Warum eine Klage?
Jedes Jahr verlassen viele weiße Südafrikaner ihr Land, weil sie für sich und ihre Kinder dort keine Zukunft mehr sehen. Professor R. W. Johnson, der 1995 aus Europa nach Südafrika zurückgekehrt ist, hat in einer “afrikanischen Klage” beschrieben, was ihn in einigen afrikanischen Ländern so beunruhigt (vergl. “der überblick” 4/2003). Darauf antwortet hier Professor Nico Smith, der noch unter dem Apartheidregime als Pfarrer in einem schwarzen Township gelebt und gearbeitet hat.
von Nico Smith
Den Beitrag “Eine afrikanische Klage” von Richard William Johnson (“der überblick” 4/2003) habe ich mit äußerstem Interesse gelesen. Ich bin selbst ein weißer Afrikaner. Was Johnson über deren zukünftige Aussichten schreibt, ist in der Tat nicht sehr ermutigend. Angesichts der gegenwärtigen sozioökonomischen und politischen Bedingungen in Afrika - auch in Südafrika - gibt es noch mehr Beweggründe für Weiße, den Kontinent zu verlassen, als Johnson erwähnte.
Gemessen an unseren westlichen Lebens-, sozialen, ökonomischen und politischen Standards könnte man die Art und Weise, wie Afrikaner leben und wie viele Staaten in Afrika regiert werden, in gewisser Hinsicht als reinen Wahnsinn betrachten, was es für Westler nicht gerade günstig erscheinen lässt, Teil davon zu sein. Die Lücke zwischen Westlern und Afrikanern ist kulturell und psychologisch gesehen zu groß, um sie tatsächlich überbrücken zu können. Afrika erscheint dem westlichen Denken fremd und zuwider. Daher kann man sich nicht vorstellen, dass diese beiden verschiedenen Welten gegenwärtig in ein und derselben Gesellschaft zu einer lebensfähigen Koexistenz geformt werden können.
Ich sage dies, weil ich selbst in meinem Denken und meiner Kultur ein Westler bin. Ich bin ein Nachfahre in der siebten Generation eines dänischen Auswanderers, der sich im Jahre 1762 in Südafrika niedergelassen hatte. Ursprünglich lautete mein Nachname Schmidt. Mein Urahn stammte aus Schleswig-Holstein, das damals, als er Europa verließ, noch zu Dänemark gehörte. Hier in Afrika erwarb er eine 8632 Morgen große Farm, für die er keinen einzigen Cent zahlte. Sein Sohn und danach seine drei Enkel erbten die Großfarm, die in einem Gebiet liegt, dass später Graaff-Reinet genannt wurde. Meine Vorfahren haben wesentlich zur Gründung dieser Stadt und auch ganz entscheidend zur kulturellen Entwicklung und Bildung dieser Region beigetragen. Es bleibt allerdings eine Tatsache, dass sie das Land für ihre Farm von den Khoi-Khoi genommen haben, ohne ihnen dafür etwas gezahlt zu haben. Von dieser Ungerechtigkeit haben viele Generationen meiner Familie profitiert. Mein Vater konnte auf die Universität von Stellenbosch gehen und wurde später Schuldirektor, und ich selbst konnte an der Universität von Pretoria studieren und mich zum Pfarrer der Niederländisch-Reformierten Kirche in Südafrika ausbilden lassen.
Unser Familienname wurde zwar nach der Übernahme des Kaps im Jahre 1806 durch die Briten in Smith, einem Jahrhunderte alten Englischen Nachnahmen, geändert, doch wir gehörten der Afrikaander-Gemeinschaft (Buren) in Südafrika an, die Afrikaans als ihre Heimatsprache ansah. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der der Afrikaander-Nationalismus als alleingültige Sichtweise des Lebens hochgehalten wurde. Der Onkel meines Vaters gehörte zu den ersten Mitgliedern des Kap-Parlaments. Er vertrat die erste politische Partei der Buren, den Afrikaner Bond. Mein Vater war zwar kein fanatischer Anhänger des Burennationalismus, doch zeit seines Lebens wählte er deren Nationale Partei. Meine Mutter (geborene Naude) hatte französisch-hugenottische Vorfahren, die 1688 nach Südafrika kamen, und war viel stärker dem Burennationalismus verhaftet. Das lag an ihrer Kindheitserfahrung: Während des Englisch-Burischen Krieges (1899-1902) wurde sie im Alter von sechs Jahren gemeinsam mit ihrer neunjährigen Schwester und ihrer Mutter in ein britisches Konzentrationslager gesteckt. Ihre Mutter starb in dem Lager wegen der schlechten gesundheitlichen Verhältnisse dort. Meine Mutter konnte deshalb ihren Groll auf die Engländer nicht überwinden und weigerte sich zeit ihres Lebens, Englisch zu sprechen. In einer solchen von starken burischen Gefühlen geprägten Umgebung lag es nahe, dass ich den selben Gedankengängen folgte. Kein Wunder also, dass ich vierzig Jahre lang ein überzeugter Anhänger der Apartheidideologie war.
