Angesichts steigender Ölpreise richten sich die Blicke auf die Teersände Kanadas und Venezuelas
Noch dreht sich alles um den nahen Osten mit seinen Ölreserven. Weil aber die Ölreserven knapp werden und die Preise nicht ins Unermessliche steigen können, richten sich die Energiekonzerne auf eine Alternative ein: den Abbau von Teersänden in Kanada und Venezuela.
von Onno Groß
Die Runde ist eröffnet: 70, 100, 150 Dollar, wann bricht die nächste Schallmauer für den Erdölpreis? Die Kosten für das Barrel (Fass) Rohöl ein Barrel sind 159 Liter sorgen in den Zeitungen tagtäglich für Schlagzeilen. Mal sind es Angriffe auf Ölförderanlagen in Nigeria, mal die Angst vor einem Irankrieg Iran ist immerhin der viertgrößte Ölexporteur der Welt , für die Spekulation sind entsprechende Meldungen und Gerüchte immer ein Anlass, den Preis nach oben zu treiben. Politische Spannungen rund um den Erdball und der Erdölhunger der USA, Chinas, Indiens und anderer Schwellenländer sind die Ursache der Rekordpreise für Öl und Gas. Die Zeit des billigen Öls wie in den neunziger Jahren ist wohl endgültig vorbei. Oder nicht?
Über die tatsächlichen Bestände an Öl und Gas in der Welt herrscht derzeit große Uneinigkeit. Auf der einen Seite stehen die Energie- und Ölindustrien, die keine Sorgen um ihr lukratives Geschäft haben. Vor 30 Jahren, sagt Red Cavaney, Präsident des amerikanischen Petroleuminstituts, selbstbewusst hat der Club of Rome das nahe Ende des Öls voraus gesagt. Und lag damit falsch.
Technische Erneuerungen wie die Horizontalbohrung führen dazu, dass bekannte Lagerstätten zu einem höheren Anteil ausgebeutet werden können. Der Einsatz dreidimensionaler seismischer Messungen bei der Suche nach neuen und genaueren Erkundung von bekannten Öllagerstätten dürfte die bekannte Menge der Energiereserven noch einmal kräftig erhöhen. Angeblich liegen in den amerikanischen Hoheitsgewässern im Atlantik, im Golf von Mexiko, im Pazifik und um Alaska noch zusätzliche 471 Milliarden Barrel Gas und 82 Milliarden Barrel Öl und warten auf eine technische Ausbeutung; das jedenfalls ist die Einschätzung des American Petroleum Institute in der Ausgabe 1/2006 des Magazins World Watch.
Andere halten diese Szenarien für viel zu optimistisch. Sie spiegelten das Interesse der Industrie wider, Investitionen in Energiealternativen zu vertagen, weil sich an hohen Ölpreisen mehr verdienen lässt. Sie prognostizieren, dass schon in wenigen Jahren der so genannte peak of oil erreicht und danach das Maximum der Förderung bei den derzeit 400 genutzten größeren Ölfeldern überschritten sein wird. Der Förderückgang werde dramatische Preissteigerungen zur Folge haben. Niemand wisse zwar, wann genau das Ende der Ölzeit sein werde, aber es müsse frühzeitig über Alternativen nachgedacht werden, weil andernfalls die ökonomischen und sozialen Auswirkungen sehr schädlich sein könnten. Aufgrund ökonomischen Effizienzdenkens heute nichts zu unternehmen, wird sich in Zukunft wie das Herumrücken von Deckstühlen auf der Titanic herausstellen, ist Robert Kaufmann von der Boston Universität überzeugt.
Ein Argument der Kritiker ist, dass die Modellrechnungen für Energiereserven den wachsenden Energiebedarf der aufstrebenden Nationen zu wenig einbeziehen. Bei einem weiteren Industriewachstum von acht Prozent wird beispielsweise China im Jahr 2009 anfangen müssen, 100 Prozent mehr Erdöl also sechs statt drei Millionen Barrel Öl täglich zu importieren, sagt Kjell Aleklett, Physikprofessor an der Uppsala Universität und Präsident der Association for the Study of Peak Oil and Gas (ASPO). Wo soll diese Menge herkommen? Die Zeichen, dass die Vorräte nicht ausreichen, seien unübersehbar. Das erkennt jedes blinde Huhn, so Aleklett. Während vor 50 Jahren die Welt vier Milliarden Barrel Öl pro Jahr verbrauchte und die durchschnittliche Entdeckungsrate von Reserven bei 30 Milliarden Barrel im Jahr lag, hat sich dieses Verhältnis mittlerweile umgedreht: Heute werden jährlich 30 Milliarden Barrel Öl verbraucht, aber es werden nur vier Milliarden Barrel neue Reserven entdeckt.
