Wie sich die Ideale in China gewandelt haben
Kleine Unebenheiten gibt es noch, aber sonst ist Hao Lulu nahezu perfekt: Ihre Augen sind rund, die Lippen voll. Ihr Kinn ist herzförmig, der Nasenrücken schmal, der Nacken faltenlos, die Waden sind schlank. Die vergrößerten Brüste wippen. Aus Bauchdecke, Schenkeln und Po wurde Fett abgesaugt. Vierzehn Operationen hat die 25-jährige Chinesin im Jahr 2003 hinter sich gebracht. Nun ist sie berühmt: Als Heldin des Beauty Dreamworks-Projekts der Pekinger Schönheitsklinik Evercare, die den chirurgischen “Umbau” der jungen Frau für rund 30.000 Euro als Teil einer Werbekampagne finanziert hat, ist ihr Gesicht in allen Zeitungen zu sehen - vorher, nachher. Auch das Fernsehen stellte sie vor.
von Jutta Lietsch
Es sieht so aus, als ob mit Chinas Öffnung zur übrigen Welt in den letzten fünfundzwanzig Jahren alle gesellschaftlichen Maßstäbe durcheinander gewirbelt worden seien: Seit die Kommunistische Partei das Land nach dem Tode Mao Zedongs in ein beispielloses wirtschaftliches Experiment gestürzt hat, ist aus Schönheit eine Ware und “menschengemachte Schönheit” ein Schlagwort geworden. Im neuen Kapitalismus scheint nichts mehr unmöglich. Im rauen Konkurrenzkampf um Anerkennung, Karriere, Geld und Liebe ist auch die äußere Erscheinung zur Waffe geworden. Wer nicht in der Masse der 1,3 Milliarden Landsleute untergehen will, muss bereit sein, unter Einsatz aller Kräfte zu versuchen, an den anderen vorbeizuziehen. Immer mehr Frauen - und zunehmend auch Männer - legen sich deshalb auf den Operationstisch, um zu vollkommener Schönheit zu gelangen.
Niemand hat es bisher so extrem getrieben wie die Pekingerin Hao Lulu: In einem Land, in dem die Menschen durchschnittlich nicht mehr als 1000 Euro im Jahr verdienen, kann sich nur eine winzige Minderheit solche enormen Ausgaben leisten. Die meisten, die sich in eines der zahllosen Schönheitsinstitute begeben, wünschen sich rundere Augen, einen schmalen Nasenrücken oder Grübchen. Nicht selten sind westliche Frauen Vorbild. Schmale Augen, hohe Wangenknochen und kleine Busen hingegen gelten bei vielen Chinesinnen als wenig attraktiv. Wer mehr zahlen kann, lässt sich liften, das Fett absaugen, oder die Brüste mit Silikon und Eigenfett vergrößern.
Zur Schönheit gehören lange Beine. Davon war die 24-jährige Finanzmanagerin Monika Guo stets überzeugt. Seit ihrer Teenagerzeit hat sie darunter gelitten, nur 150 Zentimeter zu messen und “immer übersehen” zu werden: “China ist riesig - und es gibt so viele Leute, die größer sind als ich. Wenn man in der Schlange steht, um sich für einen Job zu bewerben, werden immer nur die herausgepickt, die herausragen”, klagt sie. Selbst ihre exzellenten Universitätsexamen und guten Englischkenntnisse halfen nicht. Sogar in der Liebe fürchtete sie, zweite Wahl zu bleiben: “Männer wollen große Frauen.” Deshalb fasste sie im Sommer 2003 einen folgenschweren Entschluss: Sie wollte künstlich an Länge gewinnen. Abwegig oder gar unmöglich schien ihr diese Idee nicht, denn chinesische Chirurgen verlängern Beine schon seit Jahren. In der Zeitung hatte sie davon gelesen, und “nach ausführlicher Recherche im Internet fand ich mehrere Chirurgen in verschiedenen Städten, die das anbieten”.
