Das Land entfernt sich immer mehr von einem inneren Frieden
In Kolumbien geraten vor allem Menschen auf dem Lande immer wieder ins Kreuzfeuer von Paramilitärs, Armee und Guerillatrupps. Sie sind hilf- und schutzlose Opfer eines Krieges, der sich offiziell gegen den Drogenanbau und tatsächlich gegen die Rebellen richtet. Aber selbst wenn die Guerilla die Waffen strecken sollte und der letzte Koka-Strauch verdorrt ist, bleiben die Probleme wie Arbeitslosigkeit, dürftige Gesundheitsversorgung, schlechte Schulen, ungleiche Einkommensverteilung, Korruption und verschleppte Agrarreform. Deshalb dürften mit Sicherheit neue Varianten der Gewalt aufbrechen.
von Karl-Ludolf Hübener
Der Morgen dämmerte, als fünf Schnellboote durch die "Große Laguna von Santa Marta" im Norden Kolumbiens rasten. An Bord waren 70 schwer bewaffnete Paramilitärs. Sie stoppten ein vorbeifahrendes Fischerboot, die zehnköpfige Besatzung wurde mit Macheten enthauptet. Wenig später hielten die Killer ein anderes Boot an, knallten einige Fischer ab und warfen den Fang über Bord. Schließlich nötigten sie den Steuermann vorauszufahren, um ihnen den Weg nach El Morro zu zeigen, einem der vielen Fischerdörfer im Labyrinth der Wasserarme der Lagune. In El Morro angekommen zwangen sie die restliche Besatzung, sich auf den Boden zu legen. Mit einer Namensliste in der Hand traten sie Türen der Fischerhütten ein und trieben die Leute vor sich her. Anschuldigung: Sympathisieren mit der Guerilla. Die wehrlos auf dem Boden liegenden Fischer wurden mit Maschinengewehrsalven abgeschlachtet. Das Massaker am 23. November 2000 kostete 39 Menschenleben.
Tausende von Einwohnern aus El Morro und umliegenden Ortschaften machten sich daraufhin auf die Flucht, zumeist in die Elendsviertel nahe gelegener Städte. Nur wenige blieben in ihren Hütten. Was sollten sie auch anderes machen, meinte resigniert ein Fischer: In der Stadt bekämen sie keine Arbeit, denn "wir haben nichts anderes als fischen gelernt."
Terror und Brutalität der Paramilitärs haben System. Augenzeugen, die miterleben mussten, wie Angehörige mit Motorsägen und Macheten bei lebendigem Leib gefoltert und verstümmelt wurden, wird angedroht, dass es ihnen ähnlich ergehen könnte. Vor allem Menschen auf dem Lande geraten immer wieder ins Kreuzfeuer von Paramilitärs, Armee und Guerillatrupps. Sie fühlen sich hilf- und schutzlos. Voller Panik flüchten sie in Städte oder in unwegsame Gegenden. Über zwei Millionen Menschen sind bereits geflohen, auch über die Grenze in die Nachbarländer.
Das Flüchtlingselend wird sich durch den Plan Colombia noch verschlimmern. Paramilitärs werden dieses Abkommen zwischen den USA und Kolumbien zur gemeinsamen Bekämpfung des Drogenhandels nutzen, um auf ihre Weise gegen Guerilleros vorzugehen. Ganze Gegenden werden so entvölkert. Viehzüchter, Drogenhändler, Unternehmen der Agroindustrie und Großgrundbesitzer dringen in die verlassenen Gebiete vor – eine Gegen-Landreform in einem Land, das nie eine echte Landreform erlebt hat, in dem die Bodenkonzentration stetig zunimmt und in dem viele Bauern seit Jahrzehnten auf der Flucht sind.
