Die Einstellungen der neuen Mittelschichten im Süden
von Hellmuth Lange und Lars Meier
"McDonaldisierung" lautet der Titel eines anregenden Buches. Darüber hinaus aber ist Mc-Donaldisierung der Inbegriff einer verbreiteten kulturkritischen Katastrophendiagnose mit globalem Geltungsanspruch. Im Mittelpunkt steht die Sorge vor den Folgen eines Typs von Konsum, der mit der Etablierung der Hamburgerkette McDonald's in buchstäblich allen Winkeln der Welt assoziiert wird: nach amerikanischer Art standardisierter Konsum ohne Rücksicht auf gesundheitliche oder ökologische Schäden.
Nun ist die systematische Ausweitung von Konsummöglichkeiten alles andere als eine Erfindung der letzten Jahrzehnte oder gar einer einzelnen Hamburgerkette. Zum Kernbereich der Hoffnungen und Versprechungen, welche die Entfaltung der Moderne richtiger der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts von Anfang an begleitet haben, gehörte, dass sich künftig auch der einfache Bürger über das Lebensnotwendige hinaus etwas werde leisten können. Neue Konsummöglichkeiten symbolisierten wachsenden Wohlstand und persönliche Entscheidungsfreiheit.
Kaum weniger alt ist freilich die Kritik, dass die neuen Konsummöglichkeiten unvermeidlich zu allen möglichen Auswüchsen führen würden: allen voran zu Verschwendung und hemmungslosem Individualismus. Seit Veblens Theory of the Leisure Class (1899) ist das auch zu einem Thema der sozialwissenschaftlichen Reflexion geworden. Unter dem Begriff des American Way of Life sind beide Seiten seither vereint: sowohl das Versprechen eines beachtlichen Massenwohlstands als auch die Kritik an der Überbewertung des bloßen persönlichen Habens zu Lasten inhaltlicher und sozialer Sinnsetzungen. Mit der Nachhaltigkeitsdebatte rückt schließlich auch der Ressourcenverbrauch des American bezeihungsweise Western Way of Life als ein zusätzlicher Kritikpunkt in den Vordergrund.
Der Vorwurf der McDonaldisierung nimmt alles das auf, geht aber in einem entscheidenden Punkt darüber hinaus: Was bislang auf die reichen Länder des globalen Nordens begrenzt war, breitet sich nun immer schneller auch in bisherigen Entwicklungsländern aus. Mit dieser Globalisierung so die Befürchtung kommt es unweigerlich auch zur Globalisierung der damit verbundenen Probleme. Zudem droht die noch vorhandene Vielfalt und Eigenständigkeit unterschiedlicher Kulturen im Sog der westlichen Konsumkultur schließlich ganz eingeebnet zu werden.
Alles das lässt sich in der Tat mit dem Verweis auf Hamburger illustrieren: Ihr Kern besteht ungeachtet allen vegetarischen Beiwerks aus Fleisch, das einen vergleichsweise enormen "ökologischen Fußabdruck" produziert, weil etwa Wälder zugunsten von Weideland vernichtet werden und weil für den Fleischkonsum ungleich mehr Fläche für Futtergetreide benötigt wird als für den direkten Verzehr von Getreide nötig wäre. Hamburger sind außerdem ein Symbol der Verarmung der Kultur infolge von Standardisierung: Sie sind im Aussehen, im Geschmack und in den Vertriebsformen in allen Ländern der Erde (fast) gleich, und überall drohen sie andere, herkömmliche Gastronomie und damit verbundene Esskulturen zu verdrängen. Hamburger werden als Symbole für die Kritik an einer Lebensweise genutzt, die sich um Zukunftsfähigkeit nicht schert, etwa wenn eine Gesellschaft zur Mobilität vorwiegend aufs Auto setzt und damit Grünflächen zupflastert und Energie vergeudet. Western Way of Life verbreitet demnach eine Kultur rein individueller Zielstellungen und Nutzenserwägungen zulasten übergreifender Formen von sozialer Verantwortung.
Mit der "neuen Mittelklasse" in den Schwellenländern hat man den Träger dieser Kultur ausgemacht. Vor allem im Zuge der Liberalisierung vormals stärker staatlich kontrollierter Wirtschaftsstrukturen sind Käuferschichten herangewachsen, die sich im Unterschied zur Mehrheit der "alten Mittelklasse" (Varma 1998) aus der Verwaltung Gruppen, die dem mittleren Besitzbürgertum verbunden waren einen erheblichen Teil der "westlichen" Konsumgüter leisten können. Zuvor war das nur einer kleinen Oberschicht der Entwicklungs- und Schwellenländer möglich. Die Zahlen über den Umfang dieser Schicht sind schon heute beeindruckend, Und die Prognosen für ihr Wachstum schwindelerregend: Bereits im Jahr 2000 wurde die neue Mittelklasse allein für Brasilien, China und Indien auf mehr als eine halbe Milliarde Personen geschätzt.
