Dr. Elisabeth Fries und die Arbeit von refugio Stuttgart
refugio Stuttgart – allein im vergangenen Jahr brachten 116 Menschen aus aller Welt meist unsichtbare, aber umso schwerere Lasten mit in die hellen Räume im vierten Obergeschoss. Wer in die Stuttgarter Kontaktstelle für Folterüberlebende und traumatisierte Flüchtlinge kommt, hat schreckliche Erlebnisse hinter sich – und Aussicht auf Verständnis und Hilfe. Unter anderem von Dr. Elisabeth Fries. Die Ärztin arbeitete 13 Jahre lang im Kongo (früher: Zaire); mit einem Inlandsvertrag von Dienste in Übersee leitet sie seit Juli 1999 refugio Stuttgart.
von Ilse Preiss
Wir sind mitten im Wachsen und Werden", beschreibt die 51jährige die Situation der 1998 gegründeten Einrichtung. "Und wir wachsen schnell". Dem kommt die Struktur von refugio entgegen: ein Netzwerk vom Aufbau und von der Arbeitsweise her. 16 Organisationen und Initiativen tragen die Kontaktstelle; die Koordination liegt beim Evangelischen Migrationsdienst in Württemberg (EMDW). Zum refugio-Team gehören zurzeit neben vier hauptamtlichen Kräften (auf zwei Stellen) gut zwei Dutzend Ehrenamtliche: Psychologen, Familientherapeuten, Sozialarbeiter, Psychoanalytiker, Sozialpädagogen, Physiotherapeuten, außerdem Dolmetscher sowie vier Ärzte, die bei Bedarf zu Rate gezogen werden können. Und refugio versteht sich als Kontakt-Stelle im Wortsinn: Sie empfängt die Klienten, nimmt ihre Vorgeschichte auf, berät in aktuellen Problemen und vermittelt innerhalb des Netzes weiter zur Therapie. Bei Klienten ohne Asyl handelt es sich zunächst um eine Krisenintervention.
Vielen können Elisabeth Fries und ihr Team schon bei den so genannten Erstgesprächen weiterhelfen, in der Regel drei bis fünf Termine pro Klient. Häufig geht es nicht "nur" darum, dass Folteropfer mit einem Menschen, dem sie vertrauen, über das Schreckliche sprechen können, das sie erlebt haben. "man-made disaster hinterlassen in vielen Fällen lang dauernde psychische Schäden", erläutert Elisabeth Fries. "Durch spätere Krisen besteht die Gefahr einer Retraumatisierung. Wenn beispielsweise schlechte Nachrichten aus der Heimat eintreffen oder wenn sich die schon belastende Lebenssituation hier plötzlich dramatisch verändert."
"Sequenzielle Traumatisierung" nennen die Fachleute den Prozess, der in Gang kommt, wenn Menschen auf Dauer unter Diskriminierung, Verfolgung, Haft, Misshandlung und sogar Folter zu leiden haben. Die Flucht aus der Heimat stoppt diesen Prozess meist keineswegs – im Gegenteil: "Die Exilsituation", weiß Dr. Fries, "kann ein bedeutender Teil des Traumas sein". Denn Exil heißt für Asylsuchende häufig: Trennung von der Familie, sozialer Abstieg, Konfrontation mit einem anderen kulturellen Umfeld, Unsicherheit des Aufenthalts, Wohnen auf engstem Raum mit unbekannten, ebenfalls belasteten Menschen, erzwungene Arbeitslosigkeit, Essen aus Paketen. Elisabeth Fries: "Eine in vieler Hinsicht krankmachende Situation."
Die Erfahrung positiver Aufnahme und Integration im Exilland kann der Entwicklung posttraumatischer Störungen vorbeugen. In diesem Sinne, so Dr. Fries, seien alle Kontakte und Hilfsangebote für Flüchtlinge zu begrüßen. Spezielle Psychosoziale Zentren für Folterüberlebende und traumatisierte Flüchtlingen hingegen sind noch relativ neu in Deutschland; die bundesweit etwa 20 Einrichtungen dieser Art entstanden erst in den neunziger Jahren. Sie sind dringend notwendig, findet Elisabeth Fries: "Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es sich um komplexe psychopathologische Zustandsbilder handelt, und dass außer den Folterüberlebenden selbst auch ihre Familien und ihr Umfeld geschädigt sind."
Ein gesellschaftlicher Wahrnehmungsprozess gewinne durch diese Zentren "an Momentum". Er betreffe in erster Linie alle mit Flüchtlingen befassten Berufsgruppen: "Eine posttraumatische Belastungsstörung ist keine Befindlichkeitsstörung, sondern ein definiertes Krankheitsbild, das sorgfältiger Diagnostik und kompetenter Behandlung bedarf. Nur dann ist die Hoffnung gerechtfertigt, dass der betroffene Mensch wieder in die Lage versetzt werden kann, eines Tages sein Leben selbst in die Hand zu nehmen."