Großgrundbesitzer zählen neben Drogenhändlern, Viehzüchtern, Geschäftsleuten und multinationalen Firmen zu den Finanziers der paramilitärischen Killertrupps, die in den letzten Jahren erheblich an Stärke gewonnen haben: Aus einem Trupp von 850 Bewaffneten im Jahre 1992 ist eine kleine Armee von rund 8000 Söldnern geworden. Befehligt werden sie seit 1996 von Carlos Castaño, der die unzähligen privaten Todesschwadrone der Drogenbarone, Industriekapitäne, Viehzüchter und Smaragd- und Goldminenbesitzer unter seinem Kommando zu den "Vereinigten Selbstverteidigungskräften Kolumbiens" (AUC) zusammengeschlossen hat. Den 36-jährigen Castaño hatte die US-amerikanische Drogenbehörde DEA bereits als Drogenhändler im Visier.
Unter den AUC-Mitgliedern sind zahlreiche ehemalige Militärs. Als vor einigen Monaten über 300 Armeeangehörige, vermutlich wegen Menschenrechtsverletzungen, entlassen oder in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurden, tauchten viele wenig später in den Reihen der Paramilitärs wieder auf. "Wurden sie nun entlassen oder nur versetzt?", fragte sich ein Vorstandsmitglied des Gewerkschaftsdachverbandes CUT, der unter Todesdrohungen mit Leibwächtern leben muss. Die Regierung wird dagegen nicht müde zu behaupten, dass es keine Kooperation zwischen der regulären Armee und Paramilitärs gebe; es gebe höchstens bedauerliche Einzelfälle.
Die Paramilitärs haben historische Vorläufer; auch eine stillschweigende Zusammenarbeit zwischen Paramilitärs und dem Staat hat es zuvor schon gegeben. Ein Gesetz aus dem Jahre 1968 erlaubte es zivilen Gruppen, "sich zur eigenen Verteidigung unter Aufsicht der kolumbianischen Streitkräfte in den Regionen zu organisieren und zu bewaffnen, in denen die staatliche Präsenz schwach oder nur sporadisch war." Zum Beispiel "verteidigten" sich Großgrundbesitzer mit Privattrupps gegen arme aufbegehrende Bauern. Das kolumbianische Militär blickt auf eine lange Tradition der Aufstandsbekämpfung zurück; dabei wurde es zumeist von US-Militärs beraten. Die USA gründeten Anfang der fünfziger Jahre in Kolumbien das erste lateinamerikanische Institut, in dem Militärs zum Kampf gegen die sogenannte Subversion geschult wurden. Bald entdeckten die Vereinigten Staaten eine kommunistische Enklave in Marquetalia in den Anden. Dort bearbeiteten 48 vor der violencia (Gewalt) geflohene bäuerliche Siedler in gemeinschaftlicher Form den Boden. Unter ihnen der heutige Chefkommandant der "Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens" (FARC), Manuel Marulanda. 1964 griffen mehrere tausend Soldaten, angeleitet von US-Beratern, die Siedlung an. Die Bauern konnten sich noch rechtzeitig absetzen, die FARC wurden kurz darauf gegründet.
Die USA hatten nach dem Sieg der kubanischen Revolution 1958 die militärische Zusammenarbeit mit Kolumbien verstärkt. US-Militärberater trainierten fortan die kolumbianische Armee im Geiste der antikommunistischen "Doktrin der Nationalen Sicherheit", die auch Militärdiktatoren à la Pinochet als Leitfaden für ihre mörderischen Feldzüge gegen Oppositionelle diente. Sie ist bis heute in Kolumbien gültig. Ins Visier genommen wird der innere Feind, linke Aufständische wie FARC- und ELN (Heer zur nationalen Befreiung) Rebellen, Politiker und Gewerkschafter, die man mit Folter und Mord bekämpft und die man "verschwinden lassen" darf. Die Menschenrechtsbilanz der kolumbianischen Streitkräfte und ihrer Geheimdienste ist erschreckend und konnte es lange Zeit mit den Verbrechen südlicher Militärschergen in Chile oder Argentinien aufnehmen.
