Auf der Suche nach der "Zeit der großen Verwirrung"
Nach zwanzig Jahren politischer Gewalt in Peru hat die Wahrheitskommission die Ursachen untersucht und Empfehlungen zu Gerechtigkeit unterbreitet. In nur zwei Jahren konzentrierter Arbeit sind ein Bericht von 8000 Seiten und eine Datenbank mit 60.000 Namen von Tätern und Opfern entstanden. Eine akribische Leistung das Ziel der Versöhnung im Land ist hingegen noch nicht erreicht.
von Rainer Huhle
Schier endlos schien die Knotenschnur angefertigt nach der Tradition der Inkas , die die Menschenrechtler durch Lima trugen. Jeder einzelne der 69.280 Knoten dieser Quipu de la Memoria stand dabei für einen ermordeten oder "verschwundenen" Menschen. Vier chasquis, wie die Nachrichtenläufer zur Zeit der Inkas hießen, waren über 2000 Kilometer durch das ganze Land gelaufen und übergaben nun ihre Botschaft. Auf der neuen "Allee der Erinnerung" enthüllten die Menschen eine Skulptur mit dem Titel "Das weinende Auge". Sie steht inmitten eines riesigen Labyrinths, dessen Steine die Namen der Verschwundenen tragen. Nicht nur in Lima, auch in Ayacucho und anderen Orten Perus haben Menschenrechtsorganisationen am 28. August 2005 an ein entscheidendes Datum erinnert: Vor zwei Jahren wurde der Abschlußbericht der Comisión de la Verdad y Reconciliación (Kommission für Wahrheit und Versöhnung, kurz CVR) veröffentlicht. Jetzt riefen die Menschenrechtler mit diesem Datum die Opfer ins Gedächtnis, die die zwanzig Jahre andauernde politische Gewalt in ihrem Land gefordert hatte und die Menschen strömten zu den Veranstaltungen.
Doch während ein Teil der Peruaner mit eindrucksvollen symbolischen Gesten der Opfer der politischen Gewalt von 1980 bis 2000 gedachte, verstärkten andere das Trommelfeuer. Kaum war der Bericht veröffentlicht, hetzten Politiker, Militär und Medien gegen die Mitglieder der Wahrheitskommission. Besonders gegen deren ehemaligen Vorsitzenden und Rektor der Katholischen Universität von Lima, Salomon Lerner, richteten sich die Tiraden. Dies geschah in einer Weise, die selbst die Reaktionen der Militärs in Argentinien oder Chile übertraf, als dort Wahrheitskommissionen ihre Arbeit aufnahmen und "unliebsame " Erkenntnisse veröffentlichten. Als "Lügner", "Fälscher" und "Handlanger des Terrorismus" beschimpften sie die Kommissionsmitglieder. "Einäugig" seien sie, "machtgierig", "anmaßend" und "parteiisch ". Ihr Bericht untergrabe die wichtigsten Institutionen des Staates wie die Streitkräfte. Nicht zufrieden mit verbalen Beleidigungen, versuchen die Gegner der Wahrheitskommission, denen bisweilen selbst Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, den Bericht auch juristisch anzugreifen. Eine "Versöhnung" innerhalb der Gesellschaft hat die Kommission offensichtlich nicht erreicht, obwohl auch dies zu ihrem Auftrag zählte.
Wie in anderen Ländern auch, war die peruanische Wahrheits- und Versöhnungskommission Produkt einer Übergangssituation. Beinahe unlösbar erschienen die Probleme für Justiz, Politik und Gesellschaft bei der Aufgabe, das Unrecht der Vergangenheit aufzuarbeiten. Nach zehn Jahren war das diktatorische Regime von Präsident Alberto Fujimori und seines "Beraters" Vladimiro Montesinos Ende 2000 zusammengebrochen. Dies wurde weniger durch den Druck seitens der Bevölkerung, die Demokratie wiederherzustellen und die Menschenrechte zu beachten, erreicht. Vielmehr hatte eine Korruption fast unvorstellbaren Ausmaßes das Regime auch von innen her ausgehöhlt. So bekam Peru plötzlich die Chance, unter der Übergangsregierung von Valentín Paniagua eine Reihe grundlegender demokratischer Reformen auf Kiel zu legen.