Sie entschied sich für die Xinhua-Klinik in Hangzhou, die an die Hochschule der ostchinesischen Stadt angeschlossen ist. In der orthopädischen Abteilung im sechsten Stock arbeitet einer der Pioniere auf dem Feld der kosmetischen Operationen: der 58-jährige Dr. Zhang Wanzhong, der seit Ende der siebziger Jahre bereits Hunderte von Beinen verlängert hat. Waren es anfänglich Unfallopfer oder Patienten mit Geburtsfehlern, die seine Hilfe suchten, sind es inzwischen immer mehr gesunde junge Leute, die sich in seinem Sprechzimmer einfinden. Auf 20 bis 30 Beinverlängerungen kommt er inzwischen jährlich: “Die Frauen sind unglücklich, wenn sie kürzer als 150 Zentimeter sind. Die Männer finden sich mit 160 Zentimetern viel zu klein”, meint der Chirurg verständnisvoll. Freundlich und etwas zerstreut durchforstet er einen dicken Stapel Röntgenbilder nach geeigneten Beispielen für geglückte Unterschenkelverlängerungen: Die meisten Patienten waren weiblich - die jüngste dreizehn, die älteste vierzig Jahre alt. Einen Grund dafür, ihre Bitte zu verweigern, sieht Dr. Zhang nicht. “Wenn sie es wollen, dann tue ich es. Jeder hat heute das Recht zu entscheiden, was er aus seinem Leben machen will”, betont er. Nur wenn er fürchtet, sein Patient könne für die langwierige Prozedur zu labil sein, zieht er einen Psychologen zu Rate.
Der Eingriff beruht auf dem Versuch, die Natur zu überlisten: Nachdem der Arzt die Knochen durchgesägt hat, soll der Körper Knochenmasse produzieren, um die Lücke zu füllen. Deshalb bekommen die Patienten nach der Operation am durchgesägten Schienbein ein Stahlgerüst verpasst. Jeden Tag müssen sie an einem Schraubengewinde drehen, um die Schnittstellen auseinander zu ziehen. Monika Guo gehörte nicht zu den unsicheren Kandidatinnen. Als die junge Frau sich ins Bett Nr. 26 des Krankenzimmers legte, um zehn Zentimeter zu wachsen, wusste sie, was auf sie zukommen würde: “Ich werde einige Monate lang sicher große Schmerzen haben”, sagte sie am Tag vor der Operation am 30. September 2003. “Aber lieber ein Jahr lang leiden, als ein ganzes Leben lang unglücklich zu sein.” Weil der Preis für die Operation mit 30.000 Yuan (rund 3000 Euro) im internationalen Vergleich günstig ist, kommen inzwischen auch Anfragen aus dem Ausland. Einige Patienten finden sich sogar zum zweiten Mal ein - um die Prozedur am durchgesägten Oberschenkel zu wiederholen und noch ein Stückchen zuzulegen. “Pro Bein brauche ich nur eine Stunde im Operationssaal”, erklärt der Mediziner Zhang.
Der verzweifelte Wunsch nach zusätzlichen Zentimetern hat neben der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper einen ernsten Hintergrund: Viele Arbeitgeber verlangen von Bewerbern eine Mindestgröße. Das trifft keineswegs nur auf Glamourberufe wie Fotomodell und Mannequin zu. Bei Behörden und sogar im diplomatischen Dienst gelten Frauen unter 150 und Männer unter 160 Zentimeter als “nicht qualifiziert”. Die 36-jährige Sängerin Wang Xiaomei durfte nicht am Spracheninstitut von Peking studieren: “Sie sagten mir, ich sei zu klein.” Als die 34-jährige Chen Lin, die seit acht Jahren mit Zeitverträgen bei der Steuerverwaltung von Shenzhen gearbeitet hatte, ihre Eingangsprüfung für die Festanstellung erfolgreich bestanden hatte, erhielt sie trotzdem eine Absage: Mit 147 Zentimetern Körpergröße sei sie für den Staatsdienst “nicht geeignet”, hieß es. Das Gericht von Shenzhen wies ihre Klage Anfang dieses Jahres zurück. “Solche Diskriminierung ist eigentlich nicht erlaubt”, beurteilt das eine Pekinger Juristin. “Aber in der Praxis gibt es Grauzonen.” Die Körpergröße ist in China mittlerweile nur eines von vielen Auslesekriterien, die von den Betroffenen als schreckliche Ungerechtigkeit empfunden, vom Rest der Bevölkerung aber schulterzuckend hingenommen werden. “Wer zu klein ist, hat keine gute Außenwirkung”, erklärt sich eine Mitarbeiterin des Außenministeriums die Größenregel. Der vor hundert Jahren geborene Deng Xiaoping, nach Mao Zedong einflussreichster Politiker Chinas, hätte mit seinen 150 Zentimetern heute wenig Chancen gehabt: “Die Zeiten haben sich geändert”, fasst Finanzmanagerin Monika Guo zusammen, “es reicht nicht mehr aus, klug und begabt zu sein.”
Das Geschäft mit der richtigen “Außenwirkung” hat sich inzwischen zu einem ansehnlichen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Niemand weiß, wie viele Chinesen sich mittlerweile in offiziellen Kliniken oder Hinterhof-Instituten unters Messer begeben. Viele bezahlten einen zu hohen Preis: In den letzten zehn Jahren, schätzen Experten, haben rund 200.000 Patienten Klage eingereicht, weil die Operation ihrer Ansicht nach misslang. Kein Wunder: Nur eine Minderheit der Praktiker, die mit Sägen, Skalpellen und Absauggeräten hantieren, hat eine fundierte medizinische Ausbildung. Fast neunzig Prozent der rund zwölf Millionen Mitarbeiter in den 1,5 Millionen “Schönheitsinstituten” des Landes sind Quacksalber, die niemals einen Lehrsaal von innen gesehen, ergab unlängst eine Studie der Regierung. Denn es fehlt an staatlicher Aufsicht, die Vorschriften sind vage, Korruption ist weit verbreitet.
In wohl keinem anderen Land der Welt haben sich Lebensgefühl und die Einstellung zur Schönheit so gründlich verändert wie in China nach dem Ende der Ära Mao Zedongs. Der Bruch zwischen den Generationen könnte kaum größer sein. Als die Eltern der neuen Schönheiten noch jung waren, rollte in den sechziger und siebziger Jahren die “Große Proletarische Kulturrevolution” über das Land: Was an die alte Kultur und “bourgeoise” Vergangenheit erinnerte, sollte ausgelöscht werden. Der ideologische Fundamentalismus jener Zeit durchdrang alle Lebensbereiche - und suchte das Volk nach einem einzigen, festgelegten Menschenbild zu formen. Alte Vorstellungen, nach denen die ideale Frau zierlich, bescheiden und porzellanhäutig zu sein hatte, überdies kleine Füße besitzen musste, um das erotische Vergnügen der Männer zu steigern, sollten ein für allemal verschwinden. In den revolutionären Filmen galten geschminkte Frauen mit bunten Kleidern als Prostituierte. Soldatinnen, Bäuerinnen und Arbeiterinnen in Werkskluft waren die Heldinnen der Propaganda. Auf den Postern und in Filmen erschienen sie im Einheitslook: rotwangig, kernig, gesund, furchtlos und kräftig - ohne jeden Schick und ohne jede Individualität.
Tabu waren Kleider, Röcke und feminine Rundungen: Viele Chinesinnen umwickelten ihre Brust jeden Morgen straff mit einem breiten Stoffstreifen, damit ihr Busen möglichst flach erschien. Schauspielerinnen, die von Berufs wegen eine Dauerwelle brauchten, mussten sich für den Gang zum Friseur eine Sondergenehmigung besorgen. Frauen, die sich dennoch schminkten oder betont weiblich kleideten, waren plötzlich “politisch unzuverlässig”. Als “Blumenvasen” wurden auf schöne Kleidung bedachte Genossinnen bezeichnet - “schön und hohl”. Aus Angst davor, von den Roten Garden als “dekadent” denunziert zu werden, wagte die Mutter der heute 50-jährigen Pekingerin Li Meihua in den sechziger Jahren nicht einmal mehr, ihre geliebten bunten Seidenblusen als Futter in den wattierten Mantel einzunähen: “Sie hatte panische Angst davor, kritisiert zu werden”, berichtet Li. “Deshalb zerschnitt sie den guten Stoff und warf ihn heimlich weg.”
Die Pekinger Journalistin Zhao erinnert sich an ihre Jugend in den sechziger Jahren: “Als 16-Jährige trug ich stolz Militärkleidung. Sie war für uns Symbol für Emanzipation und Revolution.” Die erste Begeisterung hielt nicht lange an: Bald hatte Zhao den Zwang zur grünen, blauen oder grauen Uniform satt und wollte nicht mehr nur zwischen Bubikopf-Frisur und Rattenschwänzen wählen. Ende der siebziger Jahre - es war nach Maos Tod - hielt sie es nicht mehr aus. Sie kaufte sich eine der ersten roten Jacken, die wieder in den Geschäften zu sehen waren. “Das war ein Gefühl der Befreiung”, ist ihr bis heute fest in Erinnerung. Als die ersten ausländischen Filme wieder gezeigt werden durften, konnte sie sich nicht satt sehen an den Streifen aus den Traumfabriken Amerikas und Europas, die “von schönen und reichen Menschen mit schönen Kleidern, schönen Wohnungen und schönen Autos” erzählten. Für die Kinder dieser Generation, die nach der Kulturrevolution aufwuchsen, sind solche Erinnerungen Geschichten aus grauer Vorzeit. Nicht nur chinesische Werbeagenturen, Schönheitssalons, Mode- und Kosmetik-Unternehmen, sondern auch ausländische Konzerne kämpfen mittlerweile um Gunst und Geld der neuen Mittelschicht in China. Diese Käuferschaft ist zwar nur ein kleiner Teil der 1,3 Milliarden - wird inzwischen aber schon auf rund zweihundert Millionen geschätzt.
Kein anderer Markt entwickelt sich so rasant, nirgendwo sonst wächst die Bereitschaft derartig, nach dem Kauf einer eigenen Wohnung, eines Autos und einer Urlaubsreise viel Geld für die Schönheit aufzuwenden: Um rund zwanzig Prozent steigen jedes Jahr die Umsätze beim Verkauf von Kosmetika und ähnlichen Produkten, 160 Milliarden Yuan (rund 16 Milliarden Euro) gaben die Chinesen im vergangenen Jahr für Schönheits- und Pflegeprodukte aus. So kaufte der französische Kosmetik-Gigant L’Oréal kürzlich die Shenzhener Marke “kleine Krankenschwester” auf, die 280.000 Verkaufsstellen in ganz China besitzt. Japanische Konzerne wie Shiseido und die US-Unternehmen Procter&Gamble und Avon versuchen ihre Präsenz im Reich der Mitte stark auszuweiten. Frauenzeitschriften aus den USA, Europa und Japan wie Cosmopolitan, Marie-Claire, Elle, Harper’s Bazaar oder Vogue bringen chinesische Ausgaben auf den Markt. Die Werbeseiten füllen bekannte Kosmetika- und Mode-Marken von Dior über Shiseido, Prada und Luis Vuitton. Während auf der Titelseite der August-Ausgabe der chinesischen Cosmopolitan die populäre Schauspielerin Zhang Ziyi zu sehen ist, posieren im Innenteil ebenso viele westliche wie chinesische Fotomodelle. Wie hoch die Auflage dieser Hochglanz-Zeitschriften ist, die als Boten der globalisierten Traumwelten an den Kiosken der wohlhabenden Stadtviertel von Metropolen wie Peking, Shanghai und Kanton für 20 Yuan (rund zwei Euro) zu kaufen sind, verraten die Verlage nicht. Bei Cosmopolitan heißt es auf Nachfrage: “Betriebsgeheimnis.”
Die vor allem bei jüngeren städtischen Frauen populäre Frauenzeitschrift Rayli, hinter der ein japanischer Konzern steht, richtet sich an Japan und Südkorea aus, deren Mimen, Musiker und Modelle in China ebenso beliebt sind wie westliche Vorbilder. Wenn in Seoul Strähnchenhaare und bestimmte Tätowierungen en vogue sind, werden sie schnell in Peking kopiert. Wie in ihren ausländischen Schwesterpublikationen rahmen Artikel mit Klatsch, Mode- und Schminktipps, Lebens- und Liebeshilfe und Quizfragen die Anzeigenstrecken ein - mit den gleichen Widersprüchen wie im Rest der Welt. Während in den Modeanzeigen spindeldürre Mädchen und Knaben teure Fummel vorführen, sich auf schicken Sofas und schnellen Autos räkeln, warnen Artikel im redaktionellen Teil vor “Ernährungsfehlern, die alle Frauen machen” - beispielsweise zu ungesund zu essen, übermäßig Schlankheitsidolen nachzueifern oder gar zu viele Appetitzügler und massenweise Abführmittel zu schlucken.
Eine schöne Chinesin hat eine möglichst helle Haut: Das alte Sprichwort “Yi bai zhi bai chou” - etwa: “Wer weiße Haut hat, dem werden hundert Makel verziehen” - gilt bis heute. Deshalb sind Bleichcremes wie überall in Asien populär. Rund die Hälfte aller Chinesinnen, fanden Marktforscher heraus, reiben Weißmacher in ihre Haut ein. Die Vorliebe für weißen Teint ist in China kein neuer Trend und auch nicht erst mit westlichen Schönheitsidealen ins Land gekommen. Schon in alten Zeiten galt es als erstrebenswert und prestigeträchtig, möglichst bleich auszusehen - als Zeichen der Zugehörigkeit zu privilegiertem Stand. Dunkle Haut verriet, dass man seinen Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit auf dem Feld verdienen musste. Wohlhabende Chinesinnen schluckten zermahlene Perlen, um heller zu werden, und mieden Sonnenschein seit je wie die Pest. Dies ist zweifellos gesünder als die tausendfach überhöhte Dosierung von Quecksilber in manchen Salben, die heute in chinesischen Labors produziert werden.
Wer ist die Schönste im ganzen Land? Als Teil der großen Werbe-Offensive veranstalten die Chinesen inzwischen auch Miss-Wahlen. Noch vor drei Jahren war dies offiziell tabu. Wenig später, im Jahr 2003, baute die Stadt Sanya auf der südchinesischen Tropeninsel Hainan ein Veranstaltungszentrum mit dem Namen “Krone der Schönheit”. Im kommenden Jahr soll hier bereits zum zweiten Mal die schönste Frau der Welt ausgeguckt werden. Das wird, so hoffen die Funktionäre von Sanya, endlich massenhaft Touristen anziehen. Fast jede größere Stadt hat inzwischen ihre Miss-Wahlen. Nach Operationen für 110.000 Yuan (rund 11.000 Euro) bewarb sich die achtzehnjährige Yang Yuan im Frühjahr 2004 zur Teilnahme an der Wahl zur “Miss Peking”. Als sie wegen der künstlichen Verschönerungen nicht antreten durfte, witterten geschäftstüchtige Manager von Schönheitskliniken ihre Chance und kündigten die erste Wahl zur “Miss Kunstschönheit” an.
Viele Chinesen schauen mit gemischten Gefühlen auf den Drang zur Schönheit. Für sie ist das Pendel der Geschichte nun ins andere Extrem ausgeschlagen. Gestandene Frauenfunktionärinnen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, weil so viele Chinesinnen bereits in die Falle der hübschen Hausfrau getappt sind, die ihre Unabhängigkeit und Karriere aufgibt. Andere sehen die Entwicklung gelassener: “Ich finde, Schönheit muss von innen kommen und natürlich sein”, kommentiert die Pekinger Sängerin Wang Xiaomei, “aber jeder soll das Recht haben, selbst zu entscheiden, was er tut.” Als die Chefin des offiziellen “All-Chinesischen Frauenverbandes” kürzlich gegen die Vermarktung der Frauenkörper durch die Werbe-Industrie wetterte, die Frauen zu “Blumenvasen und Spielzeugen” erniedrige und damit ihre “Unabhängigkeit” gefährde, erhielt sie eine ungewöhnlich deutliche Abfuhr von der prominenten Chirurgin Shi Sanba: Schönheitsoperationen seien vergleichbar mit dem Gang zum Frisör. “Unsere Gesellschaft hat sich so weit entwickelt, dass sich viele Leute eine kosmetische Operation leisten können, und deshalb sollte auch die Einstellung liberaler und toleranter werden”, erklärte Shi.
