Kuba exportiert Ärzte in die Dritte Welt
Statt wie früher Revolutionen, exportiert Kuba heute ganze Heere von Ärzten, Krankenpflegern und medizinisch-technischen Assistenten in die ärmsten Staaten der Welt. Hinter der medizinischen Bruderhilfe steht die Idee der neuen Süd-Süd Wirtschaftspartnerschaft. So erhält Kuba etwa von Venezuela günstig Erdöl und sendet dafür Ärzte in die Slums des Öllandes.
von Richard Bauer
Wer am frühen Morgen, wenn in den leeren Straßen von Havanna noch stockdunkle Nacht herrscht, das schummrig beleuchtete Inlandterminal am Rande des Flughafens José Martí betritt, staunt nicht schlecht. Die meisten Passagiere zieht es nicht in die Provinzen des Landes. Sie warten vielmehr auf Flüge nach Caracas oder Maracaibo, ganz so, als gehöre Venezuela zum verlängerten Teil des kubanischen Mutterlandes. Seit der kubanische Revolutionsführer Castro und dessen geistiger Ziehsohn, der venezolanische Präsident Hugo Chávez, zunächst ihre weltanschauliche Wahlverwandtschaft, dann der eine das venezolanische Öl und der andere die kubanischen Ärzte und Techniker entdeckten, ist hier eine regelrechte Luftbrücke entstanden. Man schätzt, dass zurzeit 30.000 Fachkräfte aus Kuba am Aufbau der Bolivarischen Revolution in Venezuela mitwirken. Mehr als die Hälfte davon sind Ärzte und medizinisches Hilfspersonal.
Die Bewohner der Elendsviertel von Caracas trauten ihren Augen kaum, als im Jahr 2003 die ersten kubanischen Ärzte auftauchten. Einen eigenen Doktor im Quartier zu haben, war wie ein Wunder. Im Rahmen des Gesundheitsprogramms für die Armenviertel Venezuelas, der Misión Barrio Adentro (Einsatz in den Slums), leisten die kubanischen Ärzte einen freiwilligen Auslandsdienst meist für die Dauer von zwei Jahren. Ohne sie könnten die 4500 von der Regierung Chávez neu erstellten Gesundheitszentren gar nicht versorgt werden. Im Unterschied zu den einheimischen Ärzten und Krankenschwestern, die, wenn überhaupt, täglich aus ihren mittelständischen Wohnvierteln zur Arbeit in die Slums pendeln, leben die kubanischen Doktoren und Krankenschwestern unter einfachsten Bedingungen mitten im Quartier. Am Morgen leisten sie ihren Dienst in der kleinen Klinik, am Nachmittag gehen sie ganz nach Tradition der kubanischen Familienärzte auf Hausbesuch. Abends sind sie in den lokalen Kneipen anzutreffen und nehmen am Gemeinschaftsleben teil.
Was zunächst wie selbstlose Bruderhilfe aus Kuba zugunsten der Ärmsten der Armen in Venezuela und zur Unterstützung der Bolivarischen Revolution aussehen kann, ist für beide Seiten ein Geschäft. Für Kuba steht das wirtschaftliche Interesse an Erdöl und Kohle aus Venezuela im Vordergrund. Bezahlt wird im Gegenzug mit kubanischen Medizinern und Fachkräften deren Gehälter gegen die Energielieferungen aufgerechnet werden. Gewährsleute in Havanna gehen davon aus, dass Kuba dem venezolanischen Staat pro Arzt monatlich 6000 US-Dollar verrechnet, den kubanischen Medizinern aber lediglich ein Gehalt von umgerechnet 200 US-Dollar ausbezahlt. Die Einkünfte aus dem Export von Fachkräften dürften Kuba dieses Jahr rund 750 Millionen US-Dollar einbringen. Das würde bedeuten, dass der unverhoffte neue Erwerbszweig zur viertwichtigsten Devisenquelle Kubas nach dem Tourismus, den Überweisungen von Familienangehörigen in den USA sowie dem Nickelexport aufsteigt.
Für Präsident Chávez geht es in erster Linie um die politischen Dividenden. So wurde die Misión Barrio Adentro in den Monaten vor dem im August 2004 abgehaltenen Referendum über das politische Überleben von Chávez und die Zukunft seiner unscharf definierten Bolivarischen Revolution rasant ausgebaut. Es ist unbestritten, dass die flächendeckenden Sozialwerke dem früheren Fallschirmspringeroffizier zu enormer Popularität bei den armen Wählerschichten verholfen haben.
Nicht nur mit entsandten Ärzten greift Kuba Chávez unter die Arme. Neben der Vergabe von Tausenden von Stipendien für venezolanische Studenten, die an kubanischen Hochschulen vornehmlich zu Ärzten, Sporttrainern und Naturwissenschaftlern ausgebildet werden, gehört auch die Behandlung von schwer kranken Patienten in Krankenhäusern auf der Zuckerinsel zur humanitären Charme-Offensive Castros.
In den letzten vier Jahren wurden rund zehntausend mittellose Venezolaner nach Kuba geflogen und dort operiert oder behandelt. Nach kubanischen Angaben wurden über 3000 chirurgische Eingriffe und über 150 Organtransplantationen kostenlos vorgenommen, für die man in Venezuela ein Vermögen hätte bezahlen müssen.
Im Rahmen einer so genannten Misión Milagro (Mission Wunder) sollen in den kommenden Monaten 100.000 sehbehinderte Patienten aus Venezuela und ganz Lateinamerika in kubanischen Spitälern operiert werden.
Sowohl für Chávez als auch für Castro ist das Geschäft mit Ärzten und Erdöl Ausdruck einer anderen Art des Wirtschaftsaustausches. Für die beiden tropischen Querdenker dürfen Handel und Investitionen nicht nur wie im Kapitalismus dem Gewinn dienen, sondern sollen als Instrumente für eine gerechte und nachhaltige Entwicklung verstanden werden. Dabei darf die lateinamerikanische und karibische Integration nicht die blinde Tochter des Marktes sein. Statt des kalten Wettbewerbs wird der Komplementarität und der Zusammenarbeit zwischen den Integrationspartnern das Wort geredet. Jedes Land produziert, was es am besten kann, und tauscht zu gerechten Preisen mit den übrigen Handelspartnern. Auf diesen Prinzipien basiert das Ende 2004 von Kuba und Venezuela gemeinsam aus der Taufe gehobene Integrationsbündnis, die Alternativa Bolivariana para las Américas (Bolivarische Alternative für Amerika) mit der sinnigen Abkürzung Alba, was auf Spanisch Morgendämmerung bedeutet.
Die Entsendung medizinischer Helfer in Länder der Dritten Welt, vornehmlich nach Afrika und Lateinamerika, hat in Kuba Tradition. »Unsere Heimat ist die Menschlichkeit«, zitiert Castro gern den kubanischen Nationaldichter und Unabhängigkeitskämpfer José Martí (1853-1895), um wie in einer Rede im April 2001 die kostspieligen Einsätze in fremden Ländern zu rechtfertigen: »Und diejenigen Söhne, die ihrer zweiten Heimat dienen, die sich Menschlichkeit nennt, dienen zugleich vielen anderen Völkern der Erde.«
Angesichts der Mangelwirtschaft im eigenen Land, der Rationierungskarte und der leeren Gestelle in Läden und Apotheken steht ein Teil der Kubaner der internationalen Bruderhilfe skeptisch bis ablehnend gegenüber. Insgesamt hatten bis zur Jahrtausendwende laut Castro mehr als 25.000 Ärzte Auslandsmissionen erfüllt. In den vergangenen fünf Jahren dürfte sich, vor allem dank dem Engagement in Venezuela und der Aufstockung der Hilfe für Zentralamerika, diese Zahl verdoppelt haben.
Für die kubanischen Fachkräfte sind die Einsätze im Ausland häufig die einzige Möglichkeit, aus der Enge des Alltags auf der Karibikinsel auszubrechen, fremde Länder kennen zu lernen und, darüber hinaus, sich ein Zubrot in Hartwährung zu verdienen. Die zurückgelassenen Familien erhalten eine Sonderentschädigung. Neben dem bescheidenen, kubanischen Ansätzen entsprechenden Lohn bezahlt das jeweilige Gastland einen Bonus von 100 bis 200 US-Dollar, der in Devisen ausgehändigt und am Ende des Einsatzes als kleines Sparkapital in die Heimat mitgenommen wird. Bevor die »Internationalisten« das Flugzeug in Richtung Afrika oder Lateinamerika besteigen dürfen, werden sie auf Herz und Nieren geprüft. Zu den Hürden, die es zu überwinden gilt, gehört nicht nur die berufliche Qualifikation, sondern auch das O.K. des Quartierkomitees zur Verteidigung der Revolution (CDR), das den Persilschein über mustergültiges Verhalten des Kandidaten ausstellt. Als Rückkehrer genießen sie ein hohes Sozialprestige, sind sie Lokalhelden, die regelmäßig mit Orden dekoriert werden.
Ärzte, Sporttrainer oder Alphabetisierungsspezialisten in aller Herren Länder zu schicken, entspricht nicht nur einem humanitären Impuls des Revolutionsregimes. Kubas Süd-Süd-Entwicklungshilfe ist Teil seiner Internationalismuspolitik, die darauf abzielt, das Überleben der kubanischen Revolution durch Rückhalt in der internationalen Staatengemeinschaft abzusichern, die in der Mehrheit aus Dritte-Welt-Staaten besteht. 1989, kurz vor dem Mauerfall und dem Ende des Sowjetimperiums, einigten sich Castro und Gorbatschow darauf, zur Erreichung ihrer außenpolitischen Ziele keine Gewalt mehr anzuwenden. Kuba zog seine letzten Truppen und Militärberater aus Afrika und Zentralamerika zurück. Was blieb, war das unbegrenzte Sendungsbewusstsein Castros und die Suche nach Mitteln, um verlässliche Alliierte auf der Weltbühne zu gewinnen. Im Verlaufe der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts traten so Gesundheitsbrigaden und Impfstoff an die Stelle militärischer Truppen und Waffenlieferungen. Ärzte und Krankenschwestern wurden zu Sympathieträgern für eines der letzten kommunistischen Regime der Welt, sie auszusenden zum Teil einer Offensive, um der drohenden außenpolitischen Isolierung entgegenzusteuern.
Zurzeit sind laut offiziellen kubanischen Angaben 24.000 Gesundheitshelfer in 76 Ländern im Einsatz, davon 17.000 voll ausgebildete Mediziner der verschiedensten Sparten. Ein Viertel der in Kuba zugelassenen rund 68.000 Ärzten arbeitet demnach außerhalb der Landesgrenzen ein weltweit einzigartiges Phänomen. Aber nicht nur die Zahl der kubanischen Export-Ärzte ist erstaunlich. Nicht minder frappant ist diejenige der ausländischen Medizinstudenten an kubanischen Hochschulen. Von insgesamt 28.000 angehenden Ärzten sind 10.000 Ausländer, die fast ausschließlich aus Drittweltländern und hier vor allem aus Lateinamerika und der Karibik stammen.
Als Ende Oktober 1998 der Hurrikan »Mitch« die Länder Zentralamerikas verwüstete, antwortete Castro auf den Notstand mit der Entsendung von 2000 Ärzten. Damit war das Programa Integral de Salud geboren, ein umfassendes Gesundheitsprogramm, das bald über Zentralamerika hinaus auf Länder im Süden des Kontinents und auf Afrika ausgeweitet wurde. Nicht nur Katastrophenhilfe, sondern die langfristige Verbesserung der Gesundheitssituation der ärmsten Bevölkerungsschichten ist das Ziel dieser Initiative, die inzwischen 24 Länder umfasst.
»Der Hurrikan der Armut tötet jedes Jahr mehr Menschen als der "Mitch"«, sagte Castro, als er versprach, Katastrophen zu lindern und die Mortalitätsraten zu reduzieren. Knapp 2800 Ärzte und medizinisches Hilfspersonal sind zurzeit im Rahmen dieses Programms im Einsatz, etwa zwei Drittel davon Ärzte und hier vor allem Familienärzte, die in entfernten Landgebieten zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung beitragen. Am meisten profitieren von diesem Programm in Lateinamerika Guatemala, Honduras und Paraguay. In der Karibik hat Kuba die arme, medizinisch unterversorgte Nachbarrepublik Haiti besonders ins Herz geschlossen. Nach dem Exodus der Großzahl der einheimischen Ärzte in den neunziger Jahren sind, vor allem in den Provinzen Haitis, ganze Spitäler von kubanischem Personal übernommen worden. Oft ist, wie etwa im zentralhaitianischen Städtchen Hinche, gerade noch der Direktor ein Haitianer. In Afrika sind Ghana, Gambia, Namibia und Südafrika (siehe Kasten) Schwerpunktländer der kubanischen Hilfe.
Zu dem Programm gehört auch die Gründung einer renommierten Hochschule für Medizinstudenten aus Lateinamerika und Afrika in einer zu Hörsälen und Laboratorien umfunktionierten Kaserne der kubanischen Marine am Stadtrand von Havanna. Dieses Jahr erhalten die ersten Absolventen ihr Arztzeugnis mit der Verpflichtung, in ihre Länder zurückzukehren und dort in medizinisch unterversorgten Gebieten tätig zu werden. Ende 2004 studierten an der Escuela Latinoamericana de Medicina 8400 Studenten, die meisten Stipendiaten. Nicht zuletzt um den »Großen Nachbarn« zu reizen, werden jährlich auch 80 Latinos und Afroamerikaner aus den USA zum kostenlosen Studium zugelassen.
aus: der überblick 03/2005, Seite 24
AUTOR(EN):
Richard Bauer
Richard Bauer ist Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung mit Sitz in Mexiko.