Ethnischer Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik
Einige Immigrantengruppen in den USA organisieren sich in ethnischen Lobbies. Diese versuchen, auf die amerikanische Außenpolitik gegenüber ihren ehemaligen Heimatländern einzuwirken, mit unterschiedlichem Erfolg. Insgesamt darf ihr Einfluss nicht überschätzt werden. Denn um Regierung und Kongress zu bewegen, müssen die richtigen Voraussetzungen gegeben sein.
von James M. Lindsay
Schon das Tagesprogramm eines amerikanischen Außenministers macht den Einfluss der vielfältigen ethnischen Gruppen in den USA deutlich. Zwischen endlosen Stabsbesprechungen und Terminen mit hochrangigen ausländischen Besuchern stehen stets Gespräche mit einheimischen ethnischen Gruppen auf dem Programm. Dabei könnte es sich um ein Frühstücksgespräch mit Vertretern der Kubanisch-Amerikanischen Nationalstiftung über die US-Politik gegenüber Kuba, eine Rede während des Mittagessens vor Mitgliedern der “Amerikanisch-Lettischen Vereinigung” über die NATO-Erweiterung oder eine Ansprache am Abend vor dem “Amerikanisch-Jüdischen” Ausschuss über den Irak handeln. In Amerika ist globale Politik auch Innenpolitik - und Innenpolitik heißt häufig Rücksichtnahme auf ethnische Gruppen.
Das hat Tradition. Amerikaner irischer Abstammung haben im 19. Jahrhundert Lobbyarbeit bei den US-Präsidenten betrieben. Sie setzten sich für eine Unterstützung der irischen Autonomiebewegung ein und bemühten sich zusammen mit deutschstämmigen Amerikanern, die Vereinigten Staaten aus dem Ersten Weltkrieg herauszuhalten. Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts treten die ethnischen Gruppen ebenfalls wieder stärker hervor. Zuvor war die Sowjetunion zerfallen, deren Existenz die Richtung der US-Außenpolitik lange bestimmt hatte. Außerdem waren in dieser Zeit Immigranten aus allen Teilen der Welt in die USA geströmt. Kritiker sahen das neue Engagement ethnischer Gruppen mit Argwohn. Sie machten geltend, dass kleine Gruppen mit ihren Partikularinteressen die Außenpolitik zu sehr beeinflussen und oft zerfleddern.
Die Anschläge vom 11. September 2001 dämpften diese Ängste zunächst einmal, weil die US-Außenpolitik zum ersten Mal seit dem Fall der Berliner Mauer - sei es zum Besseren oder zum Schlechteren - eine klare Richtung eingeschlagen hat. Dennoch wirken ethnische Lobbies weiterhin auf die amerikanische Außenpolitik ein.
Die Geschichte ihres Einflusses ist komplizierter und interessanter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Insgesamt lässt sich sagen, dass ethnische Gruppen zwar nicht unbedeutend sind, aber auch nicht annähernd so bedeutend, wie viele Menschen vermuten. Einige dieser Gruppen gewinnen an Einfluss, während andere an Bedeutung verlieren. Bereits jetzt lässt sich erkennen, wer gewinnt und wer verliert. Dabei darf man begründeterweise annehmen, dass die US-Außenpolitk selbst letztlich zu den Gewinnern zählen wird.
Für ein Land, dessen Bürger aus aller Welt kommen, gibt es eigentlich bemerkenswert wenig ethnischen Einfluss auf die Außenpolitik. So wird man zum Beispiel in den USA keine niederländischen, französisch-kanadischen, italienischen oder norwegischen Lobbies finden. Das kann nicht damit erklärt werden, dass diese Gemeinschaften nicht groß genug sind oder zu verstreut leben. Jede der genannten Immigrantengruppen ist weit größer als die sehr aktiven aus Griechenland oder Kuba. Wie diese sind sie in einigen wenigen US-Bundesstaaten konzentriert, wo sie ihr Gewicht als Wähler in die Waagschale werfen können.