Dies alles mag erklären, warum ich mich als Euro-Afrikaner betrachte. Ich wurde auf dem afrikanischen Kontinent geboren und bin dort aufgewachsen, doch ich bin nie Teil von ihm geworden. Meinem Volk, den Buren, ist es gelungen, eine eigene Welt mit eigener Sprache zu kreieren. Geboren auf afrikanischem Boden wurde Afrikaans eine der jüngsten Sprachen der Welt. Es war diese Sprache, die der Welt die Bürde des Wortes Apartheid auflastete, das Afrikaans-Wort für “Getrenntsein”. Die Buren wurden somit Teil eines Kontinents, dem sie vollkommen fremd blieben. Sie haben über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahrhunderten ihre eigene Welt geschaffen und die Bevölkerung Afrikas in brutaler Weise von dieser Welt ausgeschlossen.
Nicht dass auch andere Gruppen aus dem Westen, die sich zu Zeiten des Kolonialismus in fremden Ländern niederließen, so gehandelt hätten. Als Angehörige des Abendlandes betrachteten sie sich schließlich als allen anderen menschlichen Wesen überlegen. Doch die Buren waren die einzige westliche Bevölkerungsgruppe, die sich zu einem indigenen Stamm in Afrika entwickelt haben. Sie haben alle ihre Bindungen zu ihren Herkunftsländern gekappt und verharrten in Afrika in dem Glauben, von Gott auserlesen zu sein, für Recht und Ordnung unter diesen “wilden und brutalen” Menschen zu sorgen.
Wie ich anfangs schon erwähnt habe, gibt es in der Tat viele Beweggründe dafür, dass Weiße nicht in Afrika bleiben wollen und können. Sie - und ich beziehe mich ausdrücklich auf die Afrikaander - haben ihr Ziel erreicht, nämlich über die Bevölkerung Afrikas zu herrschen, um auf diesem “dunklen” Kontinent ihre Normen und Werte festzusetzen. Um dies Ziel zu erreichen, mussten sie über die Afrikaner herrschen und sie in eine Form zwingen, die sie, die Afrikaander, als geeignet für sie hielten. In dem kürzlich von dem renommierten südafrikanischen Historiker Hermann Giliomee, selbst ein Afrikaander, veröffentlichen Buch “Die Afrikaander: Biographie eines Volkes” versucht dieser darauf hinzuweisen, dass das Leitmotiv in der Geschichte der Buren der Kampf ums Überleben war. Das mag Teil ihrer geschichtlichen Wahrheit sein. Doch der andere Teil ihrer Geschichte kann auch als Kampf um die Herrschaft über die Völker Afrikas interpretiert werden. Diese Herrschaft haben sie nur dank der Durchsetzung der politischen Ideologie der Apartheid vollständig erlangen können. Die Buren haben niemals die Möglichkeit in Erwägung gezogen, eines Tages ihre Macht zu verlieren und einer schwarzen Regierung unterworfen zu sein.
Ich glaube, die meisten Weißen würden liebend gerne in Afrika bleiben trotz all der Nachteile, die sie in der neuen Gesellschaft erfahren. Doch für Südafrika zu leiden oder gar zu sterben, so weit würden sie nicht gehen. Wobei die Weißen im neuen Südafrika ja nun wirklich nicht viel zu leiden haben. Wenn man sich die “Schlösser” vor Augen hält, die sie immer noch für sich errichten - wenn auch hinter hohen Mauern und elektrischen Zäunen -, dann kann man sich nur schwer vorstellen, dass sie jemals in Erwägung ziehen, Südafrika zu verlassen. Fragt man jene, die sich so sehr über das neue Südafrika beklagen, was sie verloren haben oder unter was sie seit 1994 leiden, können sie keine konkrete Antwort darauf geben. Sie mussten weder eines oder zwei ihrer Autos verkaufen, noch mussten sie ihren Swimmingpool aufgeben usw. Und doch beklagen sie sich weiter - vor allem wegen der Politik der affirmative action der schwarzen Regierung.