Der Energiehunger wird nach Schätzung der International Energy Agency (IEA) bis zum Jahr 2030 noch auf über 44 Milliarden Barrel im Jahr steigen, das sind 121 Millionen Barrel pro Tag fast 30 mal so viel wie die derzeitige Fördermenge an Öl aus der Nordsee. Doch die ist bereits rückläufig; um das Jahr 2020 wird das Nordseeöl leergepumpt sein.
Ölfirmen wie BP setzten ihre Hoffnung jetzt auf die Ölfelder Russlands, Aserbaidschans, Algeriens, Trinidads und die Tiefseelagerstätten im Golf von Mexiko und vor Angola. Aber im letzten Jahrzehnt ging die Förderung in 33 der 48 größten Öl produzierenden Länder zurück.
Zwei Drittel der nachgewiesenen Erdölreserven von schätzungsweise 1 bis 1,2 Billionen Barrel liegen im Mittleren Osten (Saudi Arabien, Iran, Irak). Für viele ist diese Abhängigkeit vom Mittleren Osten bedenklich, denn die Konzentration der Vorräte am Golf kann Konflikte vorprogrammieren.
Bei all dem Gerangel um die scheinbar letzten Ölreserven wird oft übersehen, dass es noch nicht erschlossene, reichlich vorhandene Ölvorräte anderer Art gibt, die dem Preisanstieg eine Obergrenze setzen können. Die Rede ist hier von Teersänden, von denen es riesige Lagerstätten in Kanada und im Gürtel des Orinoco-Flusses in Venezuela sowie in Russland gibt. Solche Erdschichten mit fossilen Brennstoffen, ein natürliches Gemisch des teerähnlichen Bitumen mit Sand oder Schiefer sind in 70 Ländern bekannt, aber nur in den drei genannten sind bisher große Reserven entdeckt worden.
Etwa 77.000 Quadratkilometer Ölsände (mehr als zweimal die Fläche Nordrhein-Westfalens) sind im westlichen Kanada bekannt. Das meiste davon liegt im Norden des Bundesstaats Alberta etwa 500 Kilometer von der Stadt Edmonton entfernt. Die vier Hauptfundstätten sind Athabasca, Wabasha, Cold Lake und Peace River. In Flussablagerungen aus der Apt- und Albzeit in der späten Unterkreidezeit (vor 110 Millionen Jahren) befinden sich dort über 60 Prozent der bisher bekannten Ölsände. Das Schweröl in den Teersänden macht dabei etwa 10 bis 12 Prozent des Gesamtgewichts aus; 80 bis 85 Prozent der schwarzen Masse besteht aus Sand und Lehm und 4 bis 6 Prozent aus Wasser. Das Erdöl steckt in den Ölsänden manchmal ganz nahe der Oberfläche, manchmal mehr als 50 Meter tief, unter einer Schicht aus Lehm, Schlamm und Kies.
Riesige Schaufelbagger fressen sich in einer der größten Lagerstätten in Alberta in den Boden, schürfen nach den Teersänden und Speichergesteinen. Der Aushub wird auf Lastwagen transportiert, deren Reifen allein fast vier Meter hoch sind. Die winzigen Menschen fallen kaum auf. Das ganze erinnert an eine Science-Fiction-Kulisse, an eine Mischung aus Mondlandschaft und außerplanetarischer Industriezone. Am Horizont die Silhouetten der Großanlagen am Sammelplatz, die das Material weiterverarbeiten, um schließlich das schwarze daraus Gold zu gewinnen.
Durch technische Verbesserungen bei den Gewinnungsmethoden konnten in den letzten beiden Jahrzehnten die Förderkosten für das Öl in diesen Sänden erheblich gesenkt werden. Deshalb liegen sie heute bei Lagerstätten in der Nähe der Erdoberfläche um 10 US-Dollar pro Barrel Öl, also durchaus schon im Bereich der Förderkosten konventionell gewonnenen Erdöls. Ende 1970 betrugen die Förder- und Aufbereitungskosten noch das Doppelte.