Allerdings fallen ethnische Gruppen bei der Außenpolitik nur dann ins Gewicht, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Immigranten, die als politische Flüchtlinge - wie viele Kubaner - in die USA gekommen sind, dürften die Politik gegenüber ihrem früheren Heimatland eher zu beeinflussen versuchen als solche, die auf der Suche nach einem neuen und besseren Leben eingewandert sind wie Französisch-Kanadier oder Italiener. Ethnische Gruppen, deren reale oder symbolische ehemalige Heimatländer von Nachbarn bedroht werden wie Armenien, Griechenland oder Israel, leisten eher Lobby-Arbeit als solche aus Ländern, die sicher sind wie Norwegen oder Portugal. Und es ist kein Zufall, dass prominente Lobbies wie die der armenischen, kubanischen, griechischen und jüdischen Amerikaner die wirtschaftlich erfolgreichsten ethnischen Gruppen in den USA bilden. Arme ethnische Gemeinschaften hingegen sind in der Regel zu sehr damit beschäftigt, die eigene Existenz zu sichern, als dass sie sich vornehmlich um diejenigen Sorgen machten, die sie zurückgelassen haben.
Lateinamerikanische ethnische Gruppen in den Vereinigten Staaten schlagen sich mit schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen herum und haben weder eine Exilmentalität noch sehen sie ihr Herkunftsland bedroht. Das erklärt, warum sie sich - anders als die Amerikaner kubanischer Abstammung - in der Regel nicht mit Außenpolitik befassen. Sie konzentrieren sich eher auf Themen wie Arbeitsplätze, Bürgerrechte und Immigration, denn das sind die Anliegen, die für ihre Mitglieder unmittelbar wichtig sind.
Auch indischstämmige Amerikaner engagieren sich zunehmend. Denn Indien sieht sich militärisch von Pakistan und China bedroht, und Amerikaner indischer Herkunft gehören zu den wohlhabendsten ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten. Da ihre Zahl in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen hat, sind sie auch in der Politik aktiv geworden und haben bei den letzten drei Wahlen schätzungsweise 8 Millionen US-Dollar für Wahlkampagnen auf Bundesebene ausgegeben. Der Kongress hat das aufmerksam registriert. Inzwischen hat die im Jahr 1993 gegründete indische Gruppe im US-Kongress (Congressional India Caucus) über 120 Mitglieder, fast doppelt so viele wie die Studiengruppe des Kongresses, die sich mit Deutschland befasst.
Anders gelagert ist der Fall der chinesischen Amerikaner. Historisch haben sie - wie die lateinamerikanischen ethnischen Gruppen - zur Außenpolitik geschwiegen. Dies lag bei den Amerikanern chinesischer Abstammung nicht an ihrer wirtschaftlichen Lage, denn sie waren erfolgreich. Sie haben jedoch keine gemeinsamen politischen Themen, in deren Umfeld sie sich politisch engagieren und für die sie mobilisieren könnten. China ist nicht bedroht, und im Gegensatz zu Amerikanern kubanischer Herkunft sehen sich die meisten chinesischen Amerikaner nicht als politisch Exilierte. Sie drängen nicht auf den Sturz der kommunistischen Regierung der Volksrepublik. Darüber hinaus sind chinesischstämmige Amerikaner in der Frage gespalten, ob der Handel mit China gefördert werden oder ob Druck auf Beijing ausgeübt werden sollte, damit die Regierung die Menschenrechte stärker achtet.
Ob künftig andere asiatisch-amerikanische Gruppen außenpolitisch aktiv werden, wird weitgehend vom Verhalten Chinas abhängen. Eine aggressive Außenpolitik Chinas würde Amerikaner koreanischer, vietnamesischer und kambodschanischer Abstammung alarmieren. Verhält sich China jedoch eher friedfertig, werden die US-amerikanischen Beziehungen zu diesen Ländern mehr oder weniger “normal” sein und das Bedürfnis nach Einflussnahme seitens der jeweiligen Gruppen schwinden lassen.
