Die Bürgergesellschaft bleibt in Kirgisistan eine Illusion
Noch bevor sich in Kirgisistan eine Zivilgesellschaft nach westlichem Muster etablieren konnte, begann der Staat ein euro-asiatisches Gegenbild, eine gelenkte Zivilgesellschaft zu schaffen. Gleichzeitig versucht auch die organisierte Kriminalität, Protestformen der Zivilgesellschaft zu nutzen. So haben sich viele Hoffnungen aus der Tulpenrevolution bereits zerschlagen.
von Igor Grebenschikov
Im kirgisischen Sprachgebrauch wird unter westlicher Zivilgesellschaft oder Bürgergesellschaft meistens ein öffentlicher Raum zwischen staatlicher und privater Sphäre verstanden, in dem sich eine Vielzahl autonomer und vom Staat rechtlich getrennter Organisationen tummeln, wo Vertreter dieser Organisationen individuell und kollektiv die Freiheit haben, ihre Interessen zu verfolgen.
Eine so verstandene Zivilgesellschaft ist in Kirgisistan kaum entwickelt. Regierungsvertreter bezweifeln, dass Kirgisistan als ein asiatisches Land überhaupt einen derartigen Westimport braucht. Stattdessen spricht man häufig von einer neuen euro-asiatischen Zivilgesellschaft, die die besonderen Verhältnisse zwischen Staat und Gesellschaft widerspiegelt. Dieses Modell sieht eine aktive Teilnahme des Staates beim Aufbau von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) vor. Diese neue Zivilgesellschaft soll geistige Einheit und Kollektivismus widerspiegeln. Nur diese Form der Zivilgesellschaft sei stark und demokratisch genug, dem Staat dabei zu helfen, seine Aufgaben wahrzunehmen.
Solche Ansichten sind für die weitere Entwicklung der Zivilgesellschaft in Kirgisistan nicht besonders förderlich. Sie bedeuten eher eine Rückkehr zu den Verhältnissen in der Sowjetunion. Zur Zeit befindet sich die kirgisische Zivilgesellschaft zwar nicht unter der totalen Kontrolle des Staates. Aber im semi-autoritären Kirgisistan ist die gelenkte Zivilgesellschaft das angestrebte Modell.
Nach der Rosenrevolution in Georgien und dem orangenen Durchbruch in der Ukraine war die kirgisische Tulpenrevolution in März 2005 bereits die dritte vom Volk ertrotzte Umwälzung im postsowjetischen Raum. Anders als bei den beiden ersten, die friedlich verlaufen sind, kam es bei der kirgisischen Tulpenrevolution zu Plünderungen, Vandalismus und Selbstjustiz. Kriminalität grassierte. Der Staat war als Ordnungsmacht nicht mehr präsent. Auf der anderen Seite wurde deutlich, dass die Zivilgesellschaft trotz der zahlreichen NGOs weder genug entwickelt ist, um ein Gegengewicht zum Staat zu bilden, noch ausreichend stark und reif, um den Staat in der Krise zu stützen.
Vor der Unabhängigkeit gab es in Kirgisistan keine NGOs. Erst auf Druck und mit finanzieller Unterstützung internationaler Organisationen entstanden in den neunziger Jahren mehr als 7000 nonprofit organizations. Häufig gaben wirtschaftliche Gründe den Ausschlag für die Bildung einer NGO. Dank der Geber war der finanzielle Anreiz, eine NGO zu gründen, hoch zumal selbst nach offiziellen Angaben rund 20 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos sind und zwischen 40 und 80 Prozent der Bevölkerung von einem Dollar am Tag leben muss. Bei den meisten NGOs bleibt im Dunklen, was sie genau tun. Es gibt viel Kritik an ihrer mangelnden Transparenz. Man wirft den NGOs außerdem vor, im Namen der Gesellschaft zu sprechen, ohne in diese integriert zu sein. Mitglieder von NGOs werden als eine privilegierte Schicht der verarmten Gesellschaft betrachtet, die nichts für die Armen tut. Man hält den NGOs ferner vor, vom Ausland finanziert zu werden und damit die Souveränität des Staates in Frage zu stellen. Die meisten dieser Vorwürfe sind gerechtfertigt. Die bloße Zahl von Organisationen ist also noch kein Ausweis einer lebendigen Zivilgesellschaft. Und ohne Geldgeber aus dem Ausland sind sie kraft- und hilflos, also sinnlos.
