In armen Ländern steht pro Kopf viel weniger Energie zur Verfügung als in reichen - und die wird ineffizient genutzt
Das globale Wohlstandsgefälle ist auch ein Gefälle beim Energieverbrauch. Arme Länder verbrauchen weniger Energie pro Kopf als reiche und nutzen zum Teil andere Energiequellen. Sie setzen zudem einen kleineren Teil der verfügbaren Energie für den Verkehr ein und mehr für die Industrie - und das oft sehr ineffizient. Verbesserungen im Energiesektor sind daher ein unverzichtbarer Bestandteil der Entwicklung wie der Armutsbekämpfung.
von Dirk Wolters
Den größten Teil des Weltsozialproduktes erwirtschaften Industrieländer, obwohl sie nur einen geringen Anteil der Weltbevölkerung stellen. Damit einhergehend verursachen sie die größten Umweltschäden und verbrauchen am meisten natürliche Ressourcen - nicht zuletzt Energieträger.
So betrug das gesamte Sozialprodukt aller Entwicklungsländer 1999 zwar, nach Kaufkraftparitäten gerechnet, ein gutes Drittel der in der Welt erwirtschafteten rund 26 Billionen US-Dollar. (Bei der Umrechnung nach Kaufkraftparitäten - Purchasing Power Parities, PPP - wird der Wert des Sozialprodukts verschiedener Länder nach der Kaufkraft der Währungen im Inland statt nach dem offiziellen Wechselkurs der Währungen umgerechnet, was zu einer höheren Bewertung des Sozialprodukts vieler armer Länder führt; Anm. d. Red.). Pro Kopf bedeutet dies allerdings lediglich ein Siebtel des Wertes der OECD-Staaten (2.280 gegenüber 16.190 US-Dollar). Zwischen dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen und dem niedrigsten liegt ein Faktor von 73. 2,8 Milliarden Menschen leben mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag und 1,2 Milliarden mit weniger als nur einem US-Dollar. Dies sind eindrückliche Anzeichen der sozialen Ungleichheiten.
Ähnlich stellt sich die Situation bei der Energieversorgung dar: Im Jahr 1995 entfielen auf die Industrieländer einschließlich der Reformstaaten zwei Drittel des Weltprimärenergieverbrauchs von 9 Milliarden Tonnen Öläquivalent (Gigatonnen Öläquivalent, Gtoe). Die Entwicklungsländer verbrauchten nur knapp 34 Prozent der Primärenergie, obwohl dort 77 Prozent der Weltbevölkerung lebten. Die Staaten mit hohem Einkommen, die nur 15 Prozent der Weltbevölkerung stellen, verbrauchten 1999 die Hälfte der verfügbaren kommerziellen Energie. Der Pro-Kopf-Verbrauch war dort zehnmal so hoch wie in Ländern mit niedrigem Einkommen, wo 40 Prozent der Weltbevölkerung leben. Die reichen Staaten können sich also rühmen, die größten Umweltverbraucher zu sein.
Der Energieverbrauch in Industrieländern und der in Entwicklungsländern nähern sich langsam einander an. Trotzdem ist festzustellen, dass manche Unterschiede noch größer werden. Elektrizität gilt im allgemeinen als moderner Energieträger, da sie elegant, sauber und effizient eingesetzt werden kann; so hat sich in den letzten Jahrzehnten ein steigender Stromverbrauch bei gleichzeitiger Stagnation des Verbrauchs an fossilen Energieträgern als eine Eigenschaft moderner Gesellschaften herauskristallisiert. Strom wird im Vergleich zu anderen Energieträgern immer wichtiger. Dies gilt aber nicht für Länder mit niedrigem Einkommen: Während dort der Stromverbrauch 1980 noch 20 mal niedriger lag als in Ländern mit hohem Einkommen, stieg dieser Faktor bis 1998 auf 22. Es handelt sich also nicht um einen Ausgleich, sondern im Gegenteil um eine Verschlechterung der Situation.
Dennoch ist der Energieverbrauch in Entwicklungsländern nicht vernachlässigbar und muss genauer beachtet werden - allein schon aufgrund seiner absoluten Höhe, aber auch weil dort eine zunehmende Steigerung erwartet wird. Die Anteile von Industrie und Haushalten am Stromverbrauch liegen gegenüber den OECD-Staaten auf einem deutlich höheren Niveau, wohingegen der Verkehrssektor vergleichsweise wenig zum Energieverbrauch beiträgt. Dies liegt einerseits daran, dass Energie in den Bereichen Haushalte, Gewerbe und Industrie sehr ineffizient genutzt wird, und andererseits an den hohen Kosten des privaten motorisierten Individualverkehrs. Allerdings begründet genau diese Tatsache die Angst vieler Klimawissenschaftler, dass die Erde beschleunigt in eine Klimakatastrophe schlittern wird, wenn sich die wirtschaftliche Situation einzelner Staaten verbessert und dann beispielsweise alle Chinesen Auto fahren.