Sowohl innerhalb als auch außerhalb der USA wird geargwöhnt, dass ethnische Lobbies die US-Politik gegenüber ihrer alten Heimat zu stark bestimmen. Auch dieser Argwohn ist nicht neu. Doch ebenso wie die Entschlossenheit ethnischer Gruppen, auf die Außenpolitik Einfluss zu nehmen, übertrieben wird, so werden auch ihre Erfolge bei solchen Versuchen überschätzt. Betrachten wir zum Beispiel die jüdisch-amerikanische Lobby. Sie trägt zweifellos dazu bei, die US-Politik gegenüber dem Nahen Osten zu gestalten, jedoch durchaus nicht immer erfolgreich. Gegen die Interessen der jüdischen Amerikaner verkaufen die USA hochmoderne Rüstungsgüter an arabische Staaten, drängen Israel, Land gegen Frieden einzutauschen, und lehnen es ab, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen.
Dabei ist die jüdisch-amerikanische Lobby in vieler Hinsicht die Ausnahme. Andere ethnische Lobbies erreichen erheblich weniger. So hat es die osteuropäische Lobby in den fünfziger und sechziger Jahren nicht geschafft, die US-Regierungen dazu zu bringen, die Sowjetunion mit Gewalt aus den eroberten Gebieten in Osteuropa zurückzudrängen. Obwohl diese Lobby in den neunziger Jahren zur NATO-Erweiterung gedrängt hat, war ihr Einfluss nicht der ausschlaggebende Faktor für diese Entscheidung. Der griechischen Lobby ist es für kurze Zeit gelungen, den Kongress zur Verhängung eines Waffenembargos gegen die Türkei zu bewegen. Und die armenische Lobby hat Armenien, pro Kopf gerechnet, zu einem der größten Empfänger von US-amerikanischer Entwicklungshilfe gemacht. Doch weder die eine noch die andere Lobby hat die engen Bindungen der USA zur Türkei in der Sicherheitspolitik zu beeinträchtigen vermocht. Die serbisch-amerikanische Lobby hatte in den neunziger Jahren keinen Einfluss auf die Balkanpolitik der USA. Kurz: Ethnische Lobbyarbeit wird nicht automatisch in politischen Einfluss umgesetzt.
Wann aber können ethnische Lobbies ihr Ziel erreichen? Dies hängt von ihrem Charakter und dem allgemeinen politischen Kontext ab, in dem sie aktiv sind. Entscheidend sind auch die Größe der Gruppe, ihr Engagement, ihre Einheit, ihre Mittel und vor allem ihr Geschick, diese vier Qualitäten zu nutzen und einzusetzen. Die Lobby amerikanischer Juden erreicht in all diesen Punkten sehr gute Werte. Dagegen war die Lobby der arabischen Amerikaner infolge nationaler und religiöser Differenzen über die Jahre gelähmt.
Außer von allgemeinen politischen Faktoren hängt die Wirksamkeit ethnischer Lobbyarbeit auch davon ab, ob sie die jeweilige Politik bewahren oder ändern will. Einen Status quo aufrechtzuerhalten, ist in der Regel wesentlich leichter. Eine Lobby hat meist die besten Erfolgschancen, wenn eine einflussreiche Gruppe in der Regierung oder im Kongress auf ihrer Seite steht. So hat in den letzten Jahren die Unterstützung für das seit vier Jahrzehnten bestehende Embargo gegen Kuba - die Embargopolitik gab es schon vor dem Aufstieg der Lobby der kubanischen Amerikaner - abgenommen. Farmer im Mittleren Westen haben sich um die Genehmigung bemüht, ihre Waren auf dem kubanischen Markt verkaufen zu dürfen. Das Embargo besteht jedoch weiterhin, weil die Lobby der kubanischen Amerikaner dafür gesorgt hat, dass die Führungskräfte der Republikaner im Repräsentantenhaus sie weiter unterstützen.
