Mexiko an der Schwelle zur Erneuerung der Gesellschaft
Bis die Demokratie in Mexiko wirklich verankert sein wird, sind noch schwierige Aufgaben zu erledigen - nicht zuletzt eine grundlegende Reform der Justiz. Aber die Mexikaner müssen auch eine neue politische Kultur erlernen, in der Toleranz und gegenseitiger Respekt selbstverständlich sind. Sie brauchen eine stillschweigende Übereinkunft, den Weg zur Demokratie friedlich und gemeinsam zu beschreiten.
von Enrique Krauze
Der Aufbau einer demokratischen Ordnung ist, wie wir heute wissen, eigentlich eine endlose Aufgabe. Bis vor zwei Jahrzehnten schien das nicht so zu sein. Wir kämpften gegen keinen Leviatan, sondern gegen das "menschenfreundliche Ungeheuer", gegen ein seltsames, von den Mexikanern geschaffenes politisches Tier, das von ganz eigener Art war und so verschieden von allen anderen Staatsparteien, die in diesem schrecklichen 20. Jahrhundert ersonnen wurden. Schließlich war dieses Gebilde kein totalitärer Moloch wie die Kommunistischen Parteien der UdSSR oder Chinas, weil es keinen ideologischen Terror ausübte. Ebenso wenig war es, trotz seines korporativen Charakters, dem Wesen nach faschistisch, was unter anderem an seiner Distanz zur Kaste der Militärs lag. Octavio Paz versuchte, seine Beschaffenheit zu ergründen, und hinterließ uns dazu denkwürdige Schriften. Ich arbeitete mit ihm in seiner Zeitschrift Vuelta zusammen, diesem Schützengraben für die Freiheit, und wir wählten eine komplementäre Strategie: nämlich unmittelbar mögliche und praktische Wege zu finden, um dieses Herrschaftsmonopol zu brechen und für eine Umkehr im doppelten Sinne des Wortes – nämlich Wechsel und Rückkehr zu den politischen Idealen Maderos – zu werben (Francisco I. Madero war einer der Führer der Mexikanischen Revolution von 1910 - 1917; Anm. der Red.).
In jenen Jahren schien dies durchaus möglich, wenngleich auch in weiter Ferne zu liegen. Arbeiter und Bauern, die breiten Volksschichten, Abgeordnete und Senatoren, Richter, Gouverneure und Bürgermeister, Militärs, Bischöfe, Unternehmer, Freiberufler, Universitätsdozenten, Intellektuelle oder Journalisten und andere Vertreter der Medien, fast alle fügten sich mehr oder weniger gehorsam unter das Joch der imperialen Präsidentschaft, die sie unterwarf, aber zugleich auch profitieren ließ. Mit den später wachsenden wirtschaftlichen Problemen Mexikos jedoch wurde es notwendig, die fast uneingeschränkte Machtfülle der Präsidenten einzudämmen. So kam es, dass die liberaldemokratische Kritik Cosío Villegas, Autor von Historia moderna de México (1955-74), aus den sechziger und siebziger Jahren schließlich begann, inmitten der Wüste zu erblühen: Absolute Macht, so hatte Villegas ein ums andere Mal wiederholt, korrumpiert absolut. Das Land verlangte nun danach, diese Macht zu beschränken, umzuverteilen, zu prüfen, zu kontrollieren und einer Kritik zu unterziehen. Dieser Wandel bedeutet die Demokratie.
