Eine Chance für die Kinder von "Vila da Barca"
In Belem im Norden Brasiliens setzen sich nichtstaatliche Initiativen für Kinder in Slumvierteln ein. In einer dieser Initiativen, einer Kirchengemeinde, arbeitet Schwester Beate Böhnke mit. Die Sozialpädagogin hat sich als Zwanzigjährige der Schwesternschaft des "Friedenshortwerkes" angeschlossen, die besonders in der Kinder- und Jugendarbeit ihre Aufgabe sieht. Vor anderthalb Jahren hat sie sich vom EED nach Belem vermitteln lassen. Zuvor hatte sie 13 Jahre in der Kindernothilfe in Duisburg zunächst das Referat Brasilien und dann die Arbeit im Lateinamerika geleitet.
von Bernd Ludermann
Schwester Beate Böhnke, Sie arbeiten in Belem in einem Armenviertel mit Kindern...
Ja, in der "Vila da Barca" mit Kindern, Jugendlichen und Familien, die aufgrund ihrer Lebenslage sehr gefährdet sind. Sie leben unter menschenunwürdigen Bedingungen, auf den Straßen und vom Abfall, und riskieren jeden Tag ihr Leben.
Wie muss man sich die Zustände in dem Stadtteil vorstellen?
In der "Vila da Barca" leben mehr als dreitausend Familien, die ihre Häuser - besser gesagt ihre Holzbaracken - in das fast stehende Wasser eines Flusses im Amazonasdelta gebaut haben. Unter den Hütten ist eine einzige Kloake, die ständig mit dem Wasserspiegel steigt und fällt. Eine Infrastruktur mit regulärer Wasser- und Stromversorgung fehlt. Wir sind sehr froh, dass wir jetzt endlich eine Gesundheitsstation bekommen haben, wo Kranke, die dringend einen Arzt brauchen, hingehen können.
Die Kinder sind von Krankheiten sehr gezeichnet. Viele haben Würmer oder Ungeziefer; sie trinken Schmutzwasser und werden dadurch infiziert. Manche haben Wunden, die nicht behandelt sind. Auch Aids-infizierte Jugendliche und misshandelte Kinder sind dabei. Einige Mädchen versuchen früh, mit Prostitution Geld zu verdienen. Diese Kinder sind eigentlich Überlebenskünstler. Aber im kognitiven Bereich haben sie keine Anregungen und können ihre Fähigkeiten nicht entwickeln. Ihre Chance, regelmäßig eine Schule zu besuchen, ist gering. Wir versuchen ihnen begriffliches Denken zu vermitteln, wenn wir zum Beispiel einen Drachen bauen. Beim Abmessen, Schneiden und Kleben entwickeln sie die Vorstellung von Zahlen und Mengen.
Wie versuchen Sie, den Kindern zu helfen?
Zunächst haben wir einfach angefangen, sie zu treffen, mit ihnen zu sprechen und uns zeigen zu lassen, was sie können, welche Fertigkeiten sie haben. Zum Beispiel, wie sie Fische fangen und sie braten. Wir zeigen ihnen dann, wie sie ihr Wasser schützen können - zum Beispiel, wie lange ein Lappen, also Abfall, den man in das Wasser wirft, dort bleibt. Wir bieten ihnen einen Raum, wo die Kinder Musik hören und machen können. Wenn sie es spannend finden, erzählen wir ihnen Geschichten, oder wir hören zu, was sie zu erzählen haben. Zuhören oder Malen fördert ihre Konzentrationsfähigkeit. Ich habe mit vier Kästen Buntstiften angefangen, die Kinder zum Malen anzuregen. Bis heute fehlt davon kein einziger Stift. Die Buntstifte sind nur kürzer geworden. Ich glaube, das würde mir an keiner Schule in Deutschland passieren. Selbst die Kinder, die sonst alles mitgehen lassen, um etwas zum Unterhalt der Familie beizusteuern, achten diesen Ort so sehr, dass bis heute kein Stift fehlt.
Wie alt sind die Kinder, die zu Ihnen kommen?
Zu den Treffen dürfen grundsätzlich alle kommen. Es kommen sehr junge, aber auch dreizehn- und vierzehnjährige; manche bringen zwei- und dreijährige Geschwister, auf die sie aufpassen müssen, auf dem Arm mit. Ich achte immer darauf, dass auch Kinder mit Behinderungen kommen können. So sind immer einige Kinder dabei, die nicht hören oder sprechen, sich aber noch bewegen können. In dem Viertel gibt es auch Kinder mit schweren Behinderungen, die nicht gehen können und ein sehr schwieriges Leben führen; die besuchen wir zu Hause.
Welche Chancen haben die Kinder, diesen Zuständen zu entkommen?
Wenige. Ich spreche nicht gern von hoffnungslosen Fällen, aber angesichts der hohen Arbeitslosigkeit dort, der Probleme mit Drogen, Aids und Alkohol und des frühen Sterbens sieht es düster aus. Wer nicht mindestens ein bisschen lesen und schreiben kann, so dass er eine Zeitung verstehen kann oder lesen, wie er ein Medikament einnehmen muss, der hat fast keine Chance. Daher möchten wir auch die Arbeit ausweiten, um ihnen den Zugang und die Teilnahme am Schulunterricht zu verschaffen - und dies in Zusammenarbeit mit den Schulen. Die Lehrer sollen ein Augenmerk auf diese Kinder haben, statt sie nur dabeisitzen zu lassen, so dass sie doch nichts lernen und nach zwei oder drei Mal Sitzenbleiben nicht mehr kommen.
Gibt es in der "Vila da Barca" eine Schule?