Zweitens hängt viel davon ab, ob mächtige andere Interessen aus Politik oder Wirtschaft die Ziele einer ethnischen Lobby fördern oder ihnen entgegenstehen. Der Erfolg der jüdischen Lobby ist teilweise damit zu erklären, dass sie offene Türen einrennt. Sie tritt für eine Politik ein, die die meisten Amerikaner ohnehin befürworten. Israel gilt als stabile, pro westliche Demokratie in einer Region, in der Regierungen häufig instabil, autokratisch und antiamerikanisch sind. Umgekehrt gelingt es armenischstämmigen Amerikanern nicht, den Kongress dazu zu bringen, die Türkei zu kritisieren, weil sie sich bisher nicht für den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges und in der Zeit danach entschuldigt hat. Ölgesellschaften, Rüstungsunternehmen und das US-Militär behaupten, ein solcher Schritt würde ihre Interessen in der Türkei gefährden. Ebenso fanden Amerikaner serbischer Abstammung kaum Verbündete bei ihren Versuchen, eine der Regierung von Slobodan Milosevic geneigtere Haltung zu erzeugen.
Schließlich sind auch Ereignisse im Ausland für ethnische Lobbies von Bedeutung. Fidel Castros Hass auf die Vereinigten Staaten hat die Lobby der kubanischen Amerikaner gestärkt. Hätte Havanna sich um eine Annäherung an Washington bemüht, hätten kubanischstämmige Amerikaner ihren Kampf für die Beibehaltung des Embargos gegen Kuba womöglich verloren. Die griechische Lobby war in den siebziger Jahren am mächtigsten, als die türkische Invasion in Zypern es politisch schwerer machte, eine pro-türkische Politik zu verteidigen. Aufgrund der Ereignisse vom 11. September 2001 sind die radikalen Gruppen amerikanischer Juden gestärkt worden. Die Position von arabischen Interessengruppen in den USA dagegen ist hinsichtlich des Themas, wie Palästinenser von Israel behandelt werden, geschwächt worden. Viele Amerikaner sahen die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon als Bestätigung dafür, dass die Vereinigten Staaten und Israel der gleichen Bedrohung ausgesetzt seien.
Wahrscheinlich werden die indischstämmigen Amerikaner in der US-amerikanischen Politik künftig eine bedeutendere Rolle spielen. Sie sind wohlhabend und an Indien interessiert. Chinas wachsende Macht und Indiens stärkere Orientierung an der Marktwirtschaft bedeuten, dass ihre Aufrufe, die Außenpolitik freundlicher gegenüber Indien zu gestalten, große Anziehungskraft haben. Amerikaner pakistanischer Herkunft werden diese Hinwendung zu Indien zu verhindern versuchen, und der Kampf gegen den Terrorismus hat Pakistan in Washington erneute geopolitische Bedeutung gegeben. Aus Pakistan stammende Amerikaner aber haben drei Nachteile. Erstens ist ihre Gemeinschaft nur ein Zehntel so groß wie die der aus Indien stammenden Amerikaner, zweitens unterhält Pakistan enge Bindungen zu China und drittens ist Pakistan im Gegensatz zu Indien keine Demokratie.