Vielleicht kommt einst der Tag, an dem man die Geschichte des Aufbaus unserer Demokratie schreiben wird. Noch ist es zu früh dafür, weil uns trotz der spürbaren Fortschritte immer noch ein langes, ein sehr langes Wegstück fehlt. Diese Geschichtsschreibung wird zum Beispiel von der Blindheit, von der Passivität und vom Hochmut unserer herrschenden Klasse berichten, die sich hinter einem Vermächtnis verschanzte, das sie nicht zu erneuern in der Lage war, einer Klasse, die an ihren Privilegien klebte und blind gegenüber den politischen Veränderungen war, die sich überdeutlich in der Welt vollzogen. Sie wird die Auswirkungen der internationalen Kritik hervorheben, deren Schlaglicht die Schattenseite Mexikos ausleuchtete und so, wie sie wirklich war, zu Tage brachte: als ein Gewirr des Komplizentums, eine mexikanische Variante der Cosa Nostra, eine Übertragung familiärer Beziehungen auf das öffentliche Leben. Sie wird die lange demokratische Tradition der PAN (Partido Acción Nacional, Partei der Nationalen Aktion) loben und die historische Reife einer politischen Linken rühmen, die sich traute, alte Mythen und revolutionäre Dogmen hinter sich zu lassen, um nun die Macht mit Hilfe von Wahlen zu erobern. Sie wird schließlich von dem Beitrag verschiedener gesellschaftlicher Organisationen und von einzelnen Menschen mit Zivilcourage sprechen.
Dies und mehr wird eine solche Geschichtsschreibung enthalten. Aber in diesem Moment brauchen wir in Mexiko keine Geschichte der Demokratie: Wir brauchen die Demokratie. Wenn der Urnengang vom kommenden 2. Juli irgendeine jener Unregelmäßigkeiten aufweisen sollte, welche die typischen Wahlen in den goldenen Zeiten des Systems besudelten, dann wird die mexikanische Demokratie eine gewaltige Niederlage erleiden, eine Niederlage, die uns in jene Grauzone des historischen Risikos rücken wird, in der sich heute Peru, Venezuela und Ekuador befinden. Dass dies passiert, ist nur sehr schwer vorstellbar. Die Wahlgänge dieser Präsidentschaft waren bemerkenswert sauber. In nur wenigen Jahren gewann das für die Durchführung von Wahlen zuständige Wahlamt, Instituto Federal Electoral, das Vertrauen der Bürger. Es gab nur wenige Abstimmungen, die Anlass zu Konflikten gaben. In allen Winkeln des Landes wurden rechtmäßige Wahlsiege der Opposition anerkannt, und in Teilen des Landes stellt die einstige Opposition heute die Regierung.
Aber selbst für den Fall, dass sich die Wahlen als sauber, friedlich, ausgewogen und unanfechtbar herausstellen, bleiben die ansstehenden Aufgaben vielfältig und erdrückend. Die erste betrifft die Politiker und Parteien, die sich als die Verlierer herausstellen werden. Auch wenn sie nur um Haaresbreite unterlegen sind: Die Kunst zu verlieren ist sehr schwer. Ohne sie aber gibt es keine Eintracht. Die PAN und die PRI (Partido Revolucionario Institucional, Partei der Institutionalisierten Revolution) haben diese elementare Lektion bei den Wahlen auf Ebene der Einzelstaaten lernen müssen. Sie haben erkannt, dass die Demokratie ein tägliches Plebiszit ist, dessen Schwankungen Ausdruck gesellschaftlicher Vitalität sind. Jetzt bleibt abzuwarten, ob diese Parteien und die PRD (Partido de la Revolución Democrática, Partei der Demokratischen Revolution) eine Niederlage eingestehen und einen Sieg ihrer Gegner mit Großmut annehmen können.
Die zweite Klippe wird die Zeit des Interims von Juli bis Dezember sein, dieses politische Niemandsland, das in den alten Zeiten des Systems die Gefahr einer komplizierten Doppelherrschaft heraufbeschwor. Bislang haben die Launen des alten Königs tausendfältig und unweigerlich dazu geführt, den neuen Monarchen zu zermürben, sodass dieser jenen just in dem Moment der Salbung in einem vorhersehbaren Ritual opfern musste. All diese überholten aztekischen Bräuche gehören abgeschafft. Für die Exekutive bedeutet dies, dass Präsident Zedillo in seinem letzten Halbjahr die gesamte Regierungszeit seines Nachfolgers im Auge haben muss, um jähe Kursänderungen zu vermeiden. Vor allem aber wird die Legislative, die am 1. September zusammentreten wird, Verantwortung zeigen müssen.