Zum Arsenal derart indoktrinierter Militärs gehören auch Todesschwadrone. Ohne Umschweife heißt es in der "Zeitschrift der Streitkräfte" 1976, dass "paramilitärische Techniken eine sichere und nützliche Art" sein können, "die es erlaubt, Gewalt anzuwenden, um die politischen Ziele zu erreichen." Die Aufstandsbekämpfung wird so entstaatlicht. Das ist durchaus gewollt, denn die Armee erscheint nun als unparteiische "dritte Kraft". Eine geschickte Strategie, um Anklagen wegen Menschenrechtsverletzungen zu entrinnen und die eigene Statistik zu schönen. Mit dem Brustton der Überzeugung klagen heute Generäle Menschenrechtsverletzungen von Guerilleros an, schweigen aber hartnäckig über die Massaker ihrer paramilitärischen Handlanger.
Achtzig Prozent aller Menschenrechtsverletzungen gehen nun auf das Konto der Paramilitärs, erklärt amnesty international. Der Anteil der Armee sei entsprechend zurückgegangen, die Zusammenarbeit zwischen beiden allerdings nicht. In jeder Justizakte, "die wir auf Menschenrechtsverletzungen hin untersuchen", erklärt Guillermo Pérez, "entdecken wir Verbindungen zwischen dem Heer und Paramilitärs." Pérez ist Anwalt und Mitglied des angesehenen "Kollektivs der Rechtsanwälte José Alvear Restrepo". Das Kollektiv vertritt Familienangehörige von "Verschwundenen" und Ermordeten. 1996 wurde das Anwaltskollektiv mit dem Menschenrechtspreis der Republik Frankreich ausgezeichnet.
Dass das Zusammenspiel zwischen Staatsorganen und Paramilitärs bis in die Gefängnisse reicht, hat das Kollektiv aufgedeckt: Im vergangenen Jahr richteten inhaftierte Paramilitärs unter gefangenen Guerilleros im Modelo-Gefängnis in Bogotá ein Blutbad an. Die Polizei und die Wächter schauten weg; die Justiz, deren Unabhängigkeit, von Ausnahmen abgesehen, nur auf dem Verfassungspapier garantiert ist, legte den Fall zu den Akten. Die Rechtsanwälte des Kollektivs müssen selbst mit Anschlägen rechnen. Sie werden von Geheimdienstlern als innere Feinde betrachtet. Diese hätten ihnen ganz offen gesagt, dass ihre Menschenrechtsarbeit und die Anzeigen "viel mehr Schaden anrichten als hundert Gefechte mit der Guerilla."
Schaden richten die Anwälte derzeit auch in Barrancabermeja an. Die Stadt am Magdalenen-Strom, über Jahrhunderte hinweg die wichtigste Verbindung zwischen Küste und Binnenland, ist Sitz der wichtigsten Ölraffinerie Kolumbiens, Eigentum der staatlichen Erdölgesellschaft Ecopetrol. Und "Barranca" ist eine Hochburg der kolumbianischen Gewerkschaftsbewegung, vor allem der Erdölarbeiter.
Als innere Feinde gelten auch die zahlreichen sozialen Bewegungen, darunter die Volksorganisation der Frauen Organización Femenina Popular. In ihr "Haus der Frau" drangen Paramilitärs ein und erklärten die Organisation zum "militärischen Ziel"; das kommt einer Mordandrohung gleich. Das Anwaltskollektiv und amnesty international wiesen auf einen Widerspruch hin: Militär und Polizei seien verstärkt worden, aber paramilitärische Banden patrouillierten ungehindert durch die Stadt. Augenzeugen beobachteten, wie sich Soldaten und Paramilitärs nur fünfzig Meter vom "Haus der Frau" entfernt ungeniert unterhielten.
Bedroht fühlen sich inzwischen auch Mitglieder des "Alternativen Sozialen Blocks" in Popayan, der Hauptstadt des südlichen Departments Cauca. Der Kandidat des "Blocks" hatte im vergangenen Herbst für eine faustdicke Überraschung gesorgt: Der Guambiana-Indianer Floro Tunubalá war zum Gouverneur gewählt worden – ausgerechnet im Departement Cauca, in dem die Oligarchie das politische Heft immer fest in der Hand hielt. Der erste indianische Gouverneur in der Geschichte Kolumbiens besiegte den gemeinsamen Kandidaten der beiden traditionellen Parteien. An jenem 29. Oktober 2000 rieben sich manche Beobachter die Augen. Überraschend hatten bei den Gemeinde- und Regionalwahlen unabhängige alternative Kräfte, ideologisch bunt gescheckt, landesweit rund 25 Prozent der Stimmen erobert. Die Liberale Partei verteidigte mit knapp 40 Prozent den ersten Platz, aber die Konservative Partei des Präsidenten Andrés Pastrana brachte es nur auf kümmerliche neun Prozent.
