Armut und Reichtum - kein Thema für die Kirchen?
Du sollst alle Jahre den Zehnten absondern von allem Ertrag deiner Saat, der aus deinem Acker kommt ... Dann soll kommen der Levit, der weder Anteil noch Erbe mit dir hat, und der Fremdling und die Waise und die Witwe, die in deiner Stadt leben, und sollen essen und sich sättigen, auf dass dich der Herr, dein Gott, segne in allen Werken deiner Hand, die du tust.
von Jürgen Reichel
Die Soziallehre der Kirche ist ihr bestgehütetes Geheimnis." Zu diesem Schluss gelangte eine Gruppe von Christen und Christinnen aus der Karibik in ihrem Bericht über Lehre und Praxis der westindischen Kirchen angesichts von Armut und Reichtum. Der Bericht ist Teil des ökumenischen Studienprozesses "Christianity, Poverty and Wealth in the 21st Century", in dem 21 Länderstudien vereint sind. Eine andere Studiengruppe aus Bangladesch berichtet: "Die Kirchen in Bangladesch haben offiziell keine wie auch immer geartete systematische Lehre oder Unterweisung über Armut und Reichtum. Auch die theologischen Lehranstalten verfügen nicht über ein organisiertes Curriculum, um ihre Studenten und Seminaristen in diese Materie einzuführen." Eine Studiengruppe aus Hongkong kommentiert: "Es ist kaum möglich, eine tiefere theologische Reflexion über die Armutsfrage von den Kirchenleitungen zu finden."
Das verblüfft. Gehört es nicht ausdrücklich zum Selbstbild christlicher Kirchen, dass sie sich für die Armen einsetzen? Sind die Kirchen nicht allerorten auf Seiten der Unterdrückten und Benachteiligten zu finden? Gehört es nicht wesentlich zum Auftrag einer jeden Kirche, die christliche Botschaft in Wort und Tat zu bezeugen? Und dann soll es das Ergebnis von 21 Länderstudien sein, dass "die Soziallehre der Kirche ihr bestgehütetes Geheimnis" ist?
Wenn die Kirchenleitungen die besagten Länderstudien verfasst hätten, hätten sie vielleicht fundiertere Aussagen darüber getroffen, wie in einzelnen Ländern die bedrängenden Fragen von Armut und Reichtum von christlichen Kirchen aufgegriffen werden. Die Verfasser und Verfasserinnen der Studien sind aber in den meisten Fällen nicht aus dem engsten Zirkel der Kirchen und deren Lehreinrichtungen gekommen. Vielleicht haben sie mitunter nicht gewusst, wo sie nachfragen und nachschlagen hätten sollten. Doch gerade deshalb macht der Befund umso nachdenklicher. Wenn für die engagierten Kirchenmitglieder die Soziallehre ihrer Kirchen schwer feststellbar ist, dann werden im öffentlichen Bewusstsein eines Landes die Christen wohl nicht für diejenigen gehalten, die sich mit brennender Sorge um die Lage der Armen kümmern.
Als Randnotiz sei hier etwas bemerkt, was einen - man weiß nicht so recht - verwirren oder belustigen kann: Ein langes Zitat aus dem Sozialwort der Kirchen in Deutschland hat im zusammenfassenden Berichtsdokument von "Christianity, Poverty and Wealth in the 21st Century" seinen Platz als bevorzugtes Zitat einer "befreienden Theologie" gefunden. Vergleichbare Zeugnisse aus anderen Kirchen waren in den Einzelstudien nicht aufgetaucht. So werden ausgerechnet die deutschen Kirchen, die wegen ihrer angeblichen Staatsnähe und dem schwer zu erklärenden Kirchensteuersystem in der Ökumene immer wieder kritisch beäugt werden, als Beispiel zitiert, wie eine kirchliche Lehre aussehen kann, die die befreiende Botschaft für die Armen aufnimmt.
Ist den christlichen Kirchen ihre vermeintliche Kernkompetenz - die Zuständigkeit für die Frage der Gerechtigkeit - im angehenden 21. Jahrhundert abhanden gekommen? Die neuere Bewegung der weltweiten Solidarität verzichtet ohne großes Federlesen darauf, die Kirchen aktiv zu umwerben. Das Weltsozialforum in Porto Alegre, das im Januar 2002 zum zweiten Mal zusammengetreten ist, verzeichnete die Kirchen weder als Mitveranstalter noch fanden sich bekannte Kirchenvertreter auf seinen Podien. Das hat weniger mit ideologischen Vorbehalten - die es zwar geben mag - zu tun, vielmehr werden die Kirchen außerhalb ihrer eigenen Zirkel offenbar kaum als "Stimme der Armen" wahrgenommen, die sie in ökumenischen Studiendokumenten doch so gerne sein wollen. Wer sich den Wandel bei den großen Themen der deutschen Kirchentage seit den achtziger Jahren vor Augen führt, muss das zugeben: Um die Frage der weltweiten Gerechtigkeit ist es in den christlichen Kreisen immer leiser geworden.