Eine Wahrheitskommission wurde einberufen erst unter dem derzeitigen Präsidenten Alejandro Toledo erhielt sie den Namen "Kommission für Wahrheit und Versöhnung". Entsprechend umfangreich war ihr Mandat. Im wesentlichen sollte die Kommission die Ursachen der Gewalt feststellen, unter der Peru von 1980 bis 2000 gelitten hatte. Allgemeine Wahlen hatten im Mai 1980 zwar eine zwölf Jahre herrschende Militärdiktatur beendet. Zur selben Zeit aber begann die maoistische Organisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) mit Sabotageakten und bewaffneten Aktionen. Offiziell nannte sich der Leuchtende Pfad "Kommunistische Partei von Peru", ist aber unter diesem Namen kaum bekannt. Erst nach der Flucht und Absetzung des Präsidenten Alberto Fujimori im November 2000 hatte Peru damit begonnen, wieder demokratische Verhältnisse einzuführen und die Gräuel der Vergangenheit aufzuarbeiten. Diese 20 Jahre umfassen die Regierungsperioden von drei Präsidenten unterschiedlicher politischer Couleur: Fernando Belaúnde amtierte von 1980 bis 1985, Alan García schloss sich von 1985 bis 1990 an, und ihm folgte Alberto Fujimori von 1990 bis 2000.
Die Aufgaben waren klar umrissen: Die Wahrheitskommission sollte dazu beitragen, die Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen aufzuklären, die in diesem Zeitraum begangen worden waren und wenn möglich, die dafür Verantwortlichen zu benennen. Sie erarbeitete Vorschläge für die materielle Wiedergutmachung und symbolische Würdigung der Opfer und ihrer Angehörigen. Die Kommission sprach Empfehlungen für politische Reformen aus, um ähnlichen Entwicklungen in der Zukunft vorzubeugen. Sie entwickelte Konzepte, wie ihre Empfehlungen umgesetzt werden können. Schließlich hatte sie mit ihrem Auftrag das Ziel, "die notwendigen Bedingungen für eine nationale Versöhnung zu schaffen, die sich auf Gerechtigkeit stützt."
In dem knapp bemessenen Zeitraum von nicht einmal zwei Jahren erarbeitete die Kommission einen Bericht von etwa 8000 Seiten. Darin sind die Ergebnisse von rund 17.000 Zeugenaussagen, eine Datenbank mit fast 60.000 Namen von Opfern und Tätern, Berichte von öffentlichen Anhörungen in verschiedenen Landesteilen mit fast 1000 Teilnehmern, Analysen einer Reihe von Exhumierungen enthalten. Nicht zuletzt gehörte die umfangreiche Auswertung von Archiven, Presse und anderen Dokumenten dazu. Dass in einem derart umfassenden, unter enormem Zeitdruck erstellten Bericht auch Fehler enthalten sind, liegt auf der Hand. Die Kritik am Bericht machte sich jedoch nur zum geringsten Teil an Details fest, die möglicherweise fehlerhaft sind. Sie setzte schon ein, als der Bericht noch gar nicht veröffentlicht war, und dann noch einmal heftig unmittelbar nach der Übergabe des Berichts an den Präsidenten des Landes. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand außerhalb der Kommission den Text gelesen haben.
