendländischen Erkenntniszwang aus, den Zwang, alles gedanklich durchdringen und sezieren zu müssen. In Afrika lernt man, mit Fragezeichen zu leben. Man erkennt, was man nicht erkennen kann. Und wird im Laufe der Jahre behutsamer, vorsichtiger, vielleicht auch gnädiger in seinen Urteilen über diesen Kontinent.
Das schützt einen nicht vor dem Vorwurf, den sich wohl jeder Afrika-Korrespondent schon einmal anhören musste. Wir würden den Kontinent kaputtschreiben, heißt es, unsere Katastrophenberichte seien nichts als maßlose Übertreibung oder sensationslüsterne Kolportage. Der Simbabwe-Experte des Instituts für Afrikakunde entblödete sich nicht, uns deutsche Korrespondenten einer journalistischen Kampagne gegen den Despoten Robert Mugabe zu bezichtigen. Der Überbringer der schlechten Botschaft ist für dieselbe verantwortlich – dieser Reflex ist so alt wie das Nachrichtenwesen.
Zugegeben, manchen Kollegen geht gelegentlich der Gaul durch, und ein paar wenige liefern fast ausschließlich pessimistische Einschätzungen, weil sie Afrika für einen rettungslosen Fall halten und die Afrikaner für korrupte, faule oder einfach nur unfähige Zeitgenossen. Wer sich trotz aller Probleme den Optimismus nicht abgewöhnen will, gilt in ihren Augen als unverbesserlicher Altachtundsechziger oder bestenfalls als naiver Gutmensch. Studiert man die Elaborate dieser Kollegen genauer, fällt schnell auf, dass sie Fakten, die ihre Untergangsthese nicht stützen, gerne weggelassen. Dafür stimmen sie den afrikanischen Totenmarsch mit Kriegstrommeln und Kalaschnikows um so lauter an.
Es geht keineswegs darum, die Tatsachen zu verharmlosen oder gar schön zu schreiben, das sollte man realitätsblinden Solidaritätsblättchen wie "Africa Positive" überlassen, die jeden, der den Kontinent nicht durch die rosarote Brille betrachtet, für einen Rassisten halten. Viele Länder Afrikas sind in einem miserablen Zustand, das lässt sich nicht leugnen, und wenn man die Statistiken vergleicht, wird man feststellen, dass der Erdteil auf allen Feldern das globale Schlusslicht ist, von A wie Analphabetismus bis Z wie Zahnarztdichte.
Jeder Afrika-Korrespondent kennt das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Es beschleicht ihn im Ostkongo, wo der Bürgerkrieg nicht enden will. Oder vor einem Massengrab in Ruanda. Oder in Darfur, beim Anblick eines Flüchtlingslagers. Wie konnte es so weit kommen? Wer ist dafür verantwortlich? Ich habe diese Fragen am Anfang meiner Korrespondentenjahre ganz anders beantwortet als heute. Stets waren finstere Außenmächte am Elend Afrikas schuld, der Kolonialismus und seine Folgen, die ungerechte Weltwirtschaftsordnung, die obstruktive Haltung des Westens. Schwarze Opfer, weiße Täter – die Misere, daran gab es für mich nicht den geringsten Zweifel, wird zu achtzig Prozent durch exogene Faktoren verursacht.
Unterdessen sehe ich es genau umgekehrt: Die Afrikaner selber, namentlich die räuberischen Eliten, tragen die Hauptverantwortung für die desaströse Lage, unter der Millionen von Afrikanern leiden. Die classe politique hat ihre Staaten in der postkolonialen Phase in den Abgrund gewirtschaftet, und es fällt einem als Chronist nicht immer leicht, angesichts der herrschenden Verhältnisse zuversichtlich zu bleiben und jenseits der apokalyptischen respektive gutmenschlichen Projektionen ein realistisches Bild von Afrika zu zeichnen. Entscheidend dabei ist, dass sich der Korrespondent den offenen Blick bewahrt. Dass er wie ein klassischer Soziologe im Geiste Max Webers versucht, zu verstehen, warum Menschen so handeln, wie sie handeln. Und dass er zugleich mit kritischer Distanz und unerschütterlicher Empathie über ihre afrikanische Lebenswelt berichtet.
aus: der überblick 04/2007, Seite 9
AUTOR(EN):
Bartholomäus Grill
Bartholomäus Grill war über ein Jahrzehnt Afrika-Korrespondent für "Die Zeit" und andere Medien und lebt als Autor und freier Journalist in Berlin.
Gerade ist sein Buch "Gott, Aids, Afrika" erschienen (Kiepenheuer & Witsch, Köln, 206 S.). Er hat diese Streitschrift gegen den Vatikan zusammen mit dem katholischen Priester Stefan Hippler aus Kapstadt verfasst.