Angesichts hoher Rohölpreise wird also auch die Ausbeutung von Ölsänden immer rentabler. Ende 2005 berichteten 23 Erdölgesellschaften von 61 geplanten oder bereits laufenden Förderprojekten in Teersänden. Trotz der riesigen Vorräte im Boden Albertas ist die Förderrate allerdings derzeit noch vergleichsweise niedrig. Gut eine Millionen Barrel pro Tag, das ist ungefähr ein Drittel der täglichen Ölproduktion Kanadas, stammt aus den Sänden.
Wenn in moderne Fördertechnik investiert wird, können die Kosten auch bei bisher schwer zu erschließenden Reserven gedrückt werden: Beim in-situ-Verfahren etwa wird Wasserdampf und Natron in das Erdreich gepresst und damit das Teer zwischen den Sandkörnern verflüssigt und schließlich an die Oberfläche gepresst oder gesogen ( Cylic Steam Simulation oder Steam Assisted Gravity Drainage Prinzip). Bei diesem Verfahren belaufen sich die Kosten einschließlich Abschreibung auf nicht mehr als 18 bis 25 US-Dollar. Angesichts eines Weltmarktpreises für Rohöl von zeitweilig über 60 Dollar ist das auf jeden Fall rentabel.
In der Tat sind die kanadischen Ölsande bei einem sehr hohen Ölpreis lukrativ und könnten bald rentabel werden, sagt Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DWI). Das Produkt ist natürlich nicht so wie es in Saudi Arabien vorkommt. Die Ölsande müssen erst aufwendig umgewandelt werden, was die Kosten hoch treibt.
Mittlerweile scheint der Preis dafür hoch genug. In seinem Wochenbericht 41/2005 kommt das DIW zu dem Schluss, dass der Ölpreis bis zum Jahr 2025 auf 160 US-Dollar je Barrel steigen könnte, wenn nicht neue Energiereserven erschlossen werden. Weil bei einem solchen Preis aber auch die am schwierigsten zu erschließenden Teersände sehr gewinnträchtig zu Öl verarbeitet werden könnten, kann man sicher sein, dass die Erschließung dieser Energiereserven schon recht bald stark ausgeweitet werden wird. Damit wird aber auch der Ölpreisspirale nach oben eine Grenze gesetzt.
Die Energiefachleute und Investmentbanken sagen voraus, dass in vier Jahren die riesigen Ölsandgebiete Albertas die weltweit wichtigste Quelle neu erschlossenen Erdöls sein werden. Kanadas Reserven von bis zu 1,6 Billionen Barrel Öl, von denen beim heutigen Stand der Technik 315 Milliarden Barrel erreichbar sind das ist mehr als Saudi Arabiens konventionelle Ölreserven , verändern so die geostrategische Landkarte der Welt. Wie werden sich die politischen Kräfteverhältnisse in der Welt ändern, wenn nicht mehr der Nahe Osten mit seinem Öl im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht?
Alle großen Erdölkonzerne sind bereits in den Minen rund um Fort McMurray vertreten, US-Firmen wie Exxon-Mobil, die Royal Dutch/Shell Group und Decon Energy, dazu die kanadischen Encana, Husky Energy und Nexen Canada. Einige Pipelines führen schon in die USA, weitere werden folgen. Umgerechnet rund 30 Milliarden Euro sollen in den nächsten zehn Jahren in die Ölsandfelder Albertas investiert werden. Das ist viel Geld, aber sicheres Geld. Dafür sorgen schon die Interessen der energiehungrigen und finanzkräftigen Staaten. Im Sommer 2005 wurde beispielsweise eine Offerte für Deer Creek Energy durch den französischen Energiekonzern Total bekannt. Und Chinas National Offshore Oil und Sinopec stiegen bei MEG- und Synenco-Energy ein.
Mit Verringerung der Förderkosten werden auch die Ölsände im Osten Venezuelas marktfähiger. Diese Energiereserven im Orinoco-Gürtel sind mit etwa 1,2 Milliarden Barrel mengenmäßig vergleichbar mit den kanadischen Quellen. Die Schätzungen, wie viel davon nutzbar sind, steigen seit den sechziger Jahren kontinuierlich an, und belaufen sich mittlerweile auf etwa 22 Prozent oder 267 Milliarden Barrel. Allerdings ist das enthaltene Bitumen etwas schwerer und von geringerer Qualität als in Kanada. Unternehmen, die in den Abbau von Teersänden in Venezuela einsteigen wollen, haben sich deshalb für das so genannte Orimulsion-Verfahren entschieden, ein Prozess bei dem der Bitumen mit Zusatzstoffen für den Transport durch Pipelines geeignet gemacht wird. Dieses Gemisch als Kohlenersatz ist allerdings nicht gerade umweltfreundlich zumal es einen hohen Anteil an Kohlendioxid enthält. Außerdem benötigt man in Venezuela einen höheren Energieeinsatz als in Kanada, um die Bitumenfelder auszubeuten.