So erstattete der Abgeordnete Alfredo Gonzales bereits einen Monat vor der Veröffentlichung Strafanzeige gegen die Kommissionsmitglieder. Ein Jahr später ließ er sich in der Fernsehsendung des Journalisten César Hildebrandt von seinen Behauptungen über den Inhalt des Berichts auch dann nicht abbringen, als ihm Hildebrandt mehrmals Textpassagen aus dem Bericht vorlas, die das genaue Gegenteil belegten. Solche Szenen verdeutlichen: Der Bericht traf auf ein Szenario, in dem bestimmte Rollen und Themen längst unumstößlich festgelegt waren. Auch viele Monate später griffen so manche Gegner den Bericht an, ohne sich von seiner Lektüre beeinträchtigen zu lassen. Die wankelmütige und unklare Haltung der Regierung Toledos gegenüber der Wahrheitskommission gab den Kritikern zusätzlichen Auftrieb. Dieser ließ die schamhafte Zurückhaltung, die zu Beginn noch spürbar war, immer mehr schwinden.
Dabei spiegeln das Mandat und der Bericht sehr deutlich die besondere Ausgangssituation, der sich die peruanischen Wahrheitssucher im Vergleich zu den Wahrheitskommissionen anderer Länder gegenübersahen. Sie hatten die politische Gewalt insgesamt, nicht nur die Menschenrechtsverletzungen des Staates zu untersuchen. Ähnlich wie zuvor beispielsweise die Wahrheitskommission von El Salvador, aber anders als etwa die chilenische ("Rettig-Kommission"), unterschied die peruanische dabei sorgfältig die verschiedenen völkerrechtlichen Verpflichtungen von Regierung und Aufständischen. Sie kam zu dem Schluss, dass für mehr als die Hälfte aller Ermordeten und "Verschwundenen" die Aufständischen des Leuchtenden Pfads und in geringem Ausmaß auch die Mitglieder der "Revolutionären Bewegung Túpac Amaru" die Verantwortung tragen.
Die Kommission stellte sich in einem zumindest in Lateinamerika bislang unerhörten Grad der Herausforderung, die historischen und strukturellen Wurzeln der politischen Gewalt in Peru zu untersuchen. In politischer Hinsicht sah sie dabei in der Organisation Leuchtender Pfad die Hauptverantwortlichen für die Spirale der Gewalt ab 1980. Dass der Leuchtende Pfad dies weit von sich wies, verwundert nicht. Eher schon, dass große Teile des politischen Establishments und des Militärs diesen Teil des Berichts kaum zur Kenntnis nahmen, sondern auf einer einseitigen und alleinigen Schuldzuweisung an den Leuchtenden Pfad bestanden und bestehen. Selbst ein akademischer Analytiker wie Raúl González, der sich lange Jahre mit der politischen Gewalt im Land beschäftigt hat, wies am zweiten Jahrestag der Veröffentlichung die Bitte der ehemaligen Kommissionsmitglieder zurück, Militär und Polizei aufzufordern, sich für begangene Menschenrechtsverletzungen zu entschuldigen. "Bei wem entschuldigen", fragte González, "etwa beim Leuchtenden Pfad? Ist nicht der Leuchtende Pfad verantwortlich für die Verbrechen, die das Land so viele Tote kosteten?" So stand es in der Tageszeitung Ojo vom 12. September 2005.
Die oft maßlosen Angriffe auf den Bericht der Wahrheitskommission und deren einzelne Mitglieder stellen der politischen Klasse Perus ein miserables Zeugnis aus. Keine der großen politischen Gruppierungen, die ja alle bereits in dem von der Wahrheitskommission untersuchten Zeitraum politische Verantwortung trugen, bekennen sich zu den eigenen Fehlern und Versäumnissen. Warum aber zwingt, angesichts der 2006 anstehenden Parlamentsund Präsidentschaftswahlen, die Öffentlichkeit des Landes die Politiker nicht dazu, die Empfehlungen der Wahrheitskommission stärker umzusetzen und damit den zahllosen Opfern Genugtuung zu schaffen? Denn ein Großteil der Empfehlungen der Wahrheitskommission richtet sich gerade an die politische Öffentlichkeit. Doch solch eine neue politische Kultur und eine derart rechtsstaatlich bewusste Öffentlichkeit, gibt es auch zwei Jahre nach Erscheinen des Berichts nur in Ansätzen. Hier liegt ein Dilemma, das die Kommission durchaus wahrnahm, wie aus dem Bericht selbst hervorgeht.
Die Mitglieder arbeiteten daran, die politische Gewalt im ganzen Land sichtbar zu machen: In den Anfangsjahren hatte die Klasse, die an der Macht war, diese Gewalt nicht wahrhaben wollen, da sie sich hauptsächlich in entlegenen Regionen zeigte. Anfang der neunziger Jahre wurde sie schließlich in die Hauptstadt getragen. Dort waren es wiederum nur die terroristischen Attentate, die in den Blickwinkel der politisch Verantwortlichen rückten. In einer zentralen Passage des Berichts heißt es: "Die CVR schlägt gewisse symbolische Aktionen vor, die eine Gesamtheit von staatsbürgerlichen Ritualen (rituales cívicos) bilden. Sie zielen auf der einen Seite auf eine Neugründung des Sozialvertrags, und auf der anderen Seite sollen sie symbolische Marksteine des staatlichen und gesellschaftlichen Willens darstellen, dass sich solche Gewaltakte und Menschenrechtsverletzungen wie in den Jahren 1980 bis 2000 nicht wiederholen." Wie die Kommission feststellte, waren über drei Viertel aller Opfer Angehörige der überwiegend quechuasprachigen indigenen Minderheiten. Was die Forscher der Kommission in den entlegenen ländlichen Regionen, die besonders unter der politischen Gewalt zu leiden hatten, an schrecklichen Verbrechen und Leid dokumentierten, nehmen die Regierenden in der Hauptstadt offensichtlich nicht als "nationale Realität" wahr, als Geschehen im eigenen Lande. Eine aufgeklärte nationale politische Öffentlichkeit dies ist die Tragik des aufklärerischen Unterfangens entsteht nicht alleine dadurch, dass in dem Schriftstück selbst alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen berücksichtigt werden.
Dass sich ein Großteil der politisch Verantwortlichen abwehrend verhält, verwundert nicht. Erstaunlich hingegen sind die Hinweise darauf, dass auch die Gruppen der Bevölkerung, für die der Bericht besonders Partei ergreift, diesen keineswegs uneingeschränkt bejubeln. Dabei spielen auch in den Provinzen zum einen vordergründige politische Interessen eine Rolle, aber ebenso sind strukturelle Gründe eine Ursache. Verdeutlichen lässt sich das an den Verhältnissen im Departement Ayacucho. Dort hatte der Leuchtende Pfad 1980 seine bewaffneten Aktionen begonnen. Dort und in den benachbarten Departements Apurímac und Huancavelica konzentrierte sich der "schmutzige Krieg" und dort forderte er folglich den größten Teil der Opfer. Die Menschen in diesem Gebiet, in dem nicht mehr als zwei Prozent der Landesbevölkerung leben, hatte allein 42 Prozent aller Todesopfer und "Verschwundenen" zu beklagen.
Als die Wahrheitskommission 2001 ihre Arbeit aufnahm, lag für die meisten Dörfer Ayacuchos und der angrenzenden Gebiete der Höhepunkt des Krieges über ein Jahrzehnt zurück. Seit Mitte der achtziger Jahre hatten viele Dorfgemeinden mit ganz und gar nicht professionell bewaffneten "Selbstverteidigungskomitees" den Leuchtenden Pfad vertrieben. Dies gab ihnen ein neues Selbstbewusstsein auch gegenüber den Militärs, die ihren Krieg mehr gegen die Dörfer und ihre Bewohner als gegen den Leuchtenden Pfad geführt hatten. Damit hatten sich die Dorfgemeinden zum guten Teil aus eigener Kraft von der beständigen Drohung, sich entweder dem Leuchtenden Pfad oder den Militärs zu unterwerfen, wenigstens ein Stück befreit.
Doch dieser Kampf hatte einen hohen Preis. Er fand in einem nahezu rechtsfreien Raum statt und auch die "Selbstverteidigungskomitees" begingen schwere Menschenrechtsverletzungen. Die Counter-Rebellion der Bauern folgte ihren eigenen Gesetzen, die großenteils die des aufgezwungenen Krieges waren. Dazu gehörte beispielsweise auch, dass die Teilnahme an den "Selbstverteidigungskomitees" unumkehrbar war, hatte sich eine Gemeinde, mit oder ohne Beteiligung der Militärs, einmal zu diesem Schritt entschlossen.
Der alltägliche Kampf dieser "Selbstverteidigungskomitees" richtete sich eindeutig gegen den Leuchtenden Pfad. In der Öffentlichkeit prangerten die Bauern demgegenüber vor allem die Grausamkeiten des Militärs an. Nur auf den ersten Blick widersprüchlich, spiegelt dies deutlich die unterschiedlichen Strategien und Reaktionsweisen wider, mittels derer sich die Dörfler mit beiden als Eindringlingen empfundenen Gruppen auseinandersetzten. Gegen die bewaffnete Staatsmacht hatten die Bauern militärisch keine Chance. Dies bewies das jahrelange vergebliche Anrennen des Leuchtenden Pfads gegen die Militärs eindringlich. Dagegen konnten die Dorfbewohner mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen politisch und rechtlich das Vorgehen der Militärs zumindest in enge Grenzen und Schranken verweisen. Wenigstens theoretisch gab es rechtsstaatliche Kontrollinstanzen, an die man appellieren konnte.
Gegenüber dem Leuchtenden Pfad lagen die Dinge genau andersherum. Auf lokaler Ebene bestand wohl gelegentlich die Möglichkeit von Verhandlungen. Letztlich aber gab es keine Instanz in der Partei, an die die Bürger Petitionen, Proteste oder gar Rechtsansprüche hätten richten können. Der "Neue Staat" war gegenüber der Bevölkerung ein ausschließlich repressiver. Militärisch hingegen war seine Macht dies fanden die "Selbstverteidigungskomitees" bald heraus verletzbar. Die Stärke des Leuchtenden Pfads lag nicht zuletzt darin, dass seine Mitglieder aus der Region stammten und somit, im Unterschied zur Armee, über ein weitverzweigtes Netz an Informanten verfügte. "Die Partei hat tausend Augen", war eine der Propagandaparolen, mit denen der Leuchtende Pfad erfolgreich Druck ausübte. Doch diese Waffe erwies sich, als die Kräfteverhältnisse ins Wanken gerieten, als zweischneidig. Auch die Dorfbewohner wussten, wer beim Leuchtenden Pfad mitmachte, erfuhren, wo sich seine Trupps aufhielten, und lernten von seinen Kampfmethoden. Der Faden zwischen den Dorfgemeinden und ihren radikalisierten Kindern war nie vollständig gerissen.
Trotz grausamer Strafaktionen gegen gewählte Dorfvorsteher und andere Funktionsträger in den Dörfern und obwohl die Ideologie die Treue der Partei gegenüber höher stellte als familiäre und dörfliche Bande und Verpflichtungen, wurden diese nicht gekappt. So haben die Familienangehörigen den Leuchtenden Pfad unterstützt oder dessen Taten verschwiegen, die Mitglieder des Leuchtenden Pfades ihre Familien vor Anschlägen gewarnt oder geschützt. Ähnliches galt später, als Dorfmitglieder sich vielerorts zu "Selbstverteidigungskomitees" zusammenschlossen. Vor allem in Dörfern, die mehrmals von den verschiedenen feindlichen Parteien angegriffen und niedergebrannt wurden. Dort, wo sowohl die eine wie auch die andere Seite Angehörige des Dorfes tötete oder vertrieb, verflossen ebenfalls die Grenzen zwischen Tätern und Opfern. In vielen Familien gab es beides. Bisweilen vereinigten sich Täter und Opfer in einer Person. Unbeteiligt und frei von Schuld blieben unter diesen Umständen nicht viele. So entstand ein höchst komplexes Gemenge von Schuld und Verdiensten in einer über Jahre anhaltenden Lage, die von den Gemeindemitgliedern heute oft als "Zeit der großen Verwirrung " beschrieben wird.
Die Dorfbewohner, die sich dem Leuchtenden Pfad angeschlossen hatten, werden daher heute überwiegend als "Verführte" oder "Irrende" bezeichnet, die auf den rechten Weg zurückgeführt werden müssen und können. In vielen Gemeinden, besonders in solchen, in denen im Verlauf der Jahre der Gewalt viele Menschen zu evangelikalen Gemeinschaften wechselten, entstand ein Bewusstsein allgemeiner, gemeinsamer Schuld aller Gemeindemitglieder. Dies erlaubte es niemandem, mit dem Finger auf andere zu zeigen. In den Worten eines Gemeindemitglieds: "Wir haben uns vergeben, weil wir fast alle diesem Irrtum (des Leuchtenden Pfads, d.A.) verfallen waren, wir hatten niemanden, der uns schützte, und niemanden, dem wir die Schuld zuweisen können. Auf der Versammlung nahmen fast alle Mitglieder der Gemeinde teil, und wir vergaben uns alle gegenseitig."
Mochten die Grausamkeiten der beiden Seiten noch so unvorstellbar gewesen sein, überwog im Rückblick eher die Sicht, dass "es unsere Nachbarn waren. Mein Gott, wir haben gesehen, wozu unsere Nachbarn fähig waren." Nachbarn waren aus ihrem Blickwinkel keine Bestien, wie die Medien das aus der Ferne zu vermitteln suchten: "Auch sie sind Menschen und keine Tiere. Sie waren Analphabeten und konnten leicht betrogen werden, und so brachten sie die Bauern aus den Gemeinden um..." erklärte ein Dorfangehöriger, dessen Vater Mitglieder des Leuchtenden Pfads getötet hatten. Menschen waren sie geblieben, allerdings unvollkommen in ihrem Handeln, so war die Auslegung, weil sie sich aus der Gemeinde ausgeschlossen und deren Normen missachtet hatten. Um wieder zu vollwertigen Gemeindemitgliedern (und in diesem Sinn vollwertigen Menschen) zu werden, mussten sich die ehemaligen Senderistas einem Ritual von Reue und Erneuerung unterziehen. Häufig gehörte dazu, besonders schwere Arbeiten im Dorf für die Gemeinschaft zu übernehmen, oder auch, sich den "Selbstverteidigungskomitees" anzuschließen. Dies erleichterte zudem die Kontrolle über sie. Damit nahm die Gemeinschaft sie jedoch wieder als vollwertige Mitglieder auf. Sie durften sogar wieder Leitungspositionen bekleiden. Ließ die staatliche Justiz nach ihnen fahnden, gab es durchaus Fälle, bei denen die Gemeinde versuchte, sie zu schützen. Ist die rituelle Wiederaufnahme erst einmal abgeschlossen, ist es den übrigen Gemeindemitgliedern nicht gestattet, über die früheren Taten der Zurückgekehrten zu sprechen oder ihnen Vorwürfe zu machen.
All dies fand in den Dörfern über viele Jahre unbeachtet von staatlichen Behörden statt, und ohne dass nationale zivilgesellschaftliche Organisationen diesen Prozess begleitet hätten. Als dann ab 2001 die Wahrheitskommission mit ihrem strikt rechtsstaatlichen Ansatz und leidenschaftlichem Plädoyer für einen "neuen Sozialvertrag" als Grundlage eines versöhnten Perus auftrat, erschien sie diesen Dorfgemeinden als zwar respektierte und willkommene, doch auch als fremde Instanz. Vor allem aber kam sie zu spät. Die Wahrheitskommission bemühte sich mit Sensibilität und Energie, die besonderen Verhältnisse in den vom Krieg gezeichneten Gemeinden zu verstehen und verschaffte gerade diesem Teil der Bevölkerung in ihrem Bericht eine gewichtige Stimme. Dennoch: Auf der einen Seite stand der Anspruch, das Land auf demokratischer Basis zu erneuern, auf rechtsstaatlichem Wege Wahrheit und Gerechtigkeit zu finden. Auf der anderen Seite hatte etwa die ländliche Bevölkerung Ayacuchos aus ihrer eigenen Erfahrung heraus seit über einem Jahrzehnt pragmatische Lösungen des Miteinander gefunden. Diese Kluft vermochte die Wahrheitskommission allenfalls zu benennen, jedoch nicht zu überwinden.