Wenn das Zweiparteien-System gefährdet war, haben sich die beiden großen Parteien noch immer verständigt. So zuletzt in der "Front für Frieden und gegen Gewalt", die Gewaltanwendung als Instrument des politischen Kampfes verdammt. Unterschrieben haben den Pakt vor allem führende Politiker der beiden Altparteien. Die CUT und unabhängige Parteien haben ihre Unterschrift verweigert, weil die Absicht allzu durchsichtig war. Mit von der Partie ist allerdings Navarro Wolf, ein früheres führendes Mitglied der "M 19"-Guerilla, der später Minister und Bürgermeister in der südlichen Provinzstadt Pasto geworden ist. Für die einen ist er ein Verräter, für andere schlicht kooptiert. Kooptation ist eine der beiden Methoden, um innenpolitischen Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese werden umgarnt, mit Ämtern verwöhnt, korrumpiert. Wenn auch das nicht verfängt, wird auch nicht vor Gewalt zurückgeschreckt. Die Konservative und die Liberale Partei haben praktisch seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Macht in Kolumbien unter sich aufgeteilt, um die Privilegien der tonangebenden Familienklans gegenüber Alternativen zu sichern, die die herrschende wirtschaftliche und soziale Ordnung in Frage stellten.
"Was gibt es denn für einen Unterschied zwischen liberalem und konservativem Hunger?", fragte sich vor einem halben Jahrhundert Jorge Elecer Gaitán. Der sozialreformerische Führer der Liberalen Partei griff die Oligarchie an und kündigte eine Agrarreform an. Über das Massaker an den Bananenarbeitern der United Fruit Company im Jahre 1928 – von Gabriel García Márquez in seinen "Hundert Jahren Einsamkeit" verewigt – urteilte Gaitán: "Es ist schmerzlich zu erfahren, dass die Regierung in diesem Land für die Kolumbianer das mörderische Maschinengewehr bereithält, für das amerikanische Unternehmen aber einen beschämenden Kniefall." Am 9. April 1948 wurde Gaitán ermordet – ein unvergesslicher, dunkler Markstein in der Geschichte Kolumbiens. Darauf folgte die Zeit der violencia, die weit über 300.000 Kolumbianer das Leben kosten sollte. Auf dem Lande rechneten Großgrundbesitzer mit Bauern ab, die sich gegen sie organisiert hatten. In den Städten wurde die Arbeiterbewegung fast liquidiert.
Der blutige Konflikt um Macht und Land zwischen Liberalen und Konservativen wurde 1957 nach der Diktatur des Generals Rojas Pinilla mit der Frente Nacional, der Nationalen Front, beendet. Die Parteien kamen überein, sich über einen Zeitraum von 16 Jahren in der Macht abzulösen und abwechselnd in Absprache den Präsidenten zu stellen. Das Wort von der Zweiparteien-Diktatur kam auf. Es gebe sicherlich – so der bekannte in Barcelona exilliierte kolumbianische Soziologe Alfredo Molano, "eine Demokratie für die Sektoren, die immer dominiert haben," für die arme Landbevölkerung dagegen nicht.
Wie klein die Spielräume für eine legale Opposition sind, bekam auch die linksgerichtete Unión Patriótica zu spüren, wohl weil sie gute Chancen hatte, das Liberal-Konservative Politkartell zu durchbrechen. Aber dann wurden von gedungenen Mördern hintereinander zwei ihrer Präsidentschaftskandidaten ermordet und bis Ende der achtziger Jahre gar mehrere Tausende ihrer führenden Köpfe umgebracht. Unter den herrschenden Verhältnissen sei es selbstmörderisch, den legalen Wahlweg zu begehen, wendet deshalb die Guerilla ein.
Die Gründung des Movimiento Bolivariano, des politischen Arms der FARC, fand denn auch im tropischen San Vicente del Caguán, im Departement Caquetá statt. Die rund 17.000 Einwohner zählende Stadt ist Mittelpunkt der entmilitarisierten Zone, die der FARC-Guerilla von der Regierung vor rund zwei Jahren zugestanden wurde. Der dunkelgrün gestrichene Bau an einem Platz im Zentrum San Vicentes schräg gegenüber der Kirche fällt kaum auf. Dafür ziehen aber die davor postierten schwer bewaffneten Guerilleros sofort die Blicke an. Ein Schild am Gebäude klärt auf: "Movimiento Bolivariano", der Sitz der FARC, der ältesten Guerilla Lateinamerikas.
Im Eingangsraum klingt aus einem Kofferradio die Stimme Lucas Iguaráns, des Komponisten und Sängers revolutionärer Lieder, unterlegt mit traditioneller Vallenato-Musik. In einer Glasvitrine Bücher über Bolivar, die FARC-Zeitschrift Resistencia, T-Shirts des Movimiento, Iguarán-CDs, Guerilla-Andenken. An den Wänden Porträts vom Befreier Simon Bolívar. Ein gerahmtes Großfoto mit Che Guevara und Fidel Castro als junge Revolutionäre. Das Porträt Lenins ist eher winzig geraten. Die FARC hält auch heute noch am Marxismus-Leninismus fest. Allerdings weniger mit realsozialistischen als vielmehr kolumbianischen Tönungen, immer mehr überlagert von bolivarianischen Gedanken.
Weniger wegen ihrer marxistischen Wurzeln als vielmehr wegen umstrittener Aktionen sind die FARC in die Kritik geraten. Sie verübten standrechtliche Erschießungen und entführten Zivilpersonen, um ihnen sogenannte Revolutionssteuern abzupressen, so die Vorwürfe einiger Menschenrechtsorganisationen. Doch die FARC verstehen sich als legitime Macht in Kolumbien – mit dem Recht, von Vermögenden, die über eine Million Dollar Kapital besitzen, Steuern zu erheben. Die in den Drogenhandel verwickelten Kolumbianer werden ebenfalls zur Kasse gebeten. Wer sich weigere, werde verhaftet, wie sie es nennen; amnesty international spricht von Entführung, Geiselnahme und Erpressung.
Doch entgegen einer weit verbreiteten Meinung, die ihnen keine politische Ziele mehr zubilligt, sondern nur noch Macht- und Geldgier, haben die Guerilleros konkrete Vorschläge für ein anderes Kolumbien vorgelegt. So einen Zehn-Punkte-Plan, den die FARC im Untergrund 1993 als "Plattform für eine Regierung des Wiederaufbaus und der nationalen Aussöhnung" verabschiedet haben und der – wenig bekannt – heute weitgehend als Gesprächsgrundlage mit der Regierung dient. Die FARC drängt auf eine echte Gewaltentrennung, vor allem zwischen Politik und Justiz, und Beseitigung der "Doktrin der Nationalen Sicherheit". Schon Bolívar habe gesagt, so betonen FARC-Vertreter, dass es die Aufgabe des Heeres sei, "die Grenze zu sichern. Gott möge uns davor bewahren, dass sie ihre Waffen gegen das eigene Volk wenden!" Neben der Beseitigung der verbliebenen Latifundien wird mehr Schutz für die Landwirtschaft gefordert, verbunden mit ländlichen Entwicklungsprogrammen. Dazu müsse das "Erdöl ausgesät" werden. Eine Lösung des Drogenproblems könne es nur geben, wenn es als schwerwiegendes soziales, aber nicht militärisches Problem begriffen werde. Deshalb solle der Staat, so fordert die "Plattform", die Hälfte seines Haushaltes für soziale Aufgaben verwenden.