Der Anteil dieser Gruppen an der Gesamtbevölkerung ist zwar nach wie vor vergleichsweise gering. Aber angesichts des Bevölkerungsreichtums von Ländern wie Indien und China hat die absolute Größe ihres Konsums erhebliche Folgen. So bedeutet heute schon die Zahl der PKWs in diesen Ländern Verkehrschaos und eine buchstäblich atemberaubende Belastung der Luft in den boomenden Metropolen.
Auch Wohlstandkrankheiten wie Diabetes und gesundheitsschädliche Fehlernährung sind bereits heute in Ländern wie China und Indien zu einem ernsten Problem geworden: "Ein Zweifrontenkrieg gegen Hunger und Fettleibigkeit" schrieb die International Herald Tribune im Dezember 2006. Nimmt man hinzu, dass die Fernsehwerbung und viele Serien nahezu ausschließlich auf intensiv konsumierende Musterfamilien der neuen Mittelklasse ausgerichtet sind, so erahnt man, welche enorme Dynamik des kulturellen Wandels hier mehr oder weniger flächendeckend in Gang gebracht wird. Nicht allein aus den reichen Ländern, sondern auch in Ländern des Südens häufen sich die Warnungen vor der neuen Mittelklasse: Sie seien konsumistische Raubtiere und bar jeder Art gesellschaftlichen Verantwortungsgefühls.
Wie weit ist diese Sorge gerechtfertigt? Wir haben im Frühjahr 2007 in der Stadt Bangalore, Indien, 150 indische Angestellte (vorwiegend in der Informationstechnologie und einigen Produktionsbetrieben) online zu ihren Einstellungen, ihrem Konsumverhalten und ihrem Verantwortungsbewusstsein befragt. Diese Personen sind weit überdurchschnittlich qualifiziert, ihr Verdienst liegt noch einmal deutlich über dem Durchschnitt ihrer Qualifikationsgruppe, und sie sind in vorwiegend in Deutschland beheimateten global operierenden Unternehmen beschäftigt. Die Antworten zeigen, dass Konsumverzicht erwartungsgemäß für sie kein erstrebenswertes Ziel ist. Shopping Malls gelten als attraktiv.
Mehr als die Hälfte geht gerne einkaufen und nimmt sich Zeit dafür. Aber sie tut das mehrheitlich durchaus überlegt. Und bei der Wahl des Wohngebietes und des Hauses zeigt sich: Wichtiger als die Faktoren, durch die man sich sozial von den anderen abheben kann wie Architektur, Inneneinrichtung, viel Platz und dass dort "vorwiegend Leute wie wir" wohnen (44 Prozent) sind andere, praktischere Aspekte, etwa dass die Eltern in der Nähe wohnen, dass man dort seine Ruhe hat und dass es in der Nachbarschaft viel Grün, ein Shopping Center, eine gute Schule und eine gute medizinische Versorgung gibt (rund 55 Prozent).
Ähnlich verhält es sich bei den Prioritäten, denen ein Auto genügen muss: Viel wichtiger, als dass es besonders schnell und ein ausländisches Modell ist (rund 60 Prozent), ist ein vernünftiger Preis (74 Prozent), genug Platz für die Familienmitglieder (81 Prozent), eine gute Ausstattung (86 Prozent) und am wichtigsten von allem dass es gegen den Lärm und die Abgase der Straße schützt. Auch umweltbewusste Musterknaben aus Europa dürften angesichts des täglichen Verkehrschaos von Bangalore kaum andere Prioritäten setzen von einem einzigen weiteren Punkt abgesehen: Nur 53 Prozent der Befragten wollen, dass ihr Auto die Umwelt möglichst wenig belastet.
Gleichwohl sehen sich 65 Prozent der Befragten als Exponenten eines modernen und umweltfreundlicheren Indiens. Reine Selbsttäuschung oder schlicht logische Inkonsistenz? Dazu scheint zu passen, dass 53 Prozent den Satz gutheißen, "wegen der Umwelt machte ich mir nicht allzu viele Sorgen". Andererseits weisen ihn 42 Prozent der Befragten ausdrücklich zurück.
