Ein anderes Schwert im Kampf gegen den Terror
Entwicklungspolitik kann zur Prävention von Terror beitragen, wenn sie ihre eigenen Ziele und Mittel gegen die Sicherheitspolitik behauptet.
von Bernhard Moltmann
Die Erinnerung an den 11. September 2001, den Tag der Anschläge auf New York und Washington, beginnt zu verblassen. Zwar nicht bei jenen, die Angehörige und Freunde verloren haben, Verletzungen bei den Bergungsarbeiten davongetragen haben oder unmittelbare Zeugen des Geschehens waren. Aber ansonsten ist nach einem halben Jahr die Aufmerksamkeit zu anderen Blutspuren auf dem Globus gewechselt. Menschen, Gesellschaften und Staaten beginnen, sich wieder in ihrer Normalität einzurichten.
Inzwischen haben die Wellen des Ereignisses die Gestade der Entwicklungspolitik erreicht. Im Angesicht des Schreckens liegt es nahe, das Trauma in etwas Gutes zu verwandeln, das dem Geschehen Sinn und Würde verleihen kann. Entwicklungsförderung kann auf ihren Ruf pochen, solch Gutes zu symbolisieren - im Gegensatz zu Militäraktionen, die Zweifel an ihren Absichten und Ergebnissen wecken. Und was für Staaten gilt, gilt auch für nichtstaatliche Organisationen und Kirchen. Wer wollte angesichts des Schreckens nicht etwas Gutes tun? Auch stellt sich die Frage, ob man mit den Instrumenten der Entwicklungspolitik dieser Manifestation von Gewalt hätte wehren, dem Terror vorbeugen können. Doch um den Wert der Entwicklungspolitik als Schwert im Kampf gegen den Terrorismus zu bemessen, gilt es sich Klarheit über das Neue in dieser Art Terrorismus zu verschaffen. Nur klare Perspektiven helfen gegen die Angst vor dem Ungewissen.
Das Geschehen des 11. September 2001 ist das Produkt eines Gewaltunternehmens auf der Höhe der Globalisierung. Transnational organisiert, nutzt es die Möglichkeiten weltumspannender Kooperation und Netzwerke, die den einzelnen Tätern zugleich Anonymität wie persönliche Nähe gewähren und Loyalität stiften. Das Unternehmen operiert exterritorial, im virtuellen Raum der Mobiltelefone und des Internet. Und es lässt Medienkompetenz erkennen: Wo die unmittelbare Anwendung von Gewalt nicht ausreicht, erzeugen Bilder die gewünschte Wirkung.
Vier Elemente kennzeichnen das Neue des Geschehens. Erstens die Größenordnung: Am 11. 9. 2001 starben etwa dreimal soviel Menschen wie bei den Terroranschlägen in den vorangegangenen dreißig Jahren zusammen. Zweitens Verschiebungen im Verhältnis von Zwecken und Mitteln: Galt früher für Terroristen die Devise, mit möglichst geringem Gewalteinsatz einen größtmöglichen öffentlichen Effekt zu erzielen, so werden nun die Opfer bedeutungslos. Drittens die Verabsolutierung des Gegners: Indem die Täter aus dem Gegner einen Feind machen, unterwerfen sie sich keiner Einschränkung der Gewalt mehr. Sie riskieren die Barbarisierung des Gewalteinsatzes. Die Legitimation für ihr Tun leiten sie aus religiösen Motiven ab, die nicht zur Disposition stehen. Dabei geben sie sich apokalyptischen Vorstellungen anheim. Viertens die Fragmentierung der Staatenwelt: Jenseits aller territorialer Ungebundenheit nutzen die Täter die wachsende Zahl der kollabierenden bzw. zusammengebrochenen Staaten, um sich dorthin zurückzuziehen oder unter dem Deckmantel zwischenstaatlicher Beziehungen zu operieren.
Welche Aufgaben ergeben sich daraus für die Entwicklungsförderung? Nach dem 11. September 2001 teilen sie mit anderen Politikfeldern die Erkenntnis, dass an den Zielen der gemeinsamen Sicherheit keine Abstriche zu machen sind. Aber die Außen- und Sicherheitspolitik steht unter andersartigem Handlungsdruck als die Entwicklungspolitik. Auch die Instrumente unterscheiden sich grundlegend: Jene sieht sich unter dem Zwang, durch rasches Handeln unter Beweis zu stellen, dass ihr Regelwerk nicht beschädigt ist. Repression ist schneller und medienwirksamer als die entwicklungspolitischen Leitgrößen Kooperation und Einbindung. In diesem Wettlauf kann die Entwicklungspolitik nicht mithalten. Sie setzt darauf, Einstellungen und Verhaltensweisen von Individuen und Gruppen zu verändern. Sie hofft, dass sich dadurch Strukturen wandeln. Ihr Erfolg hängt von Freiwilligkeit und Überzeugung, nicht von Zwangsmitteln ab.
Die Außen- und Sicherheitspolitik scheut sich nicht, einen allgemeinen Kampf gegen den Terrorismus auszurufen. Dagegen geht es der Entwicklungspolitik und ihrer Praxis - emphatisch gesprochen - darum, den Menschen eine Heimat zu geben, die Abfolge von Säen und Ernten zu achten und Nachbarschaften als Rückhalt zu festigen. Ihre Partner sind Menschen, Gruppen und Gesellschaften, die sich als Subjekte ihres Schicksals, in ihrer sozialen Rolle und mit ihren Rechten anerkannt sehen wollen. Wenn soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen zerbrochen sind, sind Rehabilitation und Neuaufbau angesagt.