Das gegenwärtige Parlament unterscheidet sich sehr von denen in früheren Zeiten. Vormals wärmten unsere Volksvertreter ihre Sitze einzig und allein in der Hoffnung auf einen Regierungsposten, hoben zustimmend ihre Hand oder ergingen sich bestenfalls in Reden voller abgedroschener Phrasen. Dennoch lässt auch heute die Ausübung des Mandats in den Augen der Öffentlichkeit zu wünschen übrig. In einer normalen Demokratie sind Abgeordnete täglich einer Spannung ausgesetzt, die dadurch entsteht, dass ihre Loyalität und ihre Verantwortlichkeit auf zwei Pole ausgerichtet sind, die unvereinbar sein können: nämlich ihre Partei und ihre Wähler oder, in einigen Fällen, ihre Partei und ihr Gewissen. Trotz einiger verdienstvoller Anstrengungen, die aufgrund einer trägen Presse und einer mangelhaften Öffentlichkeitsarbeit vielleicht zu wenig Beachtung gefunden haben, haben die mexikanischen Abgeordneten und Senatoren leider immer noch nicht gezeigt, dass sie eine eigene Stimme und ein eigenes Votum besitzen. Auch haben sie bisher ihre Intelligenz, Initiative und Kreativität noch nicht unter Beweis gestellt. Sie haben Stunden, Monate und Jahre mit fruchtlosen und leichtfertigen Streitereien verbracht. Sie haben beispielsweise ihre ideologischen Differenzen erörtert oder persönliche Rechnungen beglichen. Dabei haben sie aber die wirklich drängenden Belange, die das Leben von 100 Millionen Mexikanern betreffen, außer Acht gelassen, etwa die anstehenden Reformen des Arbeitsrechts, die Wende in der Energiepolitik oder Themen der inneren Sicherheit und des Rechtsstaates. In der nächsten Legislaturperiode kann und muss die Belohnung für gute Arbeit, also die Wiederwahl zum Normalfall werden. Jedoch müssen sich unsere Volksvertreter eine solche Wiederwahl vor den Augen der Öffentlichkeit verdienen; sie haben zu beweisen, dass sie nicht einfach ein Anhang der Regierung oder ihrer Parteien, sondern wahrhaft Repräsentanten ihrer Wähler sind.
Keine der anstehenden Aufgaben ist wichtiger als die Reform des Justizwesens. Abgesehen von ein paar Lichtblicken ist die traurige Wahrheit, dass die judikative Gewalt seit fast 150 Jahren, als die Liberalen der Reformperiode sie mit Kraft und Unabhängigkeit ausübten, bis sie durch die Herrschaft von Porfirio Díaz und durch die Mexikanische Revolution hinweggefegt wurden, ihr Haupt nicht erhoben hat. Merkwürdigerweise besaßen die Richter unterhalb des Obersten Gerichtes in den Zeiten dieser Herrschaft mehr Durchsetzungskraft, Unabhängigkeit und Respekt als heutzutage. Mit der Revolution, die in mancher Hinsicht ein Angriff auf das liberale Erbe war, kam es zu einer tiefgreifenden historischen Veränderung: Die Justiz "emigrierte" gewissermaßen aus dem ihr eigenen Hoheitsbereich in den der Exekutive. Die Gerechtigkeit legte sich ein Adjektiv zu und wurde so zur "sozialen Gerechtigkeit". Sie verstand sich also als eine Gerechtigkeit, die sich in jeder praktischen Hinsicht von ihrer ursprünglichen Aufgabe abkehrte - nämlich den Täter zu bestrafen und Entschädigung der Opfer zu veranlassen - und sich einem verteilungspolitisch inspirierten Programm zuwandte.