Die Lobby der aus China stammenden Amerikaner dürfte kaum mehr Einfluss gewinnen, weil sich dann möglicherweise die Beziehungen der USA zu China verschlechtern würden. Sollte Chinas Politik aggressiver werden, würde es chinesischstämmigen Amerikanern schwerfallen, gegenüber Beijing eine versöhnliche Haltung beizubehalten. Sie und ihre Anhänger würden sich dem politisch schädigenden Vorwurf aussetzen, Amerikas Gegnern zu helfen. Diese Vorhaltung könnte schwer wiegen. Denn Umfragen zufolge hegt jeder vierte Amerikaner sehr negative Einstellungen gegenüber Amerikanern chinesischer Herkunft und sogar jeder dritte bezweifelt deren Loyalität gegenüber den Vereinigten Staaten. Ein streitsüchtigeres China würde andere asiatische ethnische Gruppen stärken, die Forderungen nach einer versöhnlichen Politik ablehnen. Wenn hingegen die chinesisch-amerikanischen Beziehungen in den nächsten Jahren den Weg der Zusammenarbeit gehen, wird chinesischstämmigen Amerikanern der Anreiz genommen, sich in die Außenpolitik einzumischen.
Fast jeder siebte US-Amerikaner ist hispanischer Abstammung. Allein die Größe dieser Gruppe würde ihr Gewicht verleihen, wenn sie begänne, sich mit Außenpolitik zu befassen. Die Frage ist, ob eine lateinamerikanische Lobby politisch geeint handeln kann. Anliegen von Amerikanern aus El Salvador könnten für jene aus Kuba oder Mexiko belanglos sein. Selbst innerhalb von Gruppen eines Landes könnte es zu Spaltungen kommen. Die einst so solide Lobby der Amerikaner aus Kuba differenziert sich nunmehr nach Generationen: Die jüngeren kubanischen Amerikaner wenden sich von den unnachgiebigen Einstellungen ihrer Eltern ab. Bei Amerikanern mexikanischer Abstammung könnte es zu einer Trennung nach Herkunftsregionen kommen oder, falls Mexiko eine lebendige Mehrparteien-Demokratie wird, vielleicht sogar nach ideologischen Ausrichtungen.
Es ist auch möglich, dass einige kleine ethnische Gemeinschaften die Politik der USA gegenüber ihrem ehemaligen Heimatland entscheidend prägen. Somali-Gruppen in den USA könnten eine starke Rolle bei der US-Politik gegenüber den Herrschern in Mogadischu spielen. Hmong-Amerikaner aus Laos könnten die Politik gegenüber der Regierung in Vientiane entscheidend mitbestimmen. Angesichts des geringen Wählerpotentials dieser Gruppen wird sich ihr eventueller Einfluss weitgehend daraus ergeben, dass sich niemand sonst für die Beziehungen der USA zu ihrem Herkunftsland interessiert. Keineswegs besitzen sie einen magischen Einfluss auf die US-Außenpolitik.
Insgesamt wecken ethnische Lobbies Argwohn. Viele US-Bürger fürchten, dass Grüppchen und Gruppen die Obliegenheiten ihres früheren Heimatlandes über die der Vereinigten Staaten stellen könnten. Ob dies zutrifft, lässt sich unmöglich sagen. Was Amerikas nationales Interesse ist und wie man das am besten fördert, lässt sich nicht objektiv feststellen. Man kann unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob die US-Unterstützung für Israel übertrieben ist, ob Washington eher Ankara oder eher Athen zuneigen sollte oder ob die NATO-Erweiterung vernünftig ist. Deshalb kann der Vorwurf, ethnische Lobbies könnten ihre eigenen Wünsche über die nationalen Anliegen stellen, auch gegen jede andere Interessengruppe in den Vereinigten Staaten erhoben werden.
Klar ist, dass sich viele ausländische Regierungen gerne ethnischer Lobbies bedienen würden, um auf die US-Politik Einfluss zu nehmen. Armenische, griechische, israelische und mexikanische Regierungsvertreter, die die USA besuchen, treffen routinemäßig mit Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe zusammen, um deren Unterstützung zu gewinnen. Der Präsident der Dominikanischen Republik, Fernández Reyna, ging im September 1996 so weit, die in den USA lebenden Dominikaner dazu aufzufordern, US-Staatsbürger zu werden. Auf diese Weise könnten sie das Wahlrecht erhalten und voraussichtlich Einfluss auf die US-Politik gegenüber der Dominikanischen Republik nehmen. Manchen ethnischen Aktivisten sind Wohl und Wehe ihres ehemaligen Heimatlandes vermutlich tatsächlich ein größeres Anliegen als das der Vereinigten Staaten.
