Was die Millenniums-Entwicklungsziele bedeuten
Zu Eveline Herfkens Aufgaben gehört es, die acht Millenniumsentwicklungsziele publik zu machen. Sie reist von Land zu Land und erinnert dort, zu welchen Zielen sich die Regierungen - armer wie reicher Länder - verpflichtet haben. Im jeweiligen Land erfährt sie, welches der Ziele Priorität hat, und versucht die Bevölkerung zu mobilisieren, damit diese die Umsetzung einfordern kann.
Die Fragen stellten Jürgen Duenbostel und Eva-Maria Eberle
von Eveline Herfkens
In einem Interview mit “der überblick” vor fünf Jahren (Nr. 1/1999) sagten Sie, dass den Vereinten Nationen (UN) das Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit drohe. Ist das immer noch der Fall?
Oh ja, absolut! Es gibt Probleme mit den Vereinten Nationen. Die Mitgliedstaaten tragen die Verantwortung dafür. Die reichen Mitgliedstaaten haben während der vergangenen 30 bis 40 Jahre mehr und mehr Geld in die internationalen Finanzorganisationen wie Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank gesteckt und immer weniger in das UN-System. Und innerhalb des UN-Systems haben sie ihr Geld über zahlreiche Organisationen verstreut, etwa dem UNESCO-Repräsentanten in Äthiopien die Verantwortung für ein Budget von 250.000 US-Dollar gegeben und einer anderen UN-Organisation eine entsprechende Summe für ähnliche Aufgaben. Wenn man nicht in Bedeutungslosigkeit abgleiten will, braucht man eine gemeinsame Agenda und eine gemeinsame Vertretung für die Vereinten Nationen.
Die Millenniumsentwicklungsziele (siehe Kasten) haben beträchtlich dazu beigetragen. In meiner Zeit als niederländische Entwicklungsministerin war ich eine derjenigen, die die UN-Organisationen zur Zusammenarbeit gedrängt haben. Für verschiedene Unterorganisationen der UN ist es immer schwierig, zusammenzuarbeiten. Aber nachdem alle die Millenniumsentwicklungsziele übernommen hatten, gab es eine gemeinsame Vorlage und ist ein gemeinsamer Handlungsrahmen möglich geworden. Und weil die internationalen Finanzorganisationen ebenfalls die Millenniumsentwicklungsziele übernommen haben, sieht man jetzt einen gewaltigen Fortschritt bei der Kooperation zwischen der Weltbank und dem UN-System.
Welche Aufgabe haben Sie heute in diesem Zusammenhang?
Ich konzentriere mich darauf, die Millenniumsziele zu propagieren, nach außen zu wirken. Innerhalb des UN-Systems weiß jeder, worum es bei den Millenniumszielen geht. Wenn Sie aber hier auf der Berliner Friedrichstraße die Leute fragen, werden Sie kaum jemanden finden, der diese Ziele kennt. Wir werden diese Ziele jedoch nicht erreichen können, wenn wir sie innerhalb der UN-Gebäude, der Weltbank oder auch des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) belassen.
Die Vereinten Nationen sind nicht selbst in der Lage, diese Ziele zu verwirklichen. Die UN - wie jede internationale Organisation - sind nicht mehr als die Summe ihrer Mitglieder. Das Entscheidende ist, dass alle Staats- und Regierungschefs der Erde diese Ziele unterschrieben haben. Also sind die Regierungen, Land für Land, verantwortlich. Und die Kampagne für die Ziele versucht, die Bevölkerung in den einzelnen Ländern zu mobilisieren, ihre Regierungen dafür rechenschaftspflichtig zu machen, dass sie ihre Versprechen auch einhalten.
Wer soll konkret für was verantwortlich sein?
Die Hauptverantwortung für das Erreichen der ersten sieben Ziele tragen die Entwicklungsländer, nämlich dafür, dass alle Mädchen zur Schule gehen, dass sie etwas gegen die Kindersterblichkeit tun, dass sie eine gute Politik verfolgen und die richtigen Haushaltsprioritäten setzen. Für Ziel 8, eine globale Partnerschaft für Entwicklung ins Leben zu rufen, sind vor allem die reichen Industrieländer verantwortlich. Aber damit arme Entwicklungsländer ihre Ziele erreichen können, müssen die reichen Staaten etwas dazu beitragen, indem sie mehr und bessere Hilfe leisten, indem sie mehr Handel ermöglichen und Agrarsubventionen abschaffen, die Märkte zerstören, von denen arme Bauern abhängen. Zwei Drittel der Armen dieser Erde leben schließlich in ländlichen Regionen.