Wer aber war die Instanz, die über die Verteilung der Brote zu entscheiden hatte? Der revolutionäre Staat, also die Regierung, also die PRI, also der Herr Präsident. Weil diese Entwicklung mit einer sowohl prä-hispanischen wie auch kolonialen und damit lange tradierten Mentalität zusammenging, schlug dieses antidemokratische Zerrbild der Justiz tiefe Wurzeln. Dabei sollte angemerkt werden, dass es selbst in der Kolonialzeit Institutionen gab, welche die Macht der spanischen Vizekönige, die ihrerseits verliehen und zeitlich begrenzt war, beschränkten und Gegengewichte schufen. Dazu gehörten die Audiencias oder der Juicio de Residencia (Gemeindegericht), ganz zu schweigen von den großen parallelen Machtblöcken wie der katholischen Kirche. Die Bürger des heutigen Mexiko verlangen - noch vor dem Brot - die Achtung vor dem Leben. Diese Forderung wird sich nicht automatisch mit dem eventuellen Erfolg eines wie auch immer gearteten Wirtschaftsprogramms einlösen, das angeblich dafür Sorge tragen wird, gewalttätige Delinquenten von ihrem ungesetzlichen Treiben abzuhalten und auf den rechten Pfad der ehrlichen Arbeit zu bringen.
Angesichts des wachsenden Drogenimperiums und des furchtbaren Beispiels Kolumbiens vor unseren Augen müssen wir unserem Justizwesen zu einer neuen Würde und Durchsetzungskraft verhelfen. Anderen Gesellschaften ist dies geglückt. In Italien war die Regierung häufig instabil, korrupt und ineffizient, aber die Gesellschaft und Wirtschaft Italiens haben sich positiv entwickelt - dank der Standhaftigkeit einer Justiz, die auf die Unterstützung und auf das Vertrauen der Bevölkerung zählen kann. Erst wenn Mexiko einen Richter aufweisen kann, der wie Garzón in Spanien zum Helden der Öffentlichkeit wird, (Garzón hat Anklage gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Pinochet erhoben, Anm. der Red.), werden wir beginnen zu wissen, was es heißt, eine Justiz zu haben, zu einer Justiz zurückzukehren, welche diesen Namen wirklich verdient.
Die Berichterstattung in Mexikos Zeitungen und Zeitschriften, im Radio und selbst im Fernsehen zeugt heute von einer Meinungsfreiheit, die weit entfernt ist von jenem schwächlichen und zaghaften Journalismus, wie er noch vor kaum zehn Jahren gang und gäbe war. Die Regierung hat im Großen und Ganzen aufgehört, die alles überschattende Macht- und Meinungsinstanz zu sein, die alle umgarnen und anrufen und für deren Gefälligkeiten man bereit ist zu sterben oder zu töten. Die neue Instanz, die neue Quelle der Autorität und Legitimation ist nicht mehr oben, an der Spitze der Pyramide, sondern unten, auf dem Marktplatz: Es ist das Publikum der Bürger insgesamt, der Radiohörer, der Fernsehzuschauer, der Leser und der Wähler.
Trotz alledem sind wir weit davon entfernt, wirklich moderne Medien der Kommunikation zu haben. Teile der Presse sind immer noch rein kommerziell ausgerichtet und dienen einzig und allein dem Zweck, genügend Werbeaufträge zu bekommen. Diese werden auf die Dauer nicht überleben können. Eine andere Gruppe von Zeitungen und Zeitschriften ist sehr dogmatisch. Diese dienen einem Publikum, das ideologisch sehr befangen ist und das nicht nach der Wahrheit verlangt, sondern nach seiner Wahrheit, also nach einer "Wahrheit", die einseitig und denunziatorisch ist. Diese Medien haben langfristig bessere Überlebenschancen, stoßen aber bereits an ihre Grenzen: Das breite Publikum - so vorurteilsbeladen es auch sein oder so geschunden es sich auch fühlen mag - zieht die ungeschminkte der geschminkten Wahrheit vor, auch wenn letztere noch so scheinheilig daherkommt. Ein anderer Teil der Presse ist moderner und professioneller, aber es fehlt ihr der intellektuelle Horizont, die literarische Qualität und auf der Suche nach Nachrichten die Fantasie. Darüber hinaus hat Mexiko ein chronisches Problem: Es gibt viele Zeitschriften, aber nur wenige Leser.