Doch komme ich zu dem Artikel “Eine afrikanische Klage”: Johnson benutzt starken Tobak. Und starker Tobak bedeutet: Er weiß, was zu tun ist. Wir sollten unseren Tonfall eher mäßigen, wenn wir über afrikanische Länder und ihre Führer reden. Wir Westler haben zu viele Leichen im Keller, um auf die Leichen im Keller Afrikas hinzuweisen, als wären die afrikanischen Leichen viel schlimmer als die europäischen. Johnson ist Journalist, und als solcher, denke ich, hat er wohl gelernt, dass man, um gelesen zu werden, starke Worte benutzen muss. Es ist sein Recht als Journalist, dies zu tun. Doch ich würde es vorziehen, dass die Weißen viel leisere Töne anschlagen, wenn sie über Afrika sprechen und schreiben.
Aus welchen Gründen sollten die Weißen in Afrika bleiben - oder besser, fühlen sie sich verpflichtet zu bleiben? Ich beziehe mich dabei besonders auf Südafrika. Südafrika besaß als letztes Land in Afrika, das dekolonisiert wurde, das Privileg (oder je nach Gesichtspunkt eben die Last), über eine starke Gruppe Weißer zu verfügen, die sich in kreativer Weise an der Entwicklung des Landes als afrikanischem Land beteiligt haben. Von daher ist die Frage des Bleibens der Weißen nicht nur für sie selbst, sondern auch für Südafrika eine entscheidende Frage. Ehrlich gesagt gibt es Augenblicke, in denen ich eher denke, die Weißen sollten lieber gehen. In gewisser Hinsicht fallen sie mit ihrer notorischen Unzufriedenheit über die Entwicklung des Landes Südafrika immer noch zur Last. Lassen wir sie doch gehen und Afrika verlassen und sich um ihre eigene Zukunft kümmern. Afrika wird ohne die Weißen ja nicht von der Landkarte verschwinden.
Manchmal glaube ich, dass es für Weiße gar nicht möglich ist, in Afrika zu bleiben. Ihre Vorstellungen über Afrika und seine Menschen sind derart verquer geworden, dass sie sich gar nicht mehr darauf einstellen können, ihrem Verbleib in Afrika etwas Sinnvolles abzugewinnen. Sie werden weiterhin denken, Afrika habe keine Zukunft und sie würden nur ihre Zeit und Energie verschwenden, wenn sie blieben. Sie werden sich auch in Zukunft über all die Übel Afrikas auslassen und sich sogar freuen, wenn dort mal wieder etwas schief läuft. Das brauchen sie nämlich, um ihre Vorstellungen von Afrika bestätigt zu bekommen: “Wir haben es doch gesagt.” Bei derartigem Denken und Gerede fühlen sich die Menschen wohl, vielleicht braucht die menschliche Psyche eine solche Rechtfertigung für ihre schlechten und destruktiven Gedanken. Doch genau dieses Gerede wird die Weißen schließlich dazu veranlassen, Afrika, so wie es Johnson in gewisser Hinsicht vorhersagt, als Flüchtlinge zu verlassen.
Wenn allerdings die eigenen Kinder beginnen, zu fragen, ob sie in Afrika bleiben oder rechtzeitig gehen sollen, dann fängt man an, sich doch ernsthaft zu überlegen, mit welchen Argumenten man sie zum Bleiben bewegen kann. Ich bin zu dem Schluss gekommen und bin mittlerweile überzeugt davon, dass die Weißen nicht nur in Afrika bleiben sollten, sondern sogar dazu verpflichtet sind. Für diese Überzeugung könnte ich viele Gründe nennen, doch ich möchte hier nur zwei zur Debatte stellen.