Bleibt die Frage: Wie viel kostet das Ganze?
Sowohl die Vereinten Nationen als auch die Weltbank haben analysiert, wie hoch die Kosten sein werden. Die meisten Kosten werden von den Entwicklungsländern selbst zu tragen sein; es müssen dort heimische Geldquellen erschlossen werden. Ich war kürzlich in Brasilien bei Präsident Lula und habe darüber gesprochen. Eine Idee ist, erst einmal das System der Steuereintreibung zum Funktionieren zu bringen. Auch der Kampf gegen die Korruption gehört dazu. Man hätte dann eine erhebliche “Integritätsdividende”, die man umleiten kann, um die Millenniumsziele zu erreichen.
Gleichwohl muss die Hilfe von außen steigen. Die UN, die Weltbank und der IWF haben kalkuliert, dass die gegenwärtige Hilfe in etwa verdoppelt werden müsste: Zusätzliche 50 Milliarden US-Dollar weltweit werden jährlich benötigt. Wenn die Staaten ihre Versprechen einhalten, ist das zu schaffen. Sie wissen, dass schon vor ein paar Jahrzehnten bei der UN-Generalversammlung die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EU) übereingekommen sind, 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts bereitzustellen. Vor zwei Jahren haben die EU-Mitgliedsstaaten sowohl auf ihrem Gipfel in Barcelona wie auf dem Monterrey-Gipfel zur Entwicklungsfinanzierung versprochen, bis zum Jahr 2006 ein Minimum von 0,33 Prozent zu erzielen, als Schritt auf dem Weg zum 0,7-Prozent-Ziel. Aber Deutschland muss ein Datum für die 0,7 Prozent nennen, das weit vor dem Jahr 2015 liegt, so wie die Mehrheit europäischer Staaten es bereits getan hat.
Haben Sie in ihrer Funktion Sanktionsmittel, wenn die Versprechen nicht eingehalten werden?
Wenn die Vereinten Nationen Polizei in die Staaten schicken könnte, die internationale Vereinbarungen nicht einhalten, dann wäre dieses Problem seit dreißig Jahren gelöst. Um bei einem Politiker eines Mitgliedslandes den politischen Willen zur Umsetzung von Versprechen zu stärken, muss man deutlich machen, dass die Menschen des eigenen Wahlbezirks sich für solch ein Ziel einsetzen. Es ist interessant, dass es in allen reichen Ländern ein Gefälle gibt zwischen dem, was die Bürger meinen, was ihre Regierung tun sollte, und dem, was die Regierung wirklich tut. Umfragen zeigen, dass die meisten Deutschen gar nicht wissen, wie wenig internationale Hilfe Deutschland - bezogen auf seine Wirtschaftskraft - leistet. In der EU liegt Deutschlands Hilfe in Prozent des Sozialprodukts zusammen mit Portugal und Griechenland, Italien und Spanien weit hinten.
Schließt das die Hilfe von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und Kirchen ein?
Auch dann würde Deutschland kaum besser dastehen, denn deren Hilfe pro Einwohner ist vielen anderen EU-Ländern mindestens ebenso hoch.
Aber Politiker müssen zwischen Alternativen entscheiden. Sollen sie etwa die Renten kürzen und dafür die Auslandshilfe erhöhen, und würden sie dann noch gewählt?
Ich bin ja selbst in einer Regierung gewesen. Ich glaube, es ist keine gute Idee, einen finanziellen Posten als Alternative gegen eine bestimmte andere Ausgabe zu setzen, was immer die ist. Es gibt auch Menschen, die sagen, die Rüstungsausgaben sollten gesenkt werden, um Entwicklungsleistungen zu finanzieren. Ich glaube, innerhalb einer klugen Finanzpolitik - wir sprechen von relativ sehr wenig Geld - sollten die richtigen Prioritäten gesetzt werden. Ich entsinne mich an eine unlängst gehaltene Rede des ehemaligen Staatssekretärs im BMZ und jetzigen IWF-Chefs, Horst Köhler. Er erwähnte, dass Deutschland ungefähr so viel an staatlicher Entwicklungshilfe zahlt wie an Subventionen für die Steinkohle in Nordrhein-Westfalen. Das, so Köhler, sage etwas über die sozialen Prioritäten aus. Ich glaube, dass sich solche Prioritäten ändern können, wenn die Bevölkerung besser informiert ist.
Rund 300 Milliarden Euro pro Jahr werden von den reichen Staaten für landwirtschaftliche Subventionen vergeudet, ohne dass die damit offiziell angestrebten Ziele erreicht werden. Rund drei Viertel davon versickern in Preissteigerungen von Agrarland und den Einsatz von zusätzlichem Dünger und Chemikalien. Und das Viertel, was an Bauern geht, fließt in die Taschen von Bauern, die weit reicher sind als der durchschnittliche Bürger. Faktisch wird nur vier Prozent für den Umweltschutz ausgegeben. Wenn die übliche Landwirtschaftspolitik also so reformiert würde, dass die Einkommenshilfe wirklich die erreicht, die sie brauchen, und die öffentlichen Leistungen wirklich für den Landschaftsschutz eingesetzt würden, könnte eine Menge Geld gespart und für Entwicklung eingesetzt werden.
Das klingt alles sehr vernünftig. Warum passiert es dann nicht?
Weil die Bevölkerung sich dessen nicht genügend bewusst ist. In Deutschland ist auch die Skepsis verbreitet, ob Hilfe wirksam ist. Viele glauben, dass Hilfe für das Ausland nichts anderes sei, als von den Mittelschichten Steuern zu kassieren und dieses Geld an Eliten in Entwicklungsländern zu geben, die keine Steuern zahlen und ihre Armen bestehlen. In vielen Ländern Europas arbeiten jetzt die Entwicklungsminister daran, dass ihr Etat sich an den Millenniumszielen ausrichtet. Wenn man dem Steuerzahler erklären kann ‘Dank Ihrer Hilfe können drei Millionen Mädchen die Schule besuchen, die das andernfalls nicht konnten’ oder ‘Dank der deutschen Unterstützung in diesem oder jenem Land ist die Kindersterblichkeit gesunken’, wird das einen Unterschied machen. Meinungsumfragen zeigen deutlich, dass die Steuerzahler durchaus einen Beitrag leisten wollen, wenn sie überzeugt sind, dass die Hilfe wirkt, dass sie beispielsweise etwas gegen die Kindersterblichkeit in Afrika tun.
Aber ein Teil der Hilfszahlungen ist doch tatsächlich in den Taschen von Reichen in der Dritten Welt gelandet.
Deshalb muss man die Entwicklungshilfe reformieren. Und in den meisten Ländern einschließlich Deutschlands geschieht das. Es ist wichtig, dass sich Hilfe auf die Länder konzentriert, die sie wirklich benötigen. Ein Problem in Deutschland ist, das noch eine Menge an Länder abfließt, die nicht so arm sind. Die Türkei und Marokko beispielsweise benötigen keine Entwicklungshilfe, um die Millenniumsziele zu erreichen. Und die Hilfe sollte sich auf solche armen Länder konzentrieren, die relativ gut regiert werden. Ein unerbittlicher offizieller Weltbankbericht an das Entwicklungskomitee bei der IWF/Weltbank-Tagung in Dubai im vergangenen Oktober zeigt klar, dass es beträchtliche Reformen in Entwicklungsländern gegeben hat. Afrika südlich der Sahara ist nie so gut regiert worden wie heute - einmal abgesehen von Simbabwe und wenigen anderen Ländern. Die reichen Länder dagegen hätten nicht genug für das Ziel Nummer 8 getan.
Wenn Sie die Hilfe auf gut regierte arme Länder konzentrieren, vernachlässigen Sie doch die Armen in schlecht regierten Ländern.
Ich gebe nicht die Menschen in Ländern auf, die unter schlechten Regierungen leiden. Ich sage nur, wir sollten die Illusion aufgeben, dass wir dort die Armut reduzieren könnten, wenn wir über ihre Regierung arbeiten. Mein eigenes Land hat in den neunziger Jahren Hunderte von Millionen Euro in die Grundschulbildung in Kenia gesteckt. Aber die Zahl der Kinder, die dort zur Schule gingen, ist in der gleichen Zeit gesunken. In Kenia gibt es keinen Krieg oder Bürgerkrieg. Das Geld verschwand klar wegen der Korruption.
In andern Ländern herrschen Krieg und Bürgerkrieg. Warum sagen die Millenniumsziele dazu nichts?