Das Radio dagegen hat seine Funktion gut erfüllt. Viele Jahre schien es das Aschenputtel unter den Medien zu sein, das durch die audiovisuelle Revolution verdrängt würde. Seine Beweglichkeit, seine Flexibilität und seine niedrigen Anschaffungskosten aber sorgten dafür, dass dieses Medium nicht unterging. In politischer Hinsicht hat das Radio eine Nische gesucht und gefunden. Es war und bleibt das Medium der Hausfrauen und Taxifahrer, der Kleinhändler oder der Hausangestellten. Seine Nachrichtendichte und sein kritisches Potenzial sind höher entwickelt als die des Fernsehens. Das gilt auch im Hinblick auf offene Diskussionen und interaktive Debatten mit dem Publikum.
Als das Fernsehen die Notwendigkeit einer demokratischen Programmgestaltung entdeckte, war es bereits spät: Es hatte Jahrzehnte damit verloren, dem eifersüchtigen Herrn von Los Pinos, Amtssitz des Präsidenten, statt dem Publikum zu dienen. Die internationale Berichterstattung und auch die professionelle Gestaltung der Programme waren sicherlich hervorragend, aber was innenpolitische Themen angeht, so duldete man die Zensur, man übte Selbstzensur und griff bisweilen selbst zur Lüge. Dieser Informations-Protektionismus vertrug sich schlecht mit der Öffnung der weltweiten Medienlandschaft und musste damit an seine Grenzen stoßen. Heute kämpft das Fernsehen mit fassettenreichen Programmen darum, die Glaubwürdigkeit, ein zerbrechliches und kostbares Gut, zurückzugewinnen. Und dies muss schnell geschehen, denn jetzt vollzieht sich eine völlig neuartige, libertäre Revolution: die Kommunikation aller mit allen durch das Internet.
Die verbleibenden Aufgaben sind, zusammenfassend formuliert, nach wie vor groß, aber es hat bemerkenswerte politische Fortschritte gegeben. Die Institutionen, die Gesetzgebung und auch die Art und Weise, wie Wahlen durchgeführt werden, gewinnen zunehmend an Respekt. Zudem sind in der Verteilung der räumlichen wie auch der funktionalen Macht wirkliche Fortschritte zu verzeichnen. Die Regierung wird heute schärfer beobachtet und kontrolliert als früher. Die bürgerlichen Freiheiten sind bewahrt und sogar ausgeweitet worden. Nur während der liberalen Reformperiode und der kurzen Präsidentschaft Maderos haben wir eine vergleichbare Meinungsfreiheit erlebt. Ein scharfsinniger ausländischer Beobachter, der Mexiko zuletzt in den siebziger Jahren bereiste, würde dieses Land heute nicht wiedererkennen. Das ist etwas, was wir Mexikaner, die wir zu apokalyptischen Klagen neigen, immer wieder vergessen. Wenn unser Weg hin zu den ersten Stufen der Demokratie nicht gerade über Samt und Seide verlief, so war er doch auch nicht sehr blutig.
Mühseliger allerdings ist der Wandel im Hinblick auf die politische Kultur, dieses System von oftmals unbewussten Ideen und Überzeugungen, die unser tägliches Leben in weitaus stärkerem Maße durchdringen und formen als die Gesetze oder die Institutionen. Hier gibt es noch viel zu tun. Wie vermittelt man beispielsweise die ethische Kunst des Zuhörens? Wenn wir unserem Gegenüber nicht die Zeit geben, seine Gedanken zu formulieren, können wir die eigene Wahrheit nicht mit der seinen vergleichen und verdammen uns selbst zu einem politischen Autismus. Wie kann man sich den Wert der Toleranz zu Eigen machen? Wenn wir keine Toleranz üben, werden wir dazu neigen, unser Gegenüber zu disqualifizieren, zu verdammen und sogar zu unterdrücken, anstatt eine unterschiedliche Meinung als eine Bereicherung, als einen Ausdruck des Pluralismus zu empfinden.