Der erste ist, dass Afrika für die Weißen als Westler in Afrika eine wirkliche Herausforderung darstellt. Die westliche Identität ist ja durch ihre Geschichte und den Glauben verkommen, sie seien höherstehende Menschen, denen die Aufgabe obliegt, die Dinge am Laufen zu halten. In dieser Hinsicht stellt die westliche Identität ein reales theologisches Problem des Christentums dar. Wie kam es, dass die Abendländler christianisiert wurden und sich entschieden, der historischen Figur zu folgen, die von sich behauptete, der Sohn Gottes zu sein, die aber auf diese Welt nicht als Herrscher, sondern als Diener kam? Ist nicht das Wesen der Lehre Jesu das Dienen - dass die Menschen bereit sein sollten, zu dienen und nicht über andere zu herrschen? Was ist während der Entwicklung der so genannten christlichen Kultur des Abendlandes geschehen, dass daraus eine Mentalität des Überlegenseins und Herrschens entstanden ist? Wieso konnte die christliche Tugend des Dienens ihren Wert in der westlichen Kultur verlieren? Oder hat Religion in Wirklichkeit nur einen wenig bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung von Kulturen? Mit solchen Fragen werden sich alle Religionen auseinanderzusetzen haben. Wohnt Religion womöglich ein Element von Aggressivität inne? Veranlasst Religion die Menschen nicht zu dem Glauben, besser als andere und von Gott berufen worden zu sein, die Welt entsprechend ihrem Verständnis des Willens ihres Gottes zu formen?
Wahrscheinlich muss sich gerade die christliche Religion äußerst ernsthaft diesem theologischem Problem stellen. Schließlich waren es Vertreter der so genannten christlichen Welt, die ganz fest an ihre Berufung glaubten und daraus ihr Recht ableiteten, die Welt nicht nur zu christianisieren, sondern auch über sie zu herrschen. In dieser Hinsicht stehen die Westler in Afrika und ganz besonders die Buren, die so vehement für sich beanspruchen, ein Christenvolk zu sein, vor der Frage, ob sie bereit sind, als Dienende in Afrika zu bleiben, Afrika als ihren Bestimmungsort anzunehmen und an seiner Entwicklung in welcher Weise auch immer teilzunehmen. Ihre Entscheidung hat weitreichende Folgen: Sollten sie sich dem verweigern, hat Afrika in der Tat das Recht zu fragen, ob es einen Unterschied macht, Christ zu sein.
Das Verbleiben der Westler in Afrika bedeutet somit eine enorme Herausforderung für die Qualität der menschlichen Integrität der Westler. Ihre Entscheidung, in Afrika zu bleiben oder den Kontinent zu verlassen, wird ein Anzeichen dafür sein, wie sie ihr Leben bewerten. Denken sie nur an ihre eigenen Interessen und Vorteile oder sind sie bereit, sich dem Denken des Landes und all seiner Menschen anzuschließen und ihren möglichen Beitrag zu leisten? Das mag sehr idealistisch klingen, doch ich weigere mich zu glauben, die Menschen wären nicht in der Lage, ihre Einstellung zu ändern und unerwarteten neuen Gedankengängen und Verhalten zu folgen. Das heutige Afrika ist tatsächlich ein wahrer Test für die Weißen, ihre allzeit behauptete Überlegenheit unter Beweis zu stellen und sich willens und fähig zu zeigen, die Herausforderungen Afrikas anzunehmen.
Ein zweiter Grund dafür, dass ich glaube, die Weißen sollten in Afrika bleiben, ist, dass sie zu viele ungelöste Angelegenheiten und unbezahlte Schulden aus der Vergangenheit haben, die sie noch angehen müssen. Die Afrikaner waren enorm freundlich zu den Weißen während der ganzen langen Geschichte ihrer Präsenz auf dem Kontinent. Sie haben für so lange die westliche Mentalität willig ertragen und es den westlichen Kolonisatoren so lange erlaubt, den Reichtum Afrikas zu “stehlen”. All die früheren Kolonialmächte Europas haben an Afrika noch gewaltige Schulden zurückzubezahlen. Wenn sie Integrität zeigen wollen, dann werden sie die Armut in Afrika zu ihrer wichtigsten Herausforderung machen und dabei helfen, Wege zu einer gerechteren Verteilung des Reichtums in der Welt zu finden.
Ich habe erwähnt, dass meine Vorfahren gewaltige Landgüter halten konnten, ohne eine Cent dafür zu bezahlen. Das gilt für viele Afrikaander-Familien. Was meine Vorfahren durch ihre Emigration nach Südafrika gewonnen haben und auch all die Vorteile, die meine Familie durch die Freiheit und den Reichtum, den Afrika uns bot, erreicht hat, ist im Wesentlichen auch eine Schuld, die wir zurückzahlen müssen. Der einzige Weg, sie zurückzuzahlen, ist, uns Afrika zur Verfügung zu stellen, die Mission anzunehmen, die wir zu erfüllen haben.