Dies wird erfolgreich sein, falls das Vertrauen in die gewalthegende Wirkung des Rechts zunimmt und ein gesellschaftlich verankertes Gewaltmonopol Willkür, Unterdrückung und Terror beseitigt. Apokalyptische Weltbilder büßen an Resonanz ein, wenn die Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft wächst. Damit verlieren fundamentalistische Bewegungen ihren Nährboden, denn sie geben durchlebten Enttäuschungen und Einsamkeiten einen Sinn, der im Jenseits liegt.
Doch hat der 11. September 2001 der Entwicklungspolitik ein neues Element hinzugefügt: Medien durchdringen und verändern Staaten und Gesellschaften. Wo die Öffentlichkeit ihre Aufgabe wahrnehmen soll, Macht zu kontrollieren und politische Teilhabe zu bewirken, da müssen sich Menschen als Teil solch einer Öffentlichkeit verstehen können. Für die Entwicklungspolitik heißt dies, ihre Blindheit für dieses Moment abzulegen und Initiativen zu starten, die Medien zu nutzen. Es gilt sie zu verstehen und die übermittelten Botschaften zu deuten.
Die Leistung entwicklungspolitischen Engagements liegt nicht in der Produktion spektakulärer Ergebnisse, zudem noch auf die Schnelle, sondern im beharrlichen Wirken - geleitet vom Vertrauen auf seine Überzeugungskraft. Die Entwicklungsförderung wirkt den Ursachen entgegen, die Menschen veranlassen, der Versuchung nachzugeben und mit einzelnen zerstörerischen Gewaltakten Verhältnisse zu ändern. Prävention gegen Akte des Terrorismus hat deshalb die Umstände im Blick, die Menschen und Gruppen in die Rolle von Tätern hineinwachsen lassen. Gelingt es, einen Wandel dieser Bedingungen zu erreichen, dann erledigt sich die Rede vom Kampf gegen den Terrorismus von selbst.
Freilich: Die Medizin, aus der der Begriff Prävention stammt, honoriert die Gesundheitsvorsorge kaum, gibt aber viel Geld aus, um Krankheiten erträglich zu machen. Ähnlich mischen sich in der Politik unterschiedliche Interessen. Um die Eigenarten der Entwicklungsförderung nicht unter die Räder kommen zu lassen, muss man auf den Unterschieden in Zielen und Instrumenten beharren und sich für den eigenen Erfahrungsschatz stark machen. Damit kann sich die Entwicklungspolitik gegenüber außen-, militär- und sicherheitspolitischen Belangen durchaus behaupten.
Die Bundesregierung hat nach dem 11. 9. 2001 den Stellenwert der Entwicklungspolitik im Kampf gegen den Terrorismus erkannt. Ihr Programm enthält alle Stichworte einer sinnvollen Strategie. Vieles davon mag dem vorhandenen Arsenal entnommen sein, wird aber unter den aktuellen Umständen wirkungsvoll zugespitzt. Ist die gesellschaftliche Erschütterung nach den Terroranschlägen ehrlich gewesen, so werden sich auch nichtstaatliche Organisationen wie die kirchlichen Dienste nicht dem Appell verschließen können, ihren Teil beizutragen.
Die Sorge der Entwicklungspolitik, im Kampf gegen den Terrorismus vereinnahmt zu werden, ist unbegründet. Denn sie hat sich in ihrer Geschichte immer damit arrangieren müssen, unter politisch vorgegebenen Etiketten tätig zu sein. Frühere Parolen erklärten sie zum Agenten der Modernisierung, zum Mittel in ideologischen Auseinandersetzungen, zum Überträger von Demokratisierung oder zur Plattform im Kampf der Kulturen. Mögen auch die politischen Konjunkturen wechseln, so haben sich doch entwicklungspolitische Ziele derweil konsolidiert. Was richtig ist, kann durch neue Namen nicht falsch werden.
Schwieriger wird es in Zeiten politischer Polarisierung für die Entwicklungspolitik, nicht nur als fünftes Rad an einem von anderen gesteuerten Wagen mitzurollen. Sie hat das Wohl aller Menschen im Blick und unterscheidet nicht zwischen Tätern und Opfern. Sie kann sich nicht ihre Kritik an herrschenden Verhältnissen abhandeln lassen. Sie kann nur als unbequemer Partner bestehen und nicht auf ihre gleichsam subversive Eigenschaft verzichten. Denn die Folgen ihres Tuns werden vielen Machthabern nicht gefallen, arbeiten diese doch in die entgegengesetzte Richtung. Aber es ist der Entwicklungspolitik und ihrem Umfeld zuzutrauen, dass sie dem widerstehen.
Der 11. September 2001 hat der Entwicklungspolitik ein Fenster der Aufmerksamkeit geöffnet. Nutzen die staatlichen und nichtstaatlichen Beteiligten dies für ihr über den Tag hinausreichendes Ziel, dann hätten die Attentäter eine Wirkung erreicht, die sie gewiss nicht beabsichtigt hatten: Sie sähen sich mit einem Schwert konfrontiert, dessen Schärfe sich nicht in Gewaltträchtigkeit, sondern in seiner Friedenskraft beweist.
aus: der überblick 02/2002, Seite 86
AUTOR(EN):
Bernhard Moltmann:
Dr. Bernhard Moltmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und Vorsitzender der Kammer für Mission und Ökumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Er leitet für die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung deren Fachgruppe "Rüstungsexporte".