Doch da sind kaum Zugeständnisse aus Bogotá zu erwarten, wo ein strikt neoliberaler Kurs gefahren wird. Im laufenden Haushalt sind für Verteidigung und Sicherheit 12,4 Prozent vorgesehen, für Erziehung dagegen nur 4,4 Prozent und für Gesundheit gar nur kümmerliche 1,7 Prozent. Mit einer Steuerreform soll die Mehrwertsteuer auf Artikel des Grundbedarfs ausgeweitet, der Gewinntransfer der Multis ins Ausland hingegen von Steuern befreit werden. Kolumbien wetteifert mit Brasilien, wer die unausgeglichenste Einkommensverteilung in Lateinamerika hat. Weit über 50 Prozent der 42 Millionen Kolumbianer sind arm, über 70 Prozent der Landbevölkerung lebt im Elend.
Im Zuge der neoliberalen Politik der letzten zehn Jahre sind zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe zugrunde gegangen, weil der kolumbianische Markt mit importiertem billigem Reis, Mais, Kartoffeln und Bohnen überschwemmt wurde. Produkte, die traditionell in Kolumbien angepflanzt wurden. Früher importierte Kolumbien 700.000 Tonnen Nahrungsmittel, heute ist es die zehnfache Menge. Seit der bedingungslosen Öffnung des kolumbianischen Marktes hat sich der Kaffeeanbau halbiert. Etwa eine Million Menschen haben ihren Job auf dem Lande verloren, eine Viertelmillion Bauern hat sich der Koka-Ernte zugewandt.
Der soziale Ausschluss hatte schon früher viele Bauern und Landpächter aus nördlicheren Regionen in die tropischen Departments Caquetá und Putumayo – Zielgebiet des Kolumbien-Plans – vertrieben. Dort haben sie den Regenwald gerodet und gelichtet, Weiden für die Viehzucht angelegt oder Reis und Mais angepflanzt. Aber viele Siedler hätten damit nicht ihr Überleben sichern können, berichtet Rodrigo Veledes, ein Mitarbeiter des von Misereor und der katholischen Kirche getragenen Informations- und Untersuchungsbüros Cifisam, dessen Sitz in San Vicente in Reichweite des FARC-Büros liegt. Cifisam will eine integrale und nachhaltige Entwicklung im Amazonas-Gebiet fördern.
Koka und Kokain haben einen gesicherten Absatzmarkt, da die Nachfrage vor allem in den USA anhält. Die Drogenhändler würden – so Veledes – Pflänzlinge anliefern, wenn nötig auch Dünger und Pflanzenschutzmittel. Und schließlich würde "die Ware auch noch kostenfrei abtransportiert". Mit dem Erlös aus dem Verkauf der illegalen Pflanzen könne die Familie Kleidung und Schulbücher für ihre Kinder kaufen oder sich einen Kühlschrank anschaffen. Währenddessen sei der Kleinbauer, der auf Koka verzichte, einem ungesicherten Absatz und hohen Kreditzinsen ausgesetzt. Er müsse seine Ernte zudem noch über holprige Wege bis zum nächsten Markt transportieren – auf eigene Rechnung.
In Sichtweite von Cifisam und FARC fällt eine große "Werbetafel" auf: "Plan Colombia. Die USA liefern die Waffen, Kolumbien stellt die Toten. FARC." Der Plan betrifft vor allem Putumayo. Offiziell ist es ein "Plan für den Frieden, den Wohlstand und die Erneuerung des Staates". Für den Frieden steuern die USA ein militärisches Hilfspaket in Höhe von 1,3 Milliarden US-Dollar bei, Kolumbien kommt für die Kosten des sozialen Wohls auf. Ein Plan, der nicht nur von Guerilleros als Kriegserklärung an die Aufständischen, die in Putumayo operieren, angesehen wird. Ein Plan, der wohl auch die Kontrolle über eine unsicher gewordene Region sichern soll. In den Nachbarländern zeichnen sich aus Washingtoner Sicht Besorgnis erregende Entwicklungen ab: In Ekuador hat sich eine mächtige indianische Bewegung gebildet. In Venezuela hat Präsident Hugo Chávez engeren Kontakt zu Kuba, als Washington lieb ist. Venezuela, Ekuador und Kolumbien sind zudem wichtige Öllieferanten für die USA. Kolumbien ist ein Land reicher Artenvielfalt, vor allem in seinen Amazonas-Gebieten, wo der Drogenkrieg entfesselt werden soll.