Dabei sind die Armen in der biblischen Tradition kein beliebiges Thema neben anderen. Sehr eindrucksvoll sind die Grundzüge einer "Soziallehre" im Buch Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, dargelegt. Deuteronomium steht am Anfang der Geschichtsbücher des Alten Testaments, die einen mehr als 700 Jahre umfassenden Bogen schlagen: vom Einmarsch des wandernden Volks in das Land Kanaan über die Zeit der Richter, die große Zeit Israels unter Salomo und David bis zur Teilung der Reiche, der babylonischen Gefangenschaft des verbliebenen Teilreiches Juda und dem mühevollen und gefährdeten Neuanfang unter Esra und Nehemia. Das Deuteronomium hat Grundgesetzcharakter. Dem Mose, der selbst das verheißene Land nicht betreten wird, es aber am anderen Jordanufer vor sich sieht, werden alle "Gesetze und Gebote und Rechte, die der Herr, euer Gott, geboten hat, dass ihr sie lernen und tun sollt in dem Land, in das ihr zieht, es einzunehmen" (5. Mose 6, 1) in den Mund gelegt.
Das historische Grunddatum ist die Knechtschaft, die das Volk in Ägypten hinter sich hat: "Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling ... Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf" (5. Mose 26, 5 f). Das theologische Grunddatum ist die Befreiung aus der Sklaverei: Gott charakterisiert sich als derjenige, der drückende Knechtschaft beendet: "Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft." (5. Mose 5, 6). Israel soll die drückenden Lebensverhältnisse in Ägypten niemals vergessen: "Du sollst daran denken, dass du Knecht in Ägypten gewesen bist und der Herr, dein Gott, dich von dort erlöst hat." (5. Mose 24, 18.22 unter anderem). Denn aus dem Gedanken an die eigene überwundene Knechtschaft leitet sich die Fülle der Regelungen ab, die verhindern sollen, dass nun in Israel selbst wieder eine recht- und besitzlose Schicht entstehen könnte. Dem Tagelöhner muss sein Lohn täglich ausgezahlt werden, der Witwe darf nicht das Letzte zum Pfand genommen werden. Die vulnerable groups (verwundbaren Gruppen), wie sie heute in der UN-Sprache heißen würden - Witwen, Waisen und Fremdlinge -, müssen die Möglichkeit haben, sich vom Ertrag der Felder mit zu nähren (5. Mose 24, 6-22). Das Deuteronomium beschreibt eindringlich und genau die sozialen Grundrechte, die die israelitische Gesellschaft allen jeweils im Land Wohnenden zu gewähren hat.
Allen, wohlgemerkt. Der "Fremdling", der Nichtisraelit, ist immer mit eingeschlossen. Die soziale Schutzpflicht erstreckt sich auch auf ihn, der - in einer agrarischen Gesellschaft außerhalb der Stämme- und Sippenordnung stehend - keinen Zugang zu Land hat. Er wird behandelt wie die israelitischen Witwen und Waisen, die ohne ein mündiges männliches Vollmitglied Bodenrechte nicht geltend machen können - wie übrigens auch die Leviten, deren priesterliche Aufgaben eine landwirtschaftliche Arbeit nicht zulassen. Sie alle bekommen Anteile am Zehnten.
Der Zehnte ist mithin keine "Kirchensteuer". Der Zehnte ist die jährlich zu entrichtende Sozialabgabe, die zentral über den Tempel eingezogen werden soll und auf Getreide, Wein, Öl und Vieh erhoben wird (5. Mose 14, 22 f). Ihre Darbringung ist mit einem Fest verbunden. Es soll dabei gefeiert, gegessen und getrunken werden. Es gehört also zum Gottesdienst in Israel, dass soziale Sicherungssysteme, die alle umfassen, funktionieren. Das Ziel: "Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein" (5. Mose 15, 4). Der gesetzgebende Mose des Deuteronomium ist so realistisch, dass er gleich darauf einschränkt: "Es werden aber allezeit Arme sein im Lande; darum gebiete ich dir und sage, dass du deine Hand auftust deinem Bruder, der bedrängt und arm ist in deinem Lande" (5. Mose 15, 11).
Wenn im christlichen Glauben sich die Verheißungen Israels der Ökumene, dem Weltkreis, öffnen, dann dürfte die Beteiligung am Nachdenken über eine Weltsozialordnung kein fremdes Thema für die Kirchen sein. Im Alten Testament ist sehr praktisch nachgedacht und formuliert worden, wie der Ausgleich zwischen denen, die Güter produzieren, und denen, die sich in einer potenziell ungesicherten Situation befinden, organisiert werden kann. Es kann also von der ökumenischen Familie erwartet werden, dass sie an der Meinungsbildung, wie die Frage von Armut und Reichtum weltweit angegangen werden soll, mitwirkt. Später im 21. Jahrhundert sollte einmal gesagt werden können: "Die Soziallehre der Kirche wird überall diskutiert."
aus: der überblick 02/2002, Seite 100
AUTOR(EN):
Jürgen Reichel :
Jürgen Reichel ist Referatsleiter für Entwicklungspolitischen Dialog im Inlandsressort des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED).