Im Schatten der Mauer
Wenn ihr Bau beendet ist, wird es eine über 600 Kilometer lange Mauer sein, die das Westjordanland in mehrere Enklaven unterteilt. Israel behauptet, der "Sicherheitszaun" sei nötig, um seine Bürger vor Selbstmordattentätern zu schützen. Doch für Tausende Palästinenser bedeutet er Trennung von ihrem Land, von Verwandten und Freunden. Sie sprechen von der "Apartheid-Mauer", die sie wie in einem Gefängnis einschließe. Um über die Auswirkungen des Projekts zu informieren, organisierte der Evangelische Entwicklungsdienst Ende September eine Journalisten-Reise in die Region.
von Rainer Busch
Vielleicht gibt es ihn ja tatsächlich, diesen Plan - in irgendeiner israelischen Schublade, entwickelt vor gut 35 Jahren zu Beginn der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland. Mit dem Ziel, den Palästinensern Schritt für Schritt die Luft zum Atmen zu nehmen.
Wer in diesen Tagen in Palästina unterwegs ist, muss den Eindruck haben, dass dieser Plan existiert. Zu nahtlos greifen die einzelnen Maßnahmen ineinander. Da sind die israelischen Siedlungen, die sich tief in das besetzte Gebiet hineinfressen. Wie mittelalterliche Wehrdörfer sitzen sie auf den Kuppen der Hügel und kontrollieren die Umgebung. Da sind die frisch asphaltierten Straßen, die diese Dörfer miteinander und mit dem israelischen Kernland verbinden und die selbst wie Mauern wirken - Palästinenser dürfen sie nicht befahren, die Zufahrten sind mit Erdwällen oder Betonblöcken versperrt. Da sind die Checkpoints der israelischen Armee an den Zugangspunkten zu den palästinensischen Gebieten. Da sind die plötzlichen Ausgangs- und Straßensperren in den Gebieten selbst. Und: Da ist der Zaun.
Was er anrichtet, ist in Anin, einem Ort ganz im Norden des Westjordanlandes, gut zu beobachten. Die rund 2500 Einwohner leben fast ausschließlich von der Landwirtschaft; Olivenöl ist ihr Hauptprodukt. Gut 100 der Männer pendelten täglich zur Arbeit nach Israel - bis im September vergangenen Jahres die Bagger anrückten. Seitdem teilt eine rund 60 Meter breite, helle Narbe die biblische Landschaft. In deren Mitte: ein drei Meter hoher Zaun mit elektronischen Bewegungsmeldern. Davor eine Schotterpiste sowie ein vier Meter tiefer Graben, umgeben von Stacheldraht - er soll verhindern, dass Fahrzeuge durch den Zaun brechen. Auf der anderen, der israelischen Seite: eine Zone zur Identifikation von Fußabdrücken, ein Schotterweg für Patrouillen, eine Asphaltstraße für schwere Fahrzeuge, ein weiterer Graben, wieder Stacheldraht.
Mehr als die Hälfte ihrer landwirtschaftlichen Nutzfläche - 1200 von einst 2100 Hektar - wurde dem Dorf durch den Wall genommen. "Wie sollen wir überleben?", fragt Bürgermeister Rabbah Jassin. "Ohne Zugang zu unserem Land werden wir zu Bettlern oder müssen unser Dorf verlassen." Zwar gibt es ein Tor im Zaun, das den Bauern die Möglichkeit geben soll, ihr Land zu pflegen. Aber das, so erzählt der Bürgermeister, ist seit Monaten geschlossen. "Ich durfte einmal für zwei Stunden zu meinen Olivenbäumen, mehr nicht", klagt Rabbah Jassin.
Auch von dem Nachbardorf Um al Fahm ist Anin jetzt abgeschnitten. Der Wall geht quer über die Verbindungsstraße. Fast jede Familie in Anin hat Verwandte in dem Dorf. "Ich kann meinen Enkel nicht mehr besuchen", erzählt der Bauer Abdallah Muhammad Milhin. Um das von den Palästinensern selbst verwaltete Gebiet verlassen zu können, bedarf es einer Genehmigung durch die Behörden - und die gibt es kaum. Die Menschen in Anin fühlen sich als Gefangene, als Insassen eines Käfigs.
Von der "Apartheid-Mauer" sprechen die Palästinenser. Vom "Sicherheitszaun" die Israelis. Vom "Separationswall" die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem. Dabei trennt der Wall nicht nur Israelis von Palästinensern, er trennt auch die Palästinenser untereinander. "Niemand hätte etwas dagegen, wenn der Wall auf israelischem Territorium gebaut würde. Oder entlang der Grünen Linie, der international anerkannten Grenze des Westjordanlandes. Aber das ist eben nicht der Fall", sagt Yehezkel Lein, Forscher bei B'Tselem.
Der Wall beginnt im Norden des Westjordanlandes bei Dschenin und schlängelt sich dann nach Süden. Bei Kalkilija, etwa auf Höhe von Tel Aviv, geht er in eine tatsächliche, acht Meter hohe Mauer über, welche die 41.000-Einwohner-Stadt vollständig umschließt. Alle 400 Meter befindet sich ein Wachturm. 190 Kilometer der Barriere werden bis Ende des Jahres nach Schätzungen von B'Tselem fertig gestellt sein, darunter 20 Kilometer um Jerusalem. 210.000 Palästinenser in mehr als 70 Dörfern sind laut der Organisation in der ersten Ausbaustufe direkt von dem Wall betroffen. Darunter 12.000 Menschen, die zwischen ihm und der Grünen Linie eingeklemmt sind. Am Ende werden alle Palästinenser betroffen sein: Die Regierung Sharon will das gesamte Westjordanland mit einem über 600 Kilometer langen Wall umschließen. Seine Fertigstellung ist für das Jahr 2005 geplant.
Ariel Sharon hatte sich lange gegen den Bau des Zauns gewehrt. Die Idee für das Projekt stammt aus der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, vorangetrieben von deren früheren Verteidigungsminister Benjamin Ben-Elisier. "Der Gedanke war zunächst, den Zaun entlang der Grünen Linie zu bauen", sagt Jeff Halper, israelischer Friedensaktivist und Koordinator des Israeli Committee against House Demolitions (ICAHD), "die Mauer wurde als Friedensprojekt verkauft, mit dem Israel die Okkupation beenden könnte." Als Vorbild galt der Zaun um den Gaza-Streifen, der Ende der achtziger Jahre errichtet wurde.
Die Zustimmung in der israelischen Öffentlichkeit für den Bau war zunächst gering. Das änderte sich mit der zweiten Intifada und der Zunahme der Selbstmordattentate. Ein Wall, der die mörderischen Anschläge vermeintlich eindämmen könnte, erschien den meisten Israelis plötzlich ein guter Vorschlag zu sein. "Wir hier und sie dort - der Wall zementierte die Idee der Separation. Er gibt den Israelis ein Gefühl der Sicherheit", sagt Halper.
Widerstand kam von Menschenrechtsgruppen, vor allem aber von rechten Parteien und den religiösen Siedlern. Sie agitierten heftig gegen die Teilung des Heiligen Landes. Sharon zögerte zunächst, doch das Schutzbedürfnis der Bevölkerung ließ ihm keine Wahl. Im April 2002 beschloss das Kabinett den Bau des ersten Teilstücks, das noch weitgehend entlang der Grünen Linie verläuft. Dann, im Februar dieses Jahres, im Schatten des Irak-Krieges, verkündete Sharon, er wolle den Verlauf des Zaunes ändern, um mehr israelische Siedlungen auf die "richtige" Seite des Walls bringen. Bis zu 16 Kilometer tief wird die Trennlinie in das Westjordanland hineinschneiden.
Die Palästinenser werden vor vollendete Tatsachen gestellt. Nie wurde über den Verlauf des Sperrgürtels verhandelt; er ist israelisches Diktat. Erst der zarte Druck aus den USA verhinderte, dass die jüdische Siedlung Ariel, 20 Kilometer tief im Westjordanland gelegen, per Wall an Israel angeschlossen wird. Ariel erhält einen kleineren, eigenen Zaun - der allerdings jeder Zeit mit dem Hauptwall verbunden werden kann.
"Sharons Ziel ist, so viele Siedlungen wie möglich und so wenig Palästinenser wie nötig durch den Zaun zu umschließen", sagt Yehezkel Lein von B'Tselem. Offizielle Angaben über den genauen Verlauf der Mauer gibt es kaum. Aufgrund von Zeitungsberichten und den spärlichen offiziellen Mitteilungen hat B'Tselem eine Karte über ihren wahrscheinlichen Verlauf erstellt. Danach schafft der Wall im Westjordanland drei größere sowie zahlreiche kleinere Enklaven.
Im Süden soll er ein Gebiet um Bethlehem und Hebron umschließen. Im Norden die Region zwischen Dschenin und Nablus zusammenfassen. In der Mitte Ramallah von Jerusalem abtrennen und bis Salfit führen. Weiter im Osten würde Jericho vollkommen von der Mauer umschlossen. Wird der Plan so ausgeführt, würden die 3,5 Millionen Palästinenser im Westjordanland auf etwa 40 Prozent des Territoriums zusammengepfercht. Hingegen stünden den 231.000 jüdischen Siedlern 60 Prozent des Landes zur Verfügung - darunter die wichtigen Wasserquellen wie der westliche Aquifer (unterirdischer Wassersee) in der Nähe von Kalkilija, in dem knapp die Hälfte der kostbaren Wasservorräte des Westjordanlandes gespeichert sind.
"Sharon missbraucht das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung zur Annexion von Teilen des Westjordanlandes mit Hilfe des Walles", sagt Yehezkel Lein von B'Tselem. Das sieht Jeff Halper ähnlich - und verweist auf die "demographische Bombe". 5,5 Millionen Juden leben in Israel sowie 4,5 Millionen Palästinenser in der Region - 3,5 Millionen in den besetzten Gebieten und eine Millionen in Israel. "Würde man sie zu Israelis machen", sagt Harper, "dann wäre es in zehn Jahren angesichts der hohen Geburtenrate der Palästinenser vorbei mit der jüdischen Mehrheit."
Halper, Professor der Anthropologie, ist davon überzeugt, dass die israelische Lösung für dieses Problem Apartheid heißt. "Wie einst in Südafrika werden Homelands geschaffen, leicht zu kontrollieren und ohne wirkliche Souveränität." Zu dieser Sichtweise passt die geplante Einrichtung von sieben "Industrieparks" in den besetzten Gebieten. In ihnen sollen Chemiefabriken, Schwerindustrie oder Schlachthäuser angesiedelt werden. "Israel kann dann die billige Arbeitskraft der Palästinenser nutzen und ihnen gleichzeitig den Zugang zu Israel verweigern", meint Harper. Zwar betont die Regierung, durch den Zaun werde die künftige Grenze eines palästinensischen Territoriums nicht vorweggenommen. Aber Harper glaubt daran nicht. "Israel schafft Fakten", sagt er - und verweist auf die immensen Kosten. Rund zwei Millionen Euro teuer ist ein Kilometer, das israelische Militär schätzt die Gesamtkosten auf 1,3 Milliarden Euro.
Erstaunlicherweise ist der Widerstand in der palästinensischen Bevölkerung gegen den Zaunbau gering. Aktionen gegen den Wall gibt es nur sehr begrenzt auf lokaler Ebene. "Die Leute in den Dörfern wissen nicht, was vor sich geht. Sie wissen nicht, wo die Mauer hinkommt, und es klärt sie auch niemand auf", erläutert Jamal Juma'a , Koordinator bei Pengon, einem Netzwerk palästinensischer Umweltgruppen. Juma'a sieht darin ein Versagen der palästinensischen Autonomiebehörde. "Wir haben mehrfach vor dem Sitz der Behörde in Ramallah demonstriert, wir haben versucht, sie zu gemeinsamen Aktionen zu bewegen - ohne Erfolg." Die Behörde sei paralysiert, sagt Juma'a, weil sie zu sehr mit sich selber beschäftigt sei - und mit den Israelis.
So ist ein Vakuum entstanden. Die betroffenen Bauern haben niemanden, an den sie sich wenden können mit ihrem Zorn, ihren Ängsten und ihren Bedürfnissen - außer an die nichtstaatlichen Organisationen (NGOs). PARC, das Palestinian Agricultural Relief Committee, ist eine von ihnen. Seit 1983 ist PARC im Gaza-Streifen und im Westjordanland in der ländlichen Entwicklung aktiv, fördert etwa die Nutzung wassersparender Anbauweisen oder unterstützt die Frauen in der Landwirtschaft. Die Bauern in Anin wenden sich gleich mit einer ganzen Liste von Hilfsprojekten an den Vertreter von PARC. Doch dessen Möglichkeiten sind begrenzt.
"Die NGOs sind hier gar nicht wegzudenken", sagt Sieglinde Weinbrenner, die für die Region Naher Osten beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) verantwortlich ist. "Es gibt nicht viele Organisationen, an die sich die Palästinenser wenden können." Mit jährlich rund drei Millionen Euro unterstützt der EED Organisationen wie PARC, die sich für die Sicherung der Grundbedürfnisse der palästinensischen Bevölkerung einsetzen. Zu den Förderschwerpunkten gehören auch Schulen der evangelisch-lutherischen Kirche von Jordanien in Palästina, in denen Kinder aller Religionen unterrichtet werden, sowie israelische und palästinensische Menschenrechtsorganisationen, die sich für die Versöhnung der beiden Volksgruppen einsetzen.
Eine der Aufgaben von PARC ist, den Bauern beim Verkauf ihrer Produkte zu helfen. Der Handel mit Israel, dem traditionellen Absatzmarkt für palästinensische Produkte, ist zusammengebrochen. Ihre Ausfuhr ist nicht mehr erlaubt. Israelische Produkte hingegen wie Milch, Joghurt oder Orangensaft sind in den palästinensisch verwalteten Gebieten zu haben. Hinzu kommt der Preisverfall auf den heimischen Märkten in Ramallah oder Nablus. Brachte der Liter Olivenöl früher 20 israelische Schekel, (umgerechnet rund 1 Euro), sind es jetzt gerade noch fünf. "Die Vermarktung ist unser großes Problem", meint Judeh Jamal, Vize-Direktor von PARC. "Sie ist nicht unter unserer Kontrolle. Wird exportiert, geht das nur über israelische Zwischenhändler. Sie kaufen die Erdbeeren oder die Kirschtomaten für zwei Dollar das Kilo im Gaza-Streifen auf und verkaufen sie für neun Dollar weiter", beschreibt er die schwierige Situation.
Was bewirkt der Wall? Die Palästinenser sind sich sicher, dass es den Israelis nicht um Terrorbekämpfung, sondern um Landnahme geht, dass der Wall den Terror nicht eindämmen, sondern ihn befördern wird. Ihr Ziel ist klar: Die Mauer muss weg. Die palästinensischen NGOs haben sich deshalb zu einem Aktionsbündnis gegen die Mauer zusammengeschlossen. Mit einer "Anti-Mauer-Kampagne" im November wollen sie "internationale Unterstützung organisieren, um Druck auf Israel auszuüben", so Jamal Juma'a vom Pengon Netzwerk, "denn ohne internationalen Druck wird die Mauer so bald nicht fallen."
aus: der überblick 04/2003, Seite 87
AUTOR(EN):
Rainer Busch:
Rainer Busch ist freier Journalist in Hamburg;
er hat im Oktober im Rahmen einer
Journalistenreise des EED Israel bereist.