Beim Milleniumsgipfel im Jahr 2000 haben sich 189 Staatschefs auf die in der Millenniumsdeklaration enthaltenen globalen Ziele verpflichtet, mit denen Friede, Sicherheit, Menschenrechte sowie nachhaltige Entwicklung erreicht werden sollen. Die Millenniumsziele entspringen dieser Deklaration; und alle Ziele sind miteinander verknüpft. Aber die Millenniumsziele beschränken sich auf das, was man messen kann. Die Idee hinter den Zielen ist, hieb- und stichfeste, an Zahlen festzumachende Verpflichtungen zu haben. Für die Bewertung von Regierungsführung in Bezug auf Menschenrechte und Konflikte gibt es keine international vereinbarten Zahlen, die man als Indikatoren für das Erreichen von Zielen nutzen kann.
Aber selbst bei Zielen, die an Zahlen zu messen sind, können Sie doch die Regierungen nicht zwingen, zu berichten, wo sie stehen.
Bei diesem Thema liegen wir gar nicht schlecht, weil die Entwicklungsländer selbst sich verpflichtet haben, Rechenschaftsberichte abzugeben. Gegenwärtig sind in etwa 80 Entwicklungsländern Berichtssysteme über die Erfüllung der Millenniumsziele entwickelt worden, in denen alle Zahlen zu allen Zielen veröffentlicht werden. Ein schwaches Berichtssystem gibt es dagegen bei den reichen Ländern. Glücklicherweise berichten jetzt ein paar Geberländer, was sie hinsichtlich des Ziels Nummer 8 tun - nicht nur wie viel Hilfe sie geben. Aber es gibt ein gewisses Ungleichgewicht: Die internationalen Finanzinstitutionen, die UN-Entwicklungsgruppe und alle bilateralen Geber bringen ihre besten Leute zusammen, um zu überwachen, was die Entwicklungsländer tun, und diese müssen bestimmte Ziele erreichen und Fristen einhalten. Dagegen hinken die reichen Länder bei Ziel 8 hinterher. Das spiegelt natürlich die Machtstruktur im System der internationalen Institutionen wider. Aber wenn das Paket glaubwürdig bleiben soll, müssen auch die reichen Länder mehr tun.
Immerhin haben sie Schulden erlassen.
Die fantastische Kampagne Jubilee 2000 hat dazu beigetragen, dass für ein paar Länder ein Teil der Schulden erlassen wurde. Dennoch können selbst die Länder, denen ein Teil erlassen wurde, mit ihren Restschulden noch nicht zukunftssichernd wirtschaften. Selbst in den Ländern, die alles getan haben, was die Geber verlangten, sind die verbliebenen Schulden noch zu hoch. Deshalb muss es in den kommenden Treffen des Entwicklungskomitees eine neue Fundraising-Runde geben. Beim Kölner G-7-Gipfel hatte Deutschland eine Führungsrolle hinsichtlich des Schuldenerlasses übernommen. Aber es gibt noch unerledigte Aufgaben. Ich hoffe, dass das unter deutscher Führung auch noch angepackt wird.
Verschuldung hängt auch mit den Austauschverhältnissen im Außenhandel zusammen. Sie haben einmal gesagt, dass beim Welthandel “affirmative action”, also Förderung der Schwachen, nötig sei. Wie soll solche Förderung aussehen?
Es ist bereits einiges getan worden, um in den armen Ländern die institutionellen Fähigkeiten für Verhandlungen zu verbessern. Auch dafür, dass sie die Standards für Produkte auf unseren Märkten besser erreichen können. Andererseits haben wir Abkommen in der Welthandelsordnung, wo alles über einen Leisten geschlagen wird. Was für uns gut ist beim Schutz von Investitionen oder des intellektuellen Eigentums, ist nicht per Definition auch für die armen Länder gut. Einige der Abkommen in der Welthandelsorganisation befassen sich viel zu sehr mit dem, was für die reichen Staaten relevant ist, und ignorieren die Interessen der armen Länder. Ich nenne als Beispiel das Abkommen zum Schutz intellektuellen Eigentums (TRIPS): Eine Patentgesetzgebung zu verabschieden und eine Patentbehörde aufzubauen, ist nicht das Wichtigste in Mali oder Burkina Faso. Solange die armen Länder es noch nicht geschafft haben, alle Kinder zur Schule zu schicken, sollte man von ihnen nicht verlangen, Verpflichtungen einzuhalten, die im Wesentlichen auf die Belange der reichen Länder fokussieren. Die armen Länder sollten selbst entscheiden dürfen, wann und für welche Sektoren sie einen Patentschutz einführen wollen.
Die neuen Handelsabkommen gehen doch aber gerade nicht in Richtung “affirmative action” sondern in Richtung Liberalisierung. Und in einem rein liberalen Markt ohne sozialen Ausgleich gewinnt der Starke und der Schwache verliert. Wie wollen Sie diesen Trend umkehren?
Schon im Allgemeinen Zoll und Handelsabkommen (GATT), dem Vorläufer des WTO, wie auch im WTO selbst, und ebenso in der Doha-Agenda (dem bei der 4. Ministerkonferenz in Doha im November 2001 beschlossenen Verhandlungsplan für die WTO) gibt es eine Menge Lippenbekenntnisse für eine besondere und andere Behandlung der armen Länder. Das ist aber nie umgesetzt worden. Wirkliche affirmative action sollte sich zudem auf kleine und arme Länder konzentrieren, die sie benötigen. Singapur, Korea und Brasilien sind keine “Entwicklungsländer”, die Vorzugsbehandlung brauchen.
Die Art der gegenwärtigen Vorzugsbehandlung muss arme Länder doch irritieren. Europa, die USA und Japan setzen dafür je unterschiedliche Regeln. An was sollen sich die potenziell Begünstigten halten?
Die europäische Vorzugsbehandlung für quotenfreien Marktzugang nach der Regel “alles außer Waffen” (EbA) ist geradezu eine taube Nuss. Die Abschaffung der Quotenbegrenzung für die bedeutendsten Exportprodukte armer Länder wie Zucker wurde auf die lange Bank geschoben. Mosambik beispielsweise hat alles, was es benötigt, um Zucker wettbewerbsfähig zu produzieren. Aber der heimische Markt ist zu klein - Investoren suchen große Märkte. Wenn Mosambik keine Sicherheit für dauerhaften Zugang zum europäischen oder amerikanischen Markt bekommt, werden die Investoren nicht kommen.
Zweitens müssen arme Länder für viele Exportprodukte Vorprodukte importieren. Die Herkunftsregeln sind aber so eng gefasst, dass Produkte mit bestimmten Importanteilen nicht begünstigt sind. Und drittens - wie Sie erwähnen - haben wir Europäer EbA, die USA haben die AGOA-Vorzugsregeln (vergl. “der überblick” 3/2003), die Norweger ihr kleines Programm, dann die Kanadier, dann die Japaner. Wenn Sie ein kleiner Exporteur in Mosambik sind, werden Sie niemals die Spaghettischüssel mit verschiedenen Regeln verstehen. EbA beispielsweise ist darüber hinaus vollgestopft mit bürokratischen Hemmnissen, die arme Exporteure nicht überwinden können. Die ganzen Regeln müssen vereinfacht, harmonisiert und in die WTO eingebunden werden.
Bei den Millenniumszielen geht es auch um eine stärkere Beteiligung von Frauen und Mädchen. Wer Frauen nicht benachteiligen will, braucht dafür eher politischen Willen als Geld. Was können Sie dazu beitragen, um gerade auch in Entwicklungsländern die Gleichbehandlung zu forcieren?
Das Thema in Reden ansprechen. Ich habe einige Reden darüber gehalten, wie es in den arabischen Ländern um die Millenniumsziele bestellt ist, wenn Frauen benachteiligt werden. Vor allem habe ich betont, dass keine Entwicklung stattfinden kann, wenn man die Aktivität und Produktivität der halben Bevölkerung erstickt.
Aber auch für meine Mutter war es noch nicht angemessen, vom Moment der Heirat an eine Lohnarbeit zu verrichten. Selbst in unseren eigenen Kulturen hatten verheiratete Frauen in einigen Ländern bis nach den Zweiten Weltkrieg nicht das Recht, Eigentum zu besitzen. Solche gesellschaftlichen Veränderungen benötigen ihre Zeit. Wenn ich daran denke, wie es bei uns noch vor 50 Jahren ausgesehen hat, bin ich erstaunt, wie schnell sich solch eine schwierige, kulturell verwurzelte Angelegenheit bereits entwickelt hat. Ich erinnere an die erste, 1975 in Mexiko abgehaltene UN-Weltfrauenkonferenz, auf der afrikanische Regierungen gesagt haben, das sei Export von westlichem Feminismus. Jetzt hat NEPAD, die neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung, beschlossen, dass all ihre Komitees zur Hälfte mit Frauen besetzt sein müssen. Die EU hat das noch nicht gemacht. Zumindest in Afrika wird sehr darauf gepocht. In Lateinamerika sind die Frauen im Durchschnitt besser gebildet als Männer, allerdings auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert, aber solche Diskriminierung gibt es hier auch.