Warum hat sich meine Einstellung zu Afrika geändert, wo ich doch gelernt hatte, dass die schwarzen Menschen den Weißen unterlegen seien? Mir kommt dabei ein Erlebnis in den Sinn, das ich hatte, als ich ein Kleinkind von drei oder vier Jahren war: Jeden Montag morgen kam damals eine schwarze Frau zu uns, um im Waschbecken im Hinterhof unsere Kleider zu waschen. Ich war noch nicht in der Schule und ging eines Tages hinaus zur alten Sina, stand bei ihr und redete mit ihr in meiner kindlichen Art. Meine Mutter rief mich daraufhin ins Haus zurück und erklärte mir, ich solle niemals bei einer schwarzen Person stehen und mit ihr reden. Man rede nur zu ihnen, wenn man ihnen einen Auftrag erteile.
Seither wusste ich, dass Weiße und Schwarze unterschiedlich sind und man Schwarzen fern bleiben sollte. Sie hatten gewisse Aufgaben für Weiße zu erfüllen und waren keine Menschen, mit denen man sich unterhielt. Einen solch funktionalen Blick auf Menschen zu entwickeln, gehört zu den gefährlichsten Dingen, die in einer Gesellschaft geschehen können. Als Funktionen konnten wir sie von uns trennen und sie von den Einrichtungen fernhalten, bei deren Schaffung sie uns geholfen haben. Nach Ansicht von Historikern hat dieser funktionale Blick auf die Juden in Deutschland - dass sie nämlich eine schlechte Funktion erfüllen würden - dazu geführt, dass sie schließlich nicht mehr als Mitmenschen betrachtet wurden, sondern nur noch als Funktionen, die es zu eliminieren galt.
Zwei außerordentliche Erfahrungen haben mich aber dazu gebracht, über meine Anwesenheit in Afrika nachzudenken. Die erste reicht zurück bis ins Jahr 1962 in Nairobi, Kenia. Ich begleitete damals eine Gruppe von 40 burischen Studenten, die an einer Konferenz christlicher Studenten aus ganz Afrika teilnahmen. Die weißen Studenten aus Südafrika machten sich Sorgen über die damalige Meinung zu Südafrika. Ihre Studienkollegen aus Afrika waren derart mit Politik beschäftigt, dass fast jedes Gespräch mit ihnen um Politik ging. Fünf der burischen Studenten baten mich, eine persönliche Diskussion mit dem Konferenzpräsidenten, Dr. Karefa-Smart, zu organisieren, der damals Sierra Leones Außenminister war. Zudem war er Arzt und Pfarrer der methodistischen Kirche. Er diskutierte lange mit uns und sagte den Studenten, dass “hinter den Kulissen Afrikas”, wo er sich normalerweise aufhielt, nicht gerade rosig über die Zukunft der Weißen in Südafrika gesprochen würde. Er versicherte uns, dass Afrika keine Ruhe geben werde, bis jede Form von weißer Dominanz in Afrika beseitigt sei. Wir müssten uns darauf einstellen, früher oder später unter einer schwarzen Regierung zu leben.
Die Studenten fühlten sich eher entmutigt und geschockt. Schließlich fragten sie ihn, was er ihnen raten würde - Afrika zu verlassen oder da zu bleiben. Er hielt für ein paar Minuten inne, dann sagte er: “Wenn ihr Europäer bleiben wollt, solltet ihr Afrika besser verlassen. Es wird in Zukunft keinen Platz für Europäer in Afrika geben, solange sie beanspruchen, nicht zu Afrika zu gehören. Wenn ihr aber bereit seid, weiße Afrikaner zu werden, dann bleibt bitte in Afrika. Afrika braucht euch.” Ein Student fragte nach: “Was meinen Sie denn damit, wir müssten weiße Afrikaner werden?” Er antwortete: “Ich meine damit, dass ihr keine Privilegien und Rechte für euch beansprucht, nur weil ihr weiß seid, sondern dass ihr allen Afrikanern erlaubt, dieselben Gelegenheiten und Privilegien zu genießen, die ihr für euch beansprucht.”