Es gibt jedoch auch Initiativen von unten. Dazu zählen Gruppen, die als Besetzer des Bodens bezeichnet werden. Die meisten dieser Besetzer sind auf der Suche nach Arbeit und besserem Leben aus dem unentwickelten Süden des Landes in die größeren Städte gekommen. Dort lebten sie am Rande der Gesellschaft und warteten auf eine Chance, nach oben zu kommen. Die Instabilität und die revolutionäre Stimmung boten dazu Gelegenheit. Sie besetzten herrenlosen Boden tatsächlich war es Boden in Staatsbesitz organisierten sich in Vereinigungen und erpressten die Regierung mit Hilfe von Demonstrationen und Unruhen. Die gewährte ihnen schließlich den Status von Grundstücksentwicklern, das heißt, sie durften auf dem Land bleiben und dort eine Unterkunft errichten. Diese Landbesetzungen gibt es schon seit einiger Zeit. So entstanden selbstgebaute Shanty-Towns allerdings ohne jedwede öffentliche Wasserver- und Abwasserentsorgung. Die Demonstrationen und Unruhen seitens der ersten Besatzer-Bewegung Aschar (übersetzt:zusammen) hat wesentlich dazu beigetragen, die Kommunisten nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre zu entmachten.
Diese wildwüchsige Stadtentwicklung bringt jedoch auch das traditionelle Gesellschaftsgefüge des Landes durcheinander. Denn die Basis der kirgisischen Gesellschaft bilden die Stämme. Über Generationen gab es eine ungeschriebene Ordnung, welcher Stamm welche Position in der Staatshierarchie beanspruchen kann. So kam der Präsident immer aus dem Stamm der Sarybagysch, mit dem alle nördlichen Stämme in einer Quasi-Union verbunden waren. Die südlichen Stämme, die man als Itchkilik bezeichnet, waren bei der Machtverteilung zumeist benachteiligt. Die Revolution hat die traditionelle, auf Klan und Stamm beruhende Gesellschaftsstruktur verändert, die sogar die Sowjetzeit überlebt hatte. Der jetzige Präsident Bakijew gehört den Itchkilik an. Die nördlichen Stämme, von der Macht vertrieben, fühlen sich jetzt unterrepräsentiert und sind unzufrieden. Sie haben deshalb Gebiete mit Bodenschätzen besetzt, die angeblich Stammesland sein sollen. Die Stammesloyalität geht über alles: Wenn ein Regierungsbeamter sein Amt verliert, dieses Schauspiel wiederholt sich immer wieder, gehen seine Leute für ihn auf die Straße.
Mit einer modernen Demokratie und in einem Verfassungsstaat ist das schwer in Einklang zu bringen. Die derzeit gültige Verfassung garantiert allen Volksgruppen Gleichheit vor dem Gesetz und soll sie vor Diskriminierung schützen. Neben den etwa 65 Prozent Kirgisen bilden die Usbeken mit 14 Prozent und Russen mit 11 Prozent größere Volksgruppen. Daneben hinaus gibt es kleinere Minderheiten wie die Ukrainer, Dunganen, Deutschen, Tadschiken und Uiguren. Die Führer der einzelnen Volksgruppen sitzen in einer so genannten Volkskammer. Seit der Verfassungsänderung von 2003 ist das keine zweite Parlamentskammer mehr, sondern ein den Präsidenten beratendes Gremium, eine Art vom Staat geschaffene NGO, die vom Präsidenten gefördert wird und die Loyalität der Minderheitenführer gewährleisten soll. Die Volkskammer soll der Welt ein idyllisches Bild von multikultureller Harmonie vorspiegeln.