Dennoch wird die Sorge, dass ethnische Lobbies US-Interessen opfern, leicht übertrieben. Eine Politik, die anderen Ländern zugute kommt, schadet nicht unbedingt den Vereinigten Staaten. Sie könnte diesen sogar nützlich sein. Man braucht kein Amerikaner indischer Abstammung zu sein, um daran zu glauben, dass bessere Beziehungen zu Neu-Delhi den US-Interessen dienen. Und nicht nur Litauer sind für die NATO-Erweiterung. Außerdem gehen ethnische Lobbies nicht immer im Gleichschritt mit der Politik ihres früheren Heimatlandes. In den achtziger Jahren zum Beispiel waren die Beziehungen vieler jüdischer Gruppen zu Israel wegen starker Differenzen über die israelische Politik gespannt. Bei der Frage, ob der Handel mit Mexiko liberalisiert werden sollte, waren aus Mexiko stammende Amerikaner stärker daran interessiert, welche Auswirkungen diese Veränderungen auf ihr Leben in den USA hätte, als daran, wie sich dies in Mexiko auswirken würde.
Wenn man sich zu stark auf die Frage nach der Loyalität ethnischer Lobbies konzentriert, übersieht man leicht die Beiträge, die diese zur US-Außenpolitik leisten. Sie können als Vermittler ausländische Perspektiven in die amerikanische Politik einbringen. Dies funktioniert auch - vielleicht sogar noch stärker - in entgegengesetzter Richtung. Ethnische Lobbies können erheblich dazu beitragen, amerikanische Werte und Interessen in ihren alten Heimatländern zu verbreiten. Dabei drängen die Gruppen die Regierungen ihrer früheren Heimat häufig, sich an den politischen Realitäten der USA auszurichten. Sie erwarten von den Regierungen ihrer Herkunftsländer die Einhaltung amerikanischer Normen in allen Bereichen, angefangen von der Beachtung der Menschenrechte bis hin zu guter Regierungspraxis und solider Wirtschaftspolitik.
Letztlich soll nicht verschwiegen werden, dass ethnische Lobbies die Arbeit von politischen Entscheidungsträgern in den Vereinigten Staaten durchaus erschweren können. Das ist zumindest der Fall, wenn sie gegen Pläne der Regierung oder des Kongresses opponieren. In der Praxis stellen Entscheidungsträger jedoch häufig fest, dass ethnische Lobbies nützliche Verbündete sind. Die Regierung von Bill Clinton hat lateinamerikanische Gruppen mit Erfolg dafür geworben, sich für das Freihandelsabkommen mit Mexiko und Kanada (NAFTA) einzusetzen. Ebenfalls bediente sich Clinton der osteuropäischen Gruppen, um die Zustimmung des Senats zur NATO- Osterweiterung zu sichern. Grundsätzlich stehen ethnische Lobbies vor den gleichen Zwängen wie alle Interessengruppen in den Vereinigten Staaten. Was immer man von der Lobbyarbeit ethnischer Gruppen halten mag, eines lässt sich festhalten: dass sie die amerikanische Außenpolitik nicht kapern, sondern eher bereichern.
aus: der überblick 03/2004, Seite 42
AUTOR(EN):
James M. Lindsay:
James M. Lindsay ist Inhaber des "Maurice R. Greenberg-Lehrstuhls" sowie Vizepräsident und Studiendirektor im Rat für Auswärtige Beziehungen in New York. Der Politologe und Ökonom beschäftigt sich mit den Schwerpunktthemen amerikanische Außenpolitik, der Arbeit des Kongresses, Medien und öffentliche Meinungsbildung.