Bis zu 26 Prozent des Energiegehalts des gewonnenen Rohöls muss für seine Förderung und Aufbereitung aus Teersänden aufgewendet werden. Man benutzt dafür Erdgas, Koks, Diesel, Kerosin, Benzin und Propan. Erdgas zum Beispiel wird bei den in-situ Produktionsprozessen und der Aufbereitung des Bitumens gebraucht. Bis zu 300 Kubikmeter Erdgas sind notwendig, um eine Tonne Bitumen mit dem Dampfverfahren zu gewinnen. Das Gas wird auch als Fördergas für den Transport, bei der Erzeugung von Wasserstoff, um das Bitumen aufzubereiten, und als Stromerzeuger benötigt. Auch Wasser ist zeitweilig ein kostbares Gut. So haben Dürreperioden die Unternehmen dazu gezwungen, einen Teil des heißen Prozesswassers man braucht 3 Barrel Wasser, um 1 Barrel Bitumen zu produzieren mehrfach wieder zu verwenden.
Bei aller Begeisterung für die neuen Reserven schwarzen Goldes, sind potentielle Umweltschäden abgesehen von dem ohnehin nicht umweltfreundlichen Tagebau allerdings ein Manko. Kommt es etwa in Kanada zu Ölunfällen, dann verläuft der biologische Abbau des Öls wegen der subarktischen Kälte sehr langsam. Auch die Behandlung des Wassers in den Absetzbecken, in denen große Mengen ölhaltiger Restsände gesammelt werden, und schließlich deren Rekultivierung sind ein Problem.
Dem Umweltbericht der Firma Syncrude, einem der größten Ölsandproduzenten, zufolge wurden im Jahr 2002 nur 16 Prozent der ausgebeuteten Abbauflächen rekultiviert. Dass sich die Firmen nicht gerade danach drängen, liegt nahe, denn es erhöht die Kosten, wenn tausende Hektar Land nach Abschluss der gewaltigen Erdarbeiten wieder natürlich gemacht werden müssen. Und auch die Rekultivierung benötigt zusätzlich Energie, nämlich Dieseltreibstoff für die schweren Baufahrzeuge. Und schließlich ist die Ölsandindustrie, wie die deutsche Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe errechnet hat, der größte Teibhausgas-Produzent Kanadas: Sie emittiert drei- bis fünfmal mehr als die konventionelle Erdölförderung.
Langfristig muss es darum gehen, weg vom Öl zu kommen, meint deshalb Claudia Kemfert vom DWI. Das wird früher oder später passieren, nur muss man überlegen, mit welchen Energieformen und wie schnell das passieren kann. Die Forderung lautet daher: Öl muss ersetzt werden durch alternative Energie; und im Verkehr müssen Wasserstoff und Brennstoffzellentechnik breiten Eingang finden. Vor allem sind die Möglichkeiten, beim Energieverbrauch zu sparen, noch lange nicht ausgeschöpft. In Deutschland, so eine Studie des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt und Energie, sei es möglich rund 40 Prozent des Energieverbrauchs rentabel einzusparen, etwa durch bessere Technik, effizientere Kraftwerke, Wärmedämmung und intelligentes Verbraucherverhalten. Den Rest könne Zug um Zug die erneuerbare Energie bereitstellen.
Die Ölsande verschieben gewiss den Peak of oil, das Fördermaxium an Kohlenwasserstoffen, in fernere Zukunft, da sie mehr Öl als alle zuvor nachgewiesenen Ölreserven beinhalten. Auch die Ölsande ändern also nichts an der Tatsache, dass das Öl begrenzt und kostbar ist und eines Tages nicht mehr preisgünstig zur Verfügung steht. Je früher die Volkswirtschaften auf Alternativen umstellen, desto unabhängiger vom Marktpreis für Öl können sie in Zukunft werden.
aus: der überblick 01/2006, Seite 78
AUTOR(EN):
Onno Groß
Dr. Onno Groß ist freier Wissenschaftsjournalist und lebt in Hamburg.