Etwa gleich viele lehnen die These ab, Umweltschutz sei eher eine Sache des Staates als der einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Eigenverantwortung ist also sehr wohl ein Thema. Geht man der Frage nach, was das in praktischer Hinsicht bedeutet, so zeigt sich, dass ebenso viele also immerhin zwei Fünftel der Befragten angeben, bereits eine Umweltgruppe zu unterstützen. Ein knappes Drittel (30 Prozent) war darüber hinaus auch schon an "Diskussionen beteiligt, die auf die Entwicklung von Lösungen für ein spezielles Umweltproblem zielen".
Die These von der neuen Mittelklasse als einer Gruppe konsumversessener Egoisten ohne umweltbezogene Verantwortungsbereitschaft wird durch diese Befunde also nur bedingt bestätigt. Gewiss ist "Umwelt" nicht das Thema Nummer eins, aber es ist ein akzeptiertes Thema. Dabei liegt der Akzent offenkundig nicht auf Konsumverzicht als einem Weg, um Ressourcen zu sparen und Umweltbelastungen niedrig zu halten. In einem Land und in einer Schicht, in der biographisch zum ersten Mal ein Zugang zu denjenigen symbolischen Leitgütern der Moderne erreicht wird, (insbesondere Autos und größere Urlaubsreisen), ist das aber auch kaum anders zu erwarten.
Ähnlich verhält es bei der sozialen Verantwortung: Beruflicher Erfolg und die dadurch ermöglichte Lebensführung gilt nicht etwa als Startpunkt, um aus allen sozialen Verpflichtungen auszubrechen, sondern als soziale Verpflichtung eigener Art, vor allem zur Unterstützung der Eltern (84 Prozent), aber auch von "Freunden" (71 Prozent). Bewegt sich das noch im quasi privaten Nahbereich, so gibt es auch hier eine Gruppe von immerhin 40 Prozent, die ausdrücklich ein verstärktes gesellschaftliches Engagement als eine Verpflichtung ihres beruflichen Erfolgs ansieht, vor allem im Sinne der "Unterstützung von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und sozialen Gruppen".
Die Antworten der Befragten ergeben somit einen Flickenteppich aus Engagement und Zurückweisung, je nach Einzelthema. Das mag man für unzulänglich halten. Es ist aber im Kern nichts anderes als das, was man auch in Deutschland findet. Auch hier gibt es, wie etwa die Studien zum Umweltbewusstein in Deutschland zeigen, keine nur "Guten" oder "Schlechten". Die meisten versuchen, die Vielfalt der privaten und öffentlichen, der wirtschaftlichen und ökologischen, der sozialen, der kulturellen und sonstiger Zielstellungen und Verpflichtungen unter einen alltagstauglichen Hut zu bringen. Wichtig ist, dass es auch bei den indischen Interviewpartnern eine Minderheit gibt, die weitergehende Ziele in Richtung Umweltschutz und soziale Verantwortung verfolgt. Ihr Anteil variiert je nach Teilthema zwischen 20 und 40 Prozent. Das ist nicht wenig und allemal eine "kritische Masse", die ausreicht, um Veränderungen des Status quo auf die Tagesordnung zu setzen.
Wegen des Nachholbedarfs von Indien, China und vielen anderen Ländern des Südens und angesichts der großen Zahl derjenigen, die als Angehörige der neuen Mittelklasse nun "westliche" Lebensstile ausprobieren, führt das sicher zur Verschärfung einer Reihe von Problemen, vor allem beim Umweltschutz. Aber erst damit wird der ganze Preis deutlich, der für unsere "westliche" Lebensweise zu zahlen ist. Aber warum sollten die Angehörigen der neuen Mittelklasse nur unsere schlechten Angewohnheiten kopieren? Könnten sie nicht auch unsere zwischenzeitlichen Lernerfolge in Sachen Nachhaltigkeit schneller übernehmen als wir sie gelernt haben persönlich ebenso wie auf staatlicher Ebene? Nicht zuletzt, weil die Angehörigen der neuen Mittelklasse als soziale Vorbilder gelten, haben sie als Personen mit überdurchschnittlichen Chancen auch die Mittel, ihre Vorstellungen politisch geltend zu machen.
aus: der überblick 03/2007, Seite 66
AUTOR(EN):
Hellmuth Lange und Lars Meier
Hellmuth Lange ist Professor der Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität
Bremen. Sein Spezialgebiet ist die Industrie- Wissenschafts- und Umweltsoziologie.
Lars Meier ist Soziologe und Geograf und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter
an der Universität Bremen beim ARTEC-Forschungszentrum Nachhaltigkeit.
Schwerpunkte seiner Arbeit liegen in der Stadtforschung, der Kultursoziologie und
der Migrationsforschung.