Bogotá hat sich verpflichtet, mit US-finanzierten Waffen, Helikoptern und Pflanzengiften gegen den Drogenanbau vorzugehen. Die Sprühaktionen treffen vor allem die ohnehin leidgeprüften, immer wieder verjagten und gejagten Campesinos, die Landarbeiter; die Drogenbosse sitzen dagegen in den Städten, haben ihr Geld in legale Geschäfte investiert oder ihre illegalen Gewinne über Einheiraten in die besseren Kreise gewaschen.
Schon seit Jahren wird gesprüht, sind Mais und Koka verdorrt, Böden und Flüsse vergiftet worden. Dem Kokain-Business hat das keinen Abbruch getan. Die Flächen haben sich verdoppelt, und zusätzlich ist der Schlafmohnanbau von praktisch Null auf 6000 Hektar geklettert (aus Schlafmohn wird Heroin hergestellt). Die Koka-Pflanzer sind einfach noch tiefer in den Regenwald vorgedrungen. Vorschläge, die Koka-Sträucher und Mohnblumen mit Handarbeit zu beseitigen und so Umwelt und Menschen zu schonen, liegen auf dem Tisch. Die Regierung will das auf einer kleinen Fläche im Putumayo ausprobieren; sie verspricht auch Alternativkulturen, aber daran mag so recht keiner glauben, denn Versprechen hat es aus dem präsidialen Palacio Nariño in Bogotá immer wieder gegeben. Eingehalten wurde fast nichts, wenn es um einfache Bauern und Landpächter ging.
Auch die FARC haben angeboten, in der entmilitarisierten Zone ein Pilotprojekt zur Koka-Vernichtung zu starten. Noch weitgehender ist der integrierte Plan des Cauca-Gouverneurs Tunubalá. Er schlägt nicht nur vor, Koka-Sträucher auszureißen und eine alternative Produktion aufzubauen, sondern präsentiert auch Programme für eine Verbesserung von Gesundheitsversorgung, Erziehungssystem und Infrastruktur. Tunubalá hat dem Präsidenten den Plan persönlich erläutert. Ein ehrgeiziges, sicherlich kostenträchtiges Programm, aber auch ein Test, wie ernst es die Regierung mit ihren sozialen Versprechungen meint. In Bogotá zögerte die konservative Regierung Pastrana nicht, neun Milliarden Dollar für die Rettung bankrotter Banken und Industriebetriebe zu bewilligen. Aber da ging es auch um die Sanierung von Unternehmen, die Opfer des neoliberalen Wirtschaftskurses geworden waren, und nicht um das Überleben von Campesinos, die – sofern sie nicht Koka-Blätter sammeln oder stampfen – überhaupt nicht vom "Plan Colombia" erfasst werden.
Aber selbst wenn die Guerilla die Waffen strecken sollte und der letzte Koka-Strauch verdorrt ist, sei man – so der Cifisam-Mitarbeiter – von einem wahren Frieden weit entfernt: Wenn die strukturellen Probleme – Arbeit, Gesundheit, Erziehung, ungleiche Einkommensverteilung, Korruption, Agrarreform – nicht gelöst würden, dürften mit Sicherheit neue Varianten der Gewalt aufbrechen. Ähnliches formulierte ein Oberstleutnant bei der Offiziersvereidigung öffentlich. Schlussfolgerung: "Deshalb sind drastische Entscheidungen erforderlich!" Sie wurden getroffen. Der Oberstleutnant wurde verhaftet.
aus: der überblick 01/2001, Seite 99
AUTOR(EN):
Karl-Ludolf Hübener :
Karl-Ludolf Hübener ist freier Lateinamerika-Korrespondent für Funk- und Printmedien. Er lebt in Montevideo, Uruguay.