Geknickt über das eben Gehörte verließen wir Dr. Karefa-Smarts Zimmer. Doch ich behielt seine Worte tief in meinem Herzen, denn mir wurde gewahr, dass das, was er sagte, wahr war. Es lag an uns, ob wir seinem Rat folgen wollten. Traurig genug, dass alle fünf Studenten zwar Pfarrer der weißen Niederländisch-Reformierten Kirche wurden, aber keiner von ihnen willens war, seinem Rat zu folgen und in den Gemeinden zu einer veränderten Haltung gegenüber Afrika und seinen Menschen aufzurufen. Ein zweiter Grund für meinen Wandel geht auf 1963 zurück. Ich besuchte damals Europa, um bei verschiedenen Missionsgesellschaften und Kirchenämtern über Missionsverwaltung zu forschen. In Basel arrangierte der Generalsekretär der Basler Mission, Dr. Raaflaub, ein Treffen mit Karl Barth, den ich damals unbedingt sprechen wollte. Barth wollte sich mit mir über die Rassenfrage in Südafrika unterhalten. In dem Wissen, dass er ein vehementer Apartheidgegner war, wich ich seinen Fragen aus und versuchte das Gespräch auf zukünftige Trends in der europäischen Theologie zu lenken. Barth war dazu auch bereit und unsere Unterredung lief eineinhalb Stunden, ohne dass er wieder auf die Situation in Südafrika zu sprechen kam.
Doch bevor ich ging, fragte er mich, ob ich wirklich frei wäre, das Evangelium in Südafrika zu predigen. Wiederum wich ich aus und gab ihm eine nur vage Antwort. Barth aber insistierte hartnäckig und wiederholte noch drei Mal seine Frage: Wäre ich von meinen kulturellen und traditionellen Bindungen her gesehen wirklich frei, das zu predigen, was das Evangelium lehre, auch wenn das den Glaubensvorstellungen und dem Handeln meiner Regierung widerspräche? Ich konnte ihm keine definitive Antwort geben und sagte nur, ich würde hoffen so zu handeln, wenn ich vor die Wahl gestellt würde.
Barths Frage: “Sind sie frei?” blieb in meinem Gedächtnis haften. Doch erst zehn Jahre später kam ich zu dem Schluss, dass ich nicht frei war und mir das auch eingestehen müsste. Nach dieser Selbsterkenntnis trat ich aus dem Afrikaner Broederbond aus, einer nur Buren in hohen Positionen vorbehaltenen mächtigen Geheimorganisation. Seit ich mich in meinen Gedanken frei fühlte, besaß ich auch die Courage, mich gegen die Apartheid zu stellen. 1981 legte ich meine Professur an der Universität von Stellenbosch nieder und folgte dem Ruf an eine schwarze Kirche in Mamelodi, einem schwarzen Township bei Pretoria. Erst durch mein Leben und Wirken in diesem schwarzen Township konnte ich wirklich erfahren, was Apartheid Millionen von Schwarzen angetan hat und wie unakzeptabel wir Weißen uns für die afrikanische Bevölkerung gemacht haben.
Seit ich einen Weg eingeschlagen habe, den Weiße bislang nur selten gegangen sind, habe ich so viel über Afrika erfahren und wurde durch meinen Kontakt mit der afrikanischen Bevölkerung so sehr bereichert. Zu Apartheidzeiten unter ihnen zu leben war ein harter Weg. Doch wie C.S. Lewis es ausdrückte: “Erfahrung ist ein brutaler Lehrer. Doch Gott weiß, es ist der einzige Weg, auf dem wir lernen.” Und ich habe wirklich viel gelernt, seit mich mein Weg ins Herz Afrikas geführt hat. Ich habe entdeckt, dass ich zu Afrika gehöre, und will auch in Zukunft mit den Menschen Afrikas gemeinsam gehen. Sie haben meinem Leben einen Sinn gegeben. Ich lerne immer noch und bin dankbar dafür, dass ich in Afrika und nicht anderswo durch diesen Lernprozess gehen kann. Auf diesem Weg kann ich mich immer noch finden und lerne stets neue wichtige Lektionen aus Afrika - gute und schlechte.
aus: der überblick 01/2004, Seite 94
AUTOR(EN):
Nico Smith:
Professor Nico Smith hat noch in der Apartheidszeit als Pfarrer im Township Mamelodi bei Pretoria gearbeitet und gewohnt. Er lebt jetzt im Ruhestand, hält aber noch Vorlesungen an der Universität von Südafrika und berät Gemeinden in ihrem Kampf gegen Rassismus innerhalb der Kirche.