Wie können wir ein Minimum an politischer Höflichkeit in unser tägliches Leben bringen? Ohne sie werden sich die unterschiedlichen Formen der Einschüchterung und der Gewalt einbürgern, die sich bereits heute, unter dem Schutz der neuen öffentlichen Freiheiten, auf den Straßen, Plätzen und Institutionen unseres Landes zeigen. Wie kann man den Lesern, vor allem den Jüngeren unter ihnen, ein elementar-kritisches Denken beibringen, das es ihnen ermöglicht, ideologische Verzerrungen früh genug zu erkennen? Ohne diesen Realitätssinn wird uns der Fanatismus anziehen wie ein Magnet. Wie kann man, zu guter Letzt, den noblen Begriff der Demokratie läutern, damit er das bedeutet, was er seit den Griechen war, und nicht verfälscht werden kann durch Demagogen und Guerilleros? Dies wird keineswegs leicht sein, zumal sich bei uns bereits "alternative" Konzepte der Demokratie auszubreiten beginnen, die im Grunde genommen nichts anderes sind als eine allzu späte Neuauflage des "generellen Willens", wie ihn Rousseau vorgedacht hat: Wir sind zahlenmäßig in der Minderheit, vertreten aber die wirkliche Mehrheit, auch wenn sich die Mehrheit gegen uns ausspricht.
"Wir haben nur eine begrenzte Zeit", dachte ich 1983, "bis zum Ende unseres Lebens". Damals schien uns das unendlich, was selbstverständlich nicht stimmte. Wie viel Zeit wird tatsächlich noch vergehen, bis wir sicher sein können, unsere demokratische Ordnung konsolidiert zu haben? Die täglichen Gewalttaten und Entmutigungen, die tiefen Risse unseres Sozialgefüges und die unerträglichen Bedingungen, unter denen unsere verarmten Massen leben, überwältigen uns bisweilen und treiben uns an den Rand der Verzweiflung. Aber wenn uns die Geschichte etwas lehrt, dann ist es die Fähigkeit der Völker, sich wieder zu regenerieren. Mexiko muss zur Eintracht zurückfinden, das heißt nicht zu einem einseitig aufoktroyierten Frieden oder zu einer dieser chimärenhaften Koalitionen der politischen Gruppierungen, sondern zu einer stillschweigenden, auf gegenseitigem Respekt beruhenden Übereinkunft, die uns einmal vereinte, bevor sie unter den Korruptionsskandalen, den Ausbrüchen der Guerilla und den politischen Attentaten verloren ging.
Und noch etwas: Wir benötigen eine kollektive Vorsicht, eine minimale, aber definitive und realistische Übereinkunft über unsere Stellung und unsere Rolle in der Welt. Es wird keine Glücksfälle geben, keinen globalen Wandel und auch keine Männer der Vorsehung, die uns diesen gegenseitigen Respekt und die Klarheit des Willens zurückgeben können, obwohl eine feste, eindeutige und verantwortliche Führung förderlich wäre. Der Weg ist lang, und wie wir wissen, wird uns erst beim Gehen so recht deutlich werden, wohin er führt und welche Hürden dabei zu überwinden sind. Aber eine Sache ist sicher: Die Demokratie ist die einzige Art, diesen Weg zurückzulegen.
Audiencia war eine Gerichts- und Verwaltungsbehörde in der Kolonialzeit Mexikos.
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Der Juicio de Residencia war eine Untersuchung der Tätigkeit eines staatlichen Funktionärs am Ende seiner Dienstzeit. Bis zum Abschluss der Untersuchung musste dieser am Ort bleiben (Residenzpflicht).
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Porfirio Díaz ist 1876 durch einen Putsch an die Macht gekommen. Seine erste konstitutionelle Präsidentschaft dauerte von 1877-1881. Dann herrschte er verdeckt durch einen Strohmann (den Präsidenten General Manuel González, 1881-1884) weiter. Schließlich hatte er keine Skrupel mehr, das Verbot der Wiederwahl zu missachten, sodass er von 1884 bis 1911 ununterbrochen die Präsidentschaft innehatte.
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aus: der überblick 02/2000, Seite 6
AUTOR(EN):
Enrique Krauze:
Enrique Krauze ist einer der bedeutendsten Historiker Mexikos und war stellvertretender Direktor der Zeitschrift "Vuelta" des Literaturnobelpreisträgers Octavio Paz. Er ist unter anderem Autor von "Mexico - Biography of Power. A History of Modern Mexico, 1810-1996", New York 1997.