"Mich an der Seite der Betroffenen in ihre Geschichte hineinbegeben", so beschreibt Elisabeth Fries ihre Herangehensweise bei refugio. Ihre eigenen Erfahrungen in Afrika erleichtern ihr diesen Perspektivenwechsel. Während der Jahre im Kongo erlebte sie die Folgen des Genozids 1994 im Nachbarland Ruanda hautnah mit. Das habe, sagt sie, ihr Spektrum "dessen, was es an realen menschlichen Leid-Erfahrungen gibt, ganz entscheidend erweitert".
Zeugen zu werden der schrecklichen Erlebnisse anderer bleibt nicht ohne Wirkung auf die Helfenden. Die möglichen Folgen für Einzelne und Helferteams wurden als "stellvertretende Traumatisierung" beschrieben. Intervision im Team und Supervision durch einen erfahrenen Psychiater sind deshalb für die refugio-Mitarbeiter unentbehrlich. Für sich persönlich erlebt Elisabeth Fries ihren Dienst "nicht nur als potenziell schädigend, sondern auch als sehr bereichernd". Denn: "Ich sehe, was im Menschen ist – das stärkt die Wahrhaftigkeit". Sie begreift ihre Arbeit als permanenten Anstoß, sich selbst weiterzuentwickeln: "Wer sich nicht panisch machen lässt oder gleichgültig wird, für den ist es eine Chance, zu reifen".
Überlebende von Verfolgung und Folter verdienen, so Dr. Fries, unseren Respekt. "Dass sie die Flucht schafften, ist Beweis für Initiative und Überlebenswillen. Auch bei schwer traumatisierten ist oft ein gesunder Kern da, den gilt es zu stärken. Dazu gehört wesentlich die Anerkennung dessen, was ihnen geschehen ist." Ebenso wichtig: "dass die Ressourcen gefördert werden". Viele Flüchtlinge "wollen ihren Lebensunterhalt verdienen, sind aber auf Grund gesetzlicher Regelungen zur Untätigkeit verdammt. Genau dies wird ihnen später zum Fallstrick, wenn es zum Beispiel um Anerkennung im Rahmen der Altfallregelung geht". Dr. Fries: "Wir brauchen dringend innovative Ansätze. Eine am Bedarf der Klienten orientierte gesundheitliche Versorgung für neu ankommende Asylbewerber nach skandinavischem Modell zum Beispiel. Wenn Folterüberlebende bei Einreise und nicht erst nach Jahren als solche identifiziert werden könnten, wäre das ein großer Fortschritt."
"Eine Unwilligkeit zu schauen, wie andere es machen" – das war mit das erste, was Elisabeth Fries negativ auffiel, als sie wieder nach Deutschland zurückkehrte. Von 1984 bis ’88 hatte die Kinderärztin am Krankenhaus Nundu im Osten des damaligen Zaire gearbeitet. Anschließend baute sie dort einen Distrikt-Basisgesundheitsdienst mit auf, Anschauungsobjekt für das Konzept der "Primary Health Care" im Süd-Kivu. Anfang der neunziger Jahre beschloss die Dachorganisation der evangelischen Kirchen die Förderung vergleichbarer Dienste in allen 14 Partnerkirchen der Region. Auf Vermittlung von DÜ arbeitete Dr. Elisabeth Fries ab 1994 in der Provinzhauptstadt Bukavu als Koordinatorin an der Umsetzung dieses ehrgeizigen Projekts. Und zwar unter schwierigsten Bedingungen: Nach dem Völkermord in Ruanda im April 1994 hatten sich rund eine Million Menschen ins benachbarte Süd-Kivu geflüchtet – das selbst nur vier Millionen Einwohner zählte. "Jeder hatte Flüchtlinge bei sich", berichtet Dr. Elisabeth Fries, "die Aufnahmebereitschaft war groß". Als die Spannungen im Vielvölkerstaat Zaire eskalierten und im Bürgerkrieg endeten, evakuierte DÜ Elisabeth Fries zunächst nach Nairobi. Nach zwei mehrwöchigen Aufenthalten in Bukavu übergab die Ärztin ihre Arbeit 1997 endgültig in afrikanische Hände; ihr Vertrag lief aus.
Sie wolle gerne "etwas mit Ausländern machen", hatte sie Freunden vor ihrer Rückkehr nach Deutschland signalisiert, über das Deutsche Institut für Ärztliche Mission (DIFÄM) in Tübingen entstand schließlich der Kontakt zu refugio Stuttgart. Einfach, gibt Dr. Elisabeth Fries unumwunden zu, sei die Arbeit mit Folterüberlebenden und traumatisierten Flüchtlingen nicht. Dabei fühlt sie sich immer wieder an Afrika erinnert, wo "Komödie und Tragödie oft nah zusammen liegen und es sehr menschlich zugeht". Ähnlich hier: "Menschliche Achtung und Nähe vermag auch schreckliche Erfahrungen zu verwandeln, sodass im Rückblick eine Art bittersüße neue Sichtweise gewonnen werden kann. Wo dies geschieht, ist es auch für mich bereichernd."
aus: der überblick 02/2000, Seite 116