Spiegelt die Reihenfolge der Millenniumsziele auch Prioritäten wider?
Nein. In den reichen Ländern geht es um Ziel 8, Ziel 8, Ziel 8. Wir müssen die Arbeitsteilung respektieren. Wir haben 30, 40 Jahre lang die Atmosphäre in internationalen Verhandlungen zerstört, indem wir uns wechselseitig Vorwürfe gemacht haben. Die armen Länder haben immer gesagt: ‘Wir können nichts tun, weil das internationale System uns ausbeutet. Ihr gebt uns nicht genug Hilfe.’ Und die reichen Länder sagen: ‘Sorry, Ihr richtet selbst den Unrat an, bringt erst mal Euer eigenes Haus in Ordnung.’
Die gute Sache des Millennium-Pakets ist, dass beide Seiten ihre eigene Verantwortlichkeit anerkannt haben. Ich möchte die Debatte so beibehalten. In reichen Ländern spreche ich über die Verantwortlichkeiten der reichen Länder und in den armen über die der armen. In reichen Ländern geht es also um Ziel 8. In den Entwicklungsländern glaube ich zutiefst an ownership (vergl. “der überblick” 4/2000). Die Länder müssen selbst entscheiden, was ihre dringendsten Aufgaben sind. Wenn ich komme und sage, ‘das ist wichtig in Eurer Kultur’, verändert das wenig.
Und wo setzen einzelne Länder ihre Prioritäten?
In großen Teilen in Afrika südlich der Sahara, wo eigentlich alle Ziele relevant sind, haben die Leute entschieden, dass Ziel 6 das wichtigste ist. Wenn man Aids nicht bekämpfen kann und etwa in Sambia Lehrer schneller wegsterben als man neue anheuern und ausbilden kann, ist Ziel 6 in der Tat das Wichtigste.
Ich komme gerade aus Lateinamerika, dort ist Ziel 1 das wichtigste, weil es dort so viele Arme und die ungerechteste Einkommensverteilung der Welt gibt. Ungleichheit aber verlangsamt Wachstum, und deshalb verringert sich die Zahl der Armen nicht als Folge von Wachstum. Je nach Region hat Anderes Vorrang. In arabischen Ländern ist Ziel 3 das Hauptziel, die Kindersterblichkeit und Gesundheit der Mütter sind dort noch ein großes Thema.
Übrigens sind die Ziele miteinander verknüpft. Man wird es kaum schaffen, dass die Mädchen zur Schule gehen, wenn man nicht für sauberes Trinkwasser sorgt und deshalb die Mädchen von weit her Wasser für die Familien holen müssen. Um die Kindersterblichkeit zu reduzieren, ist sauberes Wasser ebenfalls wichtiger als das Gesundheitssystem. Verschmutztes Wasser ist der größte Babykiller. Da gibt es eine eindeutige Beziehung zwischen den Zielen. Man kann in Sambia nicht alle Kinder einschulen, wenn man nicht Aids bekämpft. Es gibt starke Synergien und Verbindungen zwischen den Zielen. Wenn man ein Ziel erreicht, kommt man auch in den anderen weiter.