Für die Kunstschönheit Hao Lulu hat sich ihre Berühmtheit inzwischen ausgezahlt. Der erste Schritt zur ersehnten Karriere als Schauspielerin ist gemacht. Sie hat gerade ihren ersten Film abgedreht. Titel des Streifens: “Spionageaffäre in der Geisterstadt”. Nicht so viel Glück hatte die Finanzmanagerin Monika Guo: Ihr Ziel, zehn Zentimeter dazu zu gewinnen, schaffte sie nicht. Nach sieben Zentimetern brach sie ihre Pein ab. Mit Schrecken denkt sie heute an die Zeit auf dem Krankenlager zurück: “Ich wusste ja gar nicht, wie schlimm Schmerzen sein können. Ich habe geschrieen und alles bereut - aber es war zu spät. Ich konnte ja nicht zurück, sondern musste jeden Tag weitermachen.” Ein Jahr liegt ihre Operation zurück. Mittlerweile kann sie wieder zwei Stunden am Tag ohne Krücken gehen. “Im nächsten Jahr werde ich wieder joggen können”, hofft sie. Einen Job, der ihr allerdings keinen rechten Spaß macht, hat sie inzwischen gefunden, weil ihre Eltern ihre Beziehungen spielen ließen. “Wenn mich jemand fragt, was mit meinen Beinen los ist, sage ich, es war ein Unfall”, bekennt sie. Immerhin sind ihre Knochen gerade zusammengewachsen. Andere Patienten, berichtet Guo, “mussten immer wieder zurück und sich nachoperieren lassen”. Zehn Kilo hat sie bei der Quälerei abgenommen. Wenigstens eines hat Guo erreicht: “Meine Mutter findet mich jetzt schön.”
Passanten in PekingAnsichtssachenYu Fen, 21, Verkäuferin für Kreditkartenablesegeräte: “Ich finde weiße, zarte Haut schön. Ich wünschte, ich wäre dünner und hätte eine bessere Haut. Es reicht aus, wenn man gleichmäßige Züge hat, zum Beispiel mittelgroße Augen, eine schmale Gesichtsform, lange Wimpern.” Tony, 31, Werbekaufmann: “Es gibt zwei Arten von Schönheit. Die eine Sorte hat große Augen und wohlproportionierte Gesichtszüge. Die andere hat kleine Augen, eine schmale und zierliche Nase und ein ovales Gesicht. Ich persönlich ziehe die traditionelle chinesische Schönheit vor: Das heißt, sie sollte nicht sehr groß sein und weniger als 55 Kilogramm wiegen. Ich mag sowohl cremefarbene als auch weiße Haut. Mädchen sollten nicht zu viel Schminke tragen, ich liebe natürliche Schönheit.” Zhang Yunfang, 25, Verkäuferin: “Eine schöne Frau sollte große Augen, schmale Brauen, einen hohen Nasenrücken, und volle und runde Lippen habe. Ich habe noch nie daran gedacht, irgendwas an mir zu verändern, weil ich mit mir zufrieden bin. Ich gebe für meine Schönheit im Monat 300 bis 400 Yuan aus (30-40 Euro).” He Zitong, 24, Verkäuferin: “Die Haut sollte weiß und zart sein. Die Augen groß und die Lippen voll und rund. Ich finde westliche Schönheit am besten, sie sollte groß und schlank sein. Ich gebe im Monat 10 bis 20 Euro für Kosmetika aus.” Li, 30, Sachbearbeiterin: “Ich ziehe weiße Haut und eine traditionelle östliche Schönheit vor. Ich bin mit meinem Aussehen zufrieden, und gebe etwa 60-70 Euro pro Monat für Gesichtspflege aus.” Zhang, 30, Angestellte: “Ich mag westliche Schönheit und ein sexy Aussehen. Ich finde mich o.k., aber ich wäre gern dünner.” jl |
aus: der überblick 04/2004, Seite 17
AUTOR(EN):
Jutta Lietsch:
Jutta Lietsch ist freie Journalistin und lebt als Auslandskorrespondentin in Peking, Volksrepublik China.