Dies spiegelt den Gegensatz zwischen armer, größtenteils indigener Bevölkerung sei es des Berglands, des tropischen Tieflandes oder der Armengürtel um die Großstädte und den überwiegend weißen Bevölkerungsschichten, die ökonomische und politische Macht unter sich aufgeteilt haben. Die Wahrheitskommission konnte diesen Hintergrund der politischen Gewalt in ihrem Bericht zwar beschreiben. Ihr Modell eines neuen gerechteren Sozialvertrags als Grundlage gesellschaftlicher Versöhnung hingegen vermochte nicht, die gegensätzlichen Welten einander näher zu bringen.
Wie es scheint, trifft schon der Versuch auf heftige Gegenwehr. Allein gegen den ehemaligen Vorsitzenden Salomon Lerner, waren zwei Jahre nach dem Ende der Kommissionsarbeit nicht weniger als acht Ermittlungsverfahren wegen Verleumdung anhängig, in erster Linie aufgrund von Anzeigen ehemaliger Militärangehöriger. Im September 2005 kam ein neuntes hinzu, und erstmals erhielt Lerner, Sohn eines jüdischen Vaters, Morddrohungen. Begleitet waren diese Drohungen von wüsten antisemitischen Beschimpfungen im Jargon der nationalsozialistischen Propagandazeitschrift "Der Stürmer": Hitler habe leider vergessen, auch die Familie Lerner auszurotten. Der "dreckige Jude" solle aus Peru verschwinden. Die Mitglieder der Wahrheitskommission sind nicht die einzigen, die bedroht werden. Zwei Jahre nach dem Veröffentlichen des Berichts sind immerhin über 40 Gerichtsverfahren gegen Militärs und andere staatliche Verantwortliche eingeleitet worden, von denen allerdings erst eines zu einem Urteil führte. Als Reaktion zählte die nationale Menschenrechtskommission Perus allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2005 insgesamt 45 Bedrohungen oder physische Angriffe gegen Personen, die direkt oder indirekt an diesen Verfahren beteiligt sind. Darunter sind Zeugen, denen der Staat nicht die von der Kommission geforderten Schutzmaßnahmen gewährt, Menschenrechtsverteidiger, Richter und Staatsanwälte, und sogar drei Gerichtsmediziner, die an der Identifizierung von Leichen aus Massengräbern mitwirken.
Die Regierung des schwachen Präsidenten Alejandro Toledo schweigt dazu, während etliche Politiker der großen politischen Gruppierungen die Feindseligkeiten gegen die Kommission mehr oder weniger offen unterstützen. Die politische Klasse Perus wagt es nicht, in den Spiegel zu blicken, den ihr die Wahrheitskommission vorgehalten hat. Deren Bericht wird freilich nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein. Auch anderswo hat das Bemühen um Wahrheit und Gerechtigkeit lange Jahre gebraucht, ehe es anerkannt wurde. Vielleicht trägt es in der nächsten Generation Früchte: In einem Modellprojekt werden jetzt die wesentlichen Inhalte des Berichts an 50 Schulen im ganzen Land für insgesamt 22.000 Schülerinnen und Schüler Pflichtfach.
aus: der überblick 04/2005, Seite 54
AUTOR(EN):
Rainer Huhle
Dr. Rainer Huhle ist Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Menschenrechte und Lateinamerika. Er ist Vorstandsmitglied des Nürnberger Menschenrechtszentrums, das die Arbeit für Menschrechte unterstützt und fördert, sowie Menschenrechtsverletzungen wissenschaftlich erforscht. Es betreibt außerdem das "Dokumentations- und Informationszentrum Menschenrechte in Lateinamerika" (DIML).