Acht MillenniumsentwicklungszieleDie Verantwortung der reichen LänderDie Millenniumserklärung ist ein Grundsatzdokument, das durch eine Reihe von quantitativ festgelegten Zielen und Zeiträumen besondere Bedeutung erhält. Am Ende des Millenniumsgipfels im September 2000 verabschiedeten 189 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen in New York die 32 Paragraphen der Millenniumserklärung. Sie enthält acht Millennium Development Goals (MDG, Millenniumsentwicklungsziele), von denen sieben von den Entwicklungsländern erfüllt werden sollen und das achte in den Verantwortungsbereich der reichen Länder fällt, sowie 18 Unterziele, die die MDG spezifizieren. Ziel 1: Beseitigung der extremen Armut und des Hungers; Zielvorgabe 1: Den Anteil der Menschen halbieren, deren Einkommen weniger als einen US-Dollar pro Tag beträgt; Zielvorgabe 2: Bis 2015 den Anteil der Menschen halbieren, die Hunger leiden. Ziel 2: Verwirklichung der allgemeinen Primarschulbildung; Zielvorgabe 3: Bis zum Jahr 2015 sicherstellen, dass alle Jungen und Mädchen eine Primarschulbildung abschließen können. Ziel 3: Förderung der Gleichheit der Geschlechter und Befähigung der Frauen; Zielvorgabe 4: Das Geschlechtergefälle in der Primar- und Sekundarschulbildung beseitigen, vorzugsweise bis 2005, und auf allen Bildungsebenen bis 2015. Ziel 4: Senkung der Kindersterblichkeit; Zielvorgabe 5: Bis 2015 die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren um zwei Drittel senken. Ziel 5: Verbesserung der Gesundheit von Müttern; Zielvorgabe 6: Die Müttersterblichkeitsrate bis 2015 um drei Viertel senken. Ziel 6: Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und anderen Krankheiten; Zielvorgabe 7: Bis 2015 die Ausbreitung von HIV/Aids zum Stillstand bringen und allmählich umkehren; Zielvorgabe 8: Die Ausbreitung von Malaria und anderen schweren Krankheiten bis 2015 zum Stillstand bringen und allmählich umkehren. Ziel 7: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit; Zielvorgabe 9: Die Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung in die Politik und Programme jedes einzelnen Staates einbeziehen und den Verlust von Umweltressourcen umkehren; Zielvorgabe 10: Bis 2015 den Anteil der Menschen um die Hälfte senken, die keinen nachhaltigen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben; Zielvorgabe 11: Bis 2020 eine erhebliche Verbesserung der Lebensbedingungen von mindestens 100 Millionen Slumbewohnern herbeiführen. Ziel 8: Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft; Zielvorgabe 12: Ein offenes regelgestütztes, berechenbares und nichtdiskriminierendes Handels- und Finanzsystem weiterentwickeln, das die Verpflichtung auf eine gute Regierungsführung umfasst sowie die Entwicklung und die Armutsreduzierung auf nationaler als auch auf internationaler Ebene; Zielvorgabe 13: Den besonderen Bedürfnissen der am wenigsten entwickelten Länder Rechnung tragen. Dies umfasst einen zoll- und quotenfreien Zugang für Exportgüter dieser Länder, ein verstärktes Schuldenlinderungsprogramm für die hochverschuldeten armen Länder, die Streichung der bilateralen öffentlichen Schulden sowie großzügige öffentliche Entwicklungshilfe für Länder, die zur Armutsminderung entschlossen sind; Zielvorgabe 14: Den besonderen Bedürfnissen der Binnen- und kleinen Inselentwicklungsländer Rechnung tragen; Zielvorgabe 15: Die Schuldenprobleme der Entwicklungsländer durch Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene umfassend angehen und so die Schulden langfristig tragbar werden lassen; Zielvorgabe 16: In Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern Strategien zur Beschaffung menschenwürdiger und produktiver Arbeit für junge Menschen entwickeln; Zielvorgabe 17: In Zusammenarbeit mit den Pharmaunternehmen erschwingliche unentbehrliche Medikamente in den Entwicklungsländern verfügbar machen; Zielvorgabe 18: In Zusammenarbeit mit dem Privatsektor dafür sorgen, dass die Vorteile der neuen Technologien - insbesondere der Informations- und Kommunikationstechnologien - genutzt werden können. Die acht Ziele der Milleniumserklärung können im Internet unter www.un.org/millenniumgoals/ eingesehen sowie die gesamte Millenniumsdeklaration und die Schritte zur Implementierung der Milleniumsziele als html- oder pdf-Datei heruntergeladen werden. eb |
aus: der überblick 01/2004, Seite 106
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Eveline Herfkens:
Eveline Herfkens arbeitet als Exekutivkoordinatorin des UN-Generalsekretärs für
die Kampagne Millenniumsentwicklungsziele. Sie war von 1998 bis 2002 niederländische
Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit, von 1996 bis 1998 Botschafterin bei den
Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation WTO. Während dieser Zeit war
sie Mitglied des "Forschungsinstituts der
Vereinten Nationen für soziale Entwicklung" (UNRISD),Vorsitzende des Wirtschaftskommission für Europa (ECE) und
von 1990 bis 1996 und Exekutivdirektorin bei
der Weltbank.