Erste Stellungnahme zu einem Grundsatzpapier von Brot für die Welt
Knapp 10 Jahre nach der Erklärung "Den Armen Gerechtigkeit" hat Brot für die Welt den lobenswerten Versuch einer erneuten Standortbestimmung unternommen. Anlaß war vor allem der Umstand, daß im letzten Jahrzehnt gravierende politische, ökonomische und soziale Veränderungen stattgefunden haben. Das Auseinanderbrechen des Ostblocks, das Ende der bipolaren Welt, die Globalisierung der Wirtschaft und damit auch die Veränderungen in den Ländern der Dritten Welt haben den Charakter des Nord-Süd-Konflikts verändert. Die Situation der Menschen in den Ländern der Dritten Welt hat sich nicht grundsätzlich gebessert, vielmehr ist das absolute Ausmaß von Armut und Marginalisierung gestiegen und ökologische Probleme haben weltweit zugenommen. Deshalb ist es kaum erstaunlich, daß die neue Erklärung von Brot für die Welt an der grundsätzlichen Orientierung und Zielsetzung festhält, die programmatisch auch in der Wiederaufnahme des Titels von 1989 ihren Niederschlag findet. Dennoch enthält das neue Papier interessante und mutige Akzentsetzungen und -verschiebungen.
von Paul Hell
Zwar steht nach wie vor die Projektarbeit im Vordergrund, ihr Stellenwert aber hat sich verändert. Sie ist eingebunden in einen komplexen Ansatz von Vernetzung, Bildung von Handlungsmacht, Einflußnahme auf die Rahmenbedingungen und gegebenenfalls grenzüberschreitenden Aktionsbündnissen. Der Wechsel zu einem prozeßorientierten Ansatz trägt der Erkenntnis Rechnung, daß soziale, auf Veränderung abzielende Prozesse einen mittel- bis langfristigen Zeithorizont haben, der eine verläßliche Partnerschaft und Begleitung braucht. Die Konsequenzen sind schwerwiegend. Sie setzen voraus, daß Brot für die Welt sich in eine "lernende Institution" verwandelt. Inwieweit die Voraussetzungen hierfür gegeben sind, läßt sich von außen nicht beurteilen, deutlich ist aber, daß die Umorientierung eine größere Intensität der Arbeit mit sich bringt und wahrscheinlich ein noch stärkeres Zugehen auf Partnerinnen und Partner aus der Zivilgesellschaft, um dem Bedarf an menschlichen Ressourcen gerecht zu werden.
Ein wichtiges Moment des Grundsatzpapiers ist die stärkere Betonung der Inlandsarbeit und der Verknüpfung von Innen und Außen. In einer zusammenwachsenden Welt sind diese Unterscheidungen zunehmend hinfällig, wenn auch nicht überflüssig, haben doch die Ursachen für die Marginalisierungsprozesse im Süden oft ihren Ursprung in den Produktions- und Konsumverhältnissen des Nordens. In diesem Sinne ist Entwicklungspolitik globale Strukturpolitik, die versucht, die Rahmenbedingungen so zu verändern, daß eine zukunftsfähige, selbstbestimmte Entwicklung im Norden wie im Süden möglich wird. Dieser Ansatz wird Brot für die Welt vor neue Herausforderungen stellen, denn er trägt die Konflikte des "fernen Nächsten" in unsere Gesellschaft und wird damit auf dividierende Interessenlagen stoßen. Dies bedeutet eine stärkere Politisierung der Arbeit, zweifellos ein mutiger Schritt, weil nicht nur die Frage der Macht in unserer Gesellschaft angesprochen wird, sondern auch die Konfliktfähigkeit der Kirchenstrukturen und die Bereitschaft der Unterstützerinnen und Unterstützer von Brot für die Welt, diesen Weg mitzugehen. Dieser Ansatz findet seinen Niederschlag in der Bestimmung der Handlungsfelder, die miteinander verbunden werden: Betonung der Stärkung der Verhandlungsmacht der Armen, Verwirklichung und Umsetzung der Menschenrechte, Veränderung der Geschlechterverhältnisse und Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
Betrachtet man die Erklärung aus dem Blickwinkel der gegenwärtigen entwicklungspolitischen Diskussion, so fällt auf, daß die Mechanismen und Dynamiken des gegenwärtigen Systems nicht analysiert werden, sondern daß man sich weitgehend auf eine deskriptive Beschreibung der Tendenzen und Herausforderungen beschränkt. Die Neuordnung des Internationalen Finanzsystems stellt heute eine der wesentlichen Herausforderungen dar, findet allerdings in dem Grundsatzpapier kaum oder nur verkürzt in der Frage der Schuldenregulierung und der Strukturanpassungsprogramme Berücksichtigung. Dabei sind vor allem die Armen die Opfer des gegenwärtigen internationalen Finanzsystems.
Zwar ist die Beobachtung richtig, daß die Handlungsmacht von Politik abnimmt, dies aber weniger wegen des willentlichen Rückzugs des Staates aus verschiedenen Politikfeldern, als vielmehr aufgrund der Tatsache, daß die Globalisierung der Finanzmärkte der klassischen staatlichen Konjunktur- und Beschäftigungspolitik enge Grenzen setzt und die öffentliche Hand insgesamt zu immer mehr Zugeständnissen gegenüber dem Kapital zwingt. Die Wiederherstellung der Politikfähigkeit in einer globalisierten Welt erfordert einen Ansatz, der unter dem Stichwort "Global Governance" in die politische Diskussion eingeführt worden ist, also die Formulierung und Durchsetzung von verbindlichen internationalen Regeln für die Weltgesellschaft. Dies ist mehr als nur die Einflußnahme auf die internationalen Handels- und Finanzinstitutionen, die im Papier angesprochen wird.
Trotz dieser Defizite ist die Grundsatzerklärung eine tragfähige Basis für das Handeln in einer komplexer gewordenen Welt. Bleibt allerdings die Frage nach der eigenen Glaubwürdigkeit. Eine Organisation, die sich vehement für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter und für die Stärkung der Verhandlungsmacht der Armen einsetzt, sollte ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften klären, aber die tauchen in dem Papier nicht auf. Bezeichnenderweise war zu der Podiumsdiskussion, in der das Papier der öffentlichkeit vorgestellt wurde, niemand aus den Gewerkschaften eingeladen. Sicherlich würde das berechtigte Eintreten für die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Organisationen weltweit an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn man auch hier aufeinander zugehen würde.
aus: der überblick 01/2000, Seite 118