Nein. Aber man kann von dort aus eine Schule besuchen. Mit den Verantwortlichen der Gemeinde und der Schule haben wir vereinbart, dass die Kinder dort hingehen können. Viele Kinder gehen unregelmäßig oder gar nicht zur Schule - wie viele genau, weiß niemand.
Wie ist die Zusammenarbeit mit den Schulbehörden?
Die sagen erst mal, das ist schön, wenn Ihr diese Arbeit macht. Die meisten Lehrkräfte sind überfordert, schlecht bezahlt und überlastet. Viele arbeiten an zwei oder drei Schulen am Tag, um ein Einkommen für sich und ihre Familien zu sichern.
Welche einheimische Gruppe trägt die Arbeit mit den Kindern in der "Vila da Barca"?
Eine kleine, junge lutherische Gemeinde im Stadtteil Pedreira in Belem. Sie ist sehr engagiert und sieht ihre Aufgabe im sozialen Einsatz und auch in der ökumenischen Arbeit. Diese Gemeinde ist mein Anstellungsträger. Sie wird selbst von Armen getragen, es ist keine reiche Gemeinde. Die Pfarrstelle wird im Moment noch von der lutherischen Kirche Brasiliens bezuschusst, die ihrerseits aus Deutschland unterstützt wird.
Welches Verhältnis hat die Initiative zu den Behörden der Stadt?
Die Stadtregierung wird von der Arbeitspartei geführt. Sie möchte solche Initiativen unterstützen; die Gesundheitsstation in der "Vila da Barca" wurde von der neuen Stadtregierung eingerichtet. Aber der Stadt fehlen die Mittel. Und die PT regiert in Belem nicht allein und hat nur eine knappe Mehrheit.
Worin besteht Ihr besonderer Beitrag als ausländische Fachkraft?
Zunächst lerne ich selbst sehr viel. Zum Beispiel, dass Menschen einen Wert haben, auch wenn sie nichts besitzen, und dass sie darum wissen und dafür kämpfen. Wir können von den Kirchen Brasiliens lernen, franziskanischer zu denken, das heißt mit den Armen. Der Gottesdienst in Pedreira ist nicht frontal, sondern wir sitzen im Kreis, und wer etwas zu sagen hat, der sagt es. Ich bringe meinerseits Erfahrungen aus der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland und aus der Auslandsarbeit der Kindernothilfe mit. Ich habe in Deutschland schon mit auffälligen Kindern und Jugendlichen gearbeitet und Konzepte der Jugendarbeit mit entwickelt. Diese Erfahrungen helfen mir in der Zusammenarbeit mit Initiativen und nichtstaatlichen Gruppen wie der Gemeinde Pedreira. Es ist uns wichtig, die Basisarbeit zu verknüpfen mit dem Einsatz im politischen und wissenschaftlichen Bereich.
Welche Art Einsatz? Versteht sich die Gemeinde von Pedreira als Anwalt zum Beispiel für Sozialprojekte?
Das kann man so sagen. Die kleine lutherische Gemeinde versucht, in verschiedenen Gremien Sprachrohr der Armen, der Kinder und Frauen zu sein. Wir wollen auch Menschen helfen, ihre Rechte durchzusetzen. Es fehlt in Brasilien ja nicht in erster Linie an sinnvollen Gesetzen; das Land hat zum Beispiel ein recht vernünftiges Kinder- und Jugendrecht. Aber Gesetze müssen durch die Rechtsprechung erhärtet werden, sonst stehen sie nur auf dem Papier. Wir müssen dazu beitragen, dass das Recht auch durchgesetzt wird.
Wie macht die Gemeinde das?
Wir versuchen Menschen, die sich einsetzen, die kämpfen und solidarisch sind, darin zu bestärken und ihnen bewusst zu machen, welche Rechte sie haben. Zum Beispiel, dass auch Kinder mit Behinderungen Rechte haben und mehr können als einfach nur dasitzen. Wir unterstützen auch die Bewegungen der Landlosen in den Randgebieten Belems oder die Bewegung der Obdachlosen, zum Beispiel in Konflikten mit der Polizei, bei Kampagnen oder wenn sie Gerichtsverfahren anstrengen. Einmal haben wir mehrere Menschen, die nach einer Landbesetzung auf Betreiben des Großgrundbesitzers verhaftet worden waren, aus dem Gefängnis freibekommen. Auf dem Rechtsweg allein hat das allerdings nicht funktioniert, wir mussten Druck aus dem Ausland zu Hilfe holen.
Und was meinen Sie mit Einsatz in der Wissenschaft?
In Belem haben sich drei Universitäten zusammengetan und koordinieren Forschungsvorhaben und Untersuchungen im Kinder- und Jugendbereich, um sie für die Praxis fruchtbar zu machen. Daran arbeite ich mit. Die jüngste Untersuchung behandelt häusliche Gewalt gegen Mädchen, eine neue Studie über Prostitution und sexuellen Missbrauch ist in Arbeit, und ich möchte mich dafür einsetzen, dass auch die Lage von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung untersucht wird. Dadurch soll ein Bewusstsein für die Probleme geschaffen werden.
Wie blicken die gut gestellten Brasilianer auf Ihre Arbeit?
Den Zugang zu Bessergestellten haben wir so richtig noch nicht gefunden. Vielleicht haben wir das noch nicht richtig angefangen, aber ich denke, es ist auch recht schwer. Manche Begüterte sagen, solche Not gibt es in Brasilien gar nicht. Dabei sind die Wohnviertel von Arm und Reich nicht getrennt, man begegnet der Armut vor der Haustür. Aber wahrscheinlich sieht man mit der Zeit die Dinge, an die man sich gewöhnt hat, nicht mehr.
aus: der überblick 04/2002, Seite 134
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".