In der Realität bestehen jedoch ethnische Spannungen. Einige Volksgruppen fühlen sich in den Machtstrukturen nicht ausreichend repräsentiert. Zudem lässt sich seit der Revolution eine Tendenz zur Vorherrschaft der Itchkilik feststellen. Als Gegenreaktion dazu sprechen sich viele Angehörige der Minderheitenvolksgruppen wie ethnische Deutsche, Juden und Russen für eine doppelte Staatsbürgerschaft aus, obwohl die meisten Staaten, Russland inklusive, diese Idee strikt ablehnen. Viele Angehörige der Minderheiten wandern wegen ihrer unsicheren Lage aus. Sie ziehen in das Herkunftsland ihrer Vorfahren. Diejenigen, die bleiben, versuchen, unauffällig zu leben. Sie treten weder in politische Parteien ein noch nehmen sie an Demonstrationen teil. Meistens unterstützen sie den amtierenden Präsidenten. Politisch verhalten sie sich so gesehen bewusst apathisch.
Die Verfassung sichert auch Religionsfreiheit zu. Als offizielle Religionen anerkannt sind aber nur der Islam und die Orthodoxie. Die Orthodoxe Kirche, die aus Moskau geleitet wird und der ungefähr 17 Prozent der kirgisischen Staatsbürger angehören, ist ein traditioneller Freund der kirgisischen Machthaber, und auch der offizielle Islam ist untertänig. Widerstand geht nur von einigen islamischen Strömungen aus, die deswegen von der Regierung zumeist voreilig als extremistisch bezeichnet werden.
Vor allem handelt es sich dabei um die islamische Organisation Hizb ut-Tahrir, die als ideologische Kraft hinter dem internationalen Terrorismus in Zentralasien gesehen wird. Ihr Ziel ist der Aufbau eines religiösen Staates, eines Kalifats im Ferghana-Tal. Die Organisation ist verboten und lebt im Untergrund. Hizb ut-Tahrir wirbt um neue Anhänger, indem sie die sozialen, ökonomischen und politischen Probleme des Landes aufgreift. Sie prangert soziale Ungleichheit an und verspricht Veränderungen hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Das trifft bei der verarmten Bevölkerung auf offene Ohren. Die Regierung hat keine überzeugenden Argumente, um Hizb ut-Tahrir effektiv zu bekämpfen. Auch die offiziellen Geistlichen haben den Koran-Interpretationen der Hizb ut-Tahrir nichts entgegenzusetzen. Sie vermeiden offene Diskussionen und wiederholen stattdessen nur die Angstklischees der Regierung.
Auch von Seiten der Wirtschaft gibt es wenig Opposition zur Regierung. Unter der Regierung von Akajew fielen politische und wirtschaftliche Macht zusammen, da einflussreiche Funktionen in der Wirtschaft mit Akajews Amtsantritt innerhalb der Mitglieder der Präsidentenfamilie verteilt wurden. Damit wurde der Staat zugleich zum Familiengeschäft Akajews. Nicht nur staatliche und politische Ämter, sondern auch Gewerbeerlaubnisse wurden verkauft. Wer sich nicht fügen wollte, dessen Geschäft war ruiniert. Ein Geschäftsmann musste nicht nur politisch loyal sein, sondern durfte sich auch den Geschäften der Präsidentenfamilie nicht querstellen. Die Revolution hat diese Verhältnisse nicht verändert.
Ebenso wie die Grenze zwischen Wirtschaft und Politik, so ist auch die Grenze zwischen kriminellen und legalen wirtschaftlichen Aktivitäten in Kirgisistan fließend. Um Geschäfte machen zu können, benötigt man immer den Schutz der Präsidentenfamilie, der Beamten oder der organisierten Kriminalität. Sogar kleine Händler auf dem Markt werden von Staatsbediensteten erpresst. Internationale Firmen stellen sich zuerst unter den informellen Schutz der Regierung, bevor sie sich in Kirgisistan wirtschaftlich engagieren. Die Privatwirtschaft in Kirgisistan ist zu schwach, um ein Gegengewicht zur Politik zu bilden, und es darf auch bezweifelt werden, dass sie wirklich ein Interesse daran hätte. Business, Politik und Kriminalität sind miteinander verwoben. Die Revolution und das neue Regime haben zwar eine Eigentumsumverteilung gebracht, aber eine Reprivatisierung auf kirgisisch.
Auch auf der zivilgesellschaftlichen Bühne spielt die organisierte Kriminalität eine bedeutende Rolle. Sie ist politisiert und stellt Machtansprüche. Die korrumpierte Justiz ist nicht imstande, das organisierte Verbrechen effektiv zu bekämpfen. Viele notorische Kriminelle genießen entweder Immunität als Abgeordnete oder sie haben andere Beziehungen, die sie unantastbar machen. Sie nutzen demokratische Formen des Protests für ihre Zwecke. Sie gehen auf Demonstrationen, mobilisieren Sympathisanten und stellen politische Forderungen, wie zum Beispiel den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Nach außen scheinen ihre Mitglieder legalen Tätigkeiten nachzugehen, es fällt ihnen jedoch schwer, zu erklären, wie sie ihr Geld verdienen. Man vermutet, dass Erpressungen, Schutzgeld und Drogenverkauf eine Rolle spielen. Auch die im Gefängnis sitzenden Kriminellen protestieren gern. Es vergeht kein Monat, indem es nicht einen Streik in den Vollzuganstalten gibt. Die Regierung ist erpressbar und neigt dazu, mit der organisierten Kriminalität zu verhandeln. Es ist leider eines der Ergebnisse der Tulpenrevolution, dass auch der Respekt vor dem Recht verschwunden ist. Das Volk hat erlebt, dass es die Macht hat, und es ist nicht leicht, es wieder zum Untertan zu machen.
Natürlich berichten die Medien über solche Ereignisse. Aber ihre Berichte schürfen nicht tief. Es gibt schließlich viele Gründe, vorsichtig zu bleiben und Selbstzensur zu üben. Während die Medien unter Akajew mit rechtlichen Konsequenzen rechnen mussten, fürchten die Journalisten heute, bei einem unbequemen Beitrag einem Auftragsmord zum Opfer zu fallen. Die Regierungsmedien sind auch nach dem Machtwechsel regierungstreu geblieben. Die dort Beschäftigten haben nur ihr Hemd gewechselt. Sie propagieren und rechfertigen alles, was die Regierung unternimmt, weil sie von der Regierung finanziert werden.
Die Medien, die unter Akajew in Opposition standen, sind unter der neuen Regierung nicht mehr oppositionell. Bakijew, der neue Präsident, war ihr Wunschkandidat. Den Medien der Akajew-Familie jedoch blieb nicht anderes übrig, als oppositionell zu werden. Es geht hier allerdings um ein ganzes Imperium, das zu Akajews Zeit alle rentablen Medien übernommen hatte. Das lernte schnell und erfolgreich, sich in der oppositionellen Rolle zurecht zu finden. Aber seine Zeit war sehr kurz. Die Reprivatisierung auf kirgisisch hat es nicht verschont. Schon sechs Monate nach dem Machtwechsel waren in Kirgisistan keine oppositionellen Medien mehr übrig. Nur einige NGOs wagen noch Kritik.
Unter den beschriebenen Voraussetzungen ist die Zivilgesellschaft nicht imstande, aus Krisensituationen etwas Neues zu schaffen. Kirgisistan ist ein Staat, in dem der dritte Sektor ohne Geldgeber hilflos ist, in dem die private Wirtschaft mit dem Staat zusammengewachsen ist, wo Medien zwischen ihren wirtschaftlichen Interessen und Selbstzensur lavieren, wo ethnische Gruppen parallele Gesellschaften bilden, wo Religionen radikaler werden, wo das organisierte Verbrechen den Staat erpresst, wo stabile Klanstrukturen staatliche Instabilität verursachen. Daraus resultiert wahrscheinlich die Idee einer vom Staat gelenkten Zivilgesellschaft. Das aber bedeutet, dass der autoritäre Staat es nicht erlaubt, dass Bürgerinnen und Bürger des Landes ein Gegengewicht bilden. Das ist konzeptionell unsinnig, zum Schaden des Landes und mit Sicherheit kein Rezept gegen Staatszerfall.
aus: der überblick 01/2006, Seite 24
AUTOR(EN):
Igor Grebenschikov
Dr. Igor Grebenschikov ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im internationalen Konversionszentrum Bonn (BICC). Er studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an den Universitäten von Bischkek, Köln und Hamburg. Unter anderem arbeitete er als politischer Berater für das kirgisische Parlament.