Bei den Primärenergieträgern, die in Entwicklungsländern verwendet werden, fällt auf, dass erneuerbare Energien den größten Beitrag leisten - über ein Drittel. Das liegt allerdings weniger daran, dass in diesen Regionen bereits eine Energiewende in dem Sinne stattgefunden hat, wie sie in Deutschland zuweilen verfolgt wird. Der Grund ist vielmehr darin zu suchen, dass auf traditionelle Weise Biomasse genutzt, also vor allem Holz verbrannt wird - mit ineffizienten Techniken und den bekannten Folgen für Umwelt und Gesellschaft. Die klassische Biomassenutzung macht rund 80 Prozent des Anteils erneuerbarer Energien aus, der Rest wird fast ausschließlich aus großen Wasserkraftanlagen gedeckt. Solar- und Windenergie leisten verschwindend geringe Beiträge. Die Kernenergie wird bisher in Entwicklungsländern kaum genutzt, so dass der Hauptteil des Energiebedarfs mit den fossilen Energieträgern Kohle (rund 30 Prozent), Öl (rund 27 Prozent) und Erdgas (rund 8 Prozent) gedeckt wird.
Die Gruppe der Entwicklungsländer insgesamt ist kein Netto-Energieimporteur, sondern -exporteur. So produzierten 1998 alle Entwicklungs- und Schwellenländer zusammen etwa 5,9 Gtoe in Form von Kohle, Öl und Gas, verbrauchten aber lediglich 4,6 Gtoe - der Überschuss wurde auf dem Weltmarkt verkauft. Das mag zunächst überraschen. Umgekehrt ist aber allgemein bekannt, dass die westlichen Industrienationen Nettoimporteure von Energie sind. So werden beispielsweise über 60 Prozent des europäischen Energieverbrauchs aus Importen gedeckt. Der Exportüberschuss der Gruppe der Entwicklungsländer bei Primärenergieträgern bestätigt die Tatsache, dass die reine Rohstoffvermarktung kein Garant für wirtschaftliche Entwicklung ist. Allerdings ist die wirtschaftliche Situation von Entwicklungsländern, die kaum auf heimische Energiequellen zurückgreifen können und Energie importieren, besonders schlecht. Einige in dieser Hinsicht benachteiligten Länder gehören daher - und natürlich auch aus anderen Gründen - zu den Staaten mit niedrigem Einkommen, wie Bangladesch, Benin, Äthiopien, Ghana, Haiti, Nepal, Nicaragua, Senegal oder Tansania.
Versteht man die Kosten für den eigenen Primärenergieverbrauch aller Staaten mit mittlerem und niedrigem Einkommen als entgangene Gewinne, dann würden sich bei einem Rohölpreis von 22 US-Dollar pro Barrel und einem Verbrauch von 4,6 Gtoe etwa 300 Milliarden US-Dollar jährlich ergeben - mehr, als derzeit zur Schuldentilgung weltweit aufgewendet wird. Das heißt diese Summe könnte theoretisch erlöst werden, wenn die verbrauchte Energie exportiert würde. Natürlich ist es völlig unrealistisch anzunehmen, dass der gesamte Energiebedarf einzusparen und auf dem Weltmarkt abzusetzen wäre. Aber die Rechnung zeigt, welche unmittelbare monetäre Bedeutung der Energiesektor hat. Das ist hilfreich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass gerade Entwicklungsländer im Vergleich zu Industrieländern Energie ineffizient einsetzen. So erwirtschaften heute beispielsweise Staaten mit niedrigem Einkommen nur 3,4 US-Dollar (in PPP) pro Kilogramm Öläquivalent, während die Länder mit hohem Einkommen im Durchschnitt auf 4,6 US-Dollar und die westeuropäischen sogar auf 5,6 kommen. Kämen die Entwicklungsländer auf die Durchschnittswerte Europas, dann könnten sie 40 Prozent ihrer Energiekosten, also rund 120 Milliarden US-Dollar jährlich einsparen und allein damit ihre Zinszahlungen leisten. Und dabei ist nicht berücksichtigt, dass die Länder Europas ebenfalls noch große Einsparpotenziale von etwa 30 bis 40 Prozent besitzen. Schon rein ökonomisch betrachtet, kann es sich also für ein Entwicklungsland sehr lohnen, näher auf den Energieverbrauch zu achten.
Entwicklungsländer können jedoch auch im Hinblick auf Energie nicht als Einheit betrachtet werden. Eine detailliertere regionale Aufschlüsselung des Primärenergieverbrauchs zeigt unter anderem, dass die bevölkerungsreichen Staaten China und Indien die Höhe des Energieverbrauchs in ihren Regionen stark beeinflussen. Die Staaten des Nahen Ostens verbrauchen absolut nur vergleichsweise wenig Energie, besitzen dafür aber umso höhere Reserven. Auch ist zu erkennen, dass relativ starke lateinamerikanische Volkswirtschaften wie Brasilien und Argentinien mit ihrem vergleichsweise hohen Energieverbrauch Auswirkungen auf den Verbrauch der gesamten Region haben. Afrika hingegen fällt beim globalen Verbrauch kaum ins Gewicht - ein weiterer Hinweis für die These vom verlorenen Kontinent.
In den (früheren) Zentralplanungs-Wirtschaften Asiens, insbesondere in China, wird der überwiegende Teil des Verbrauchs mit Kohle gedeckt wird. Dahinter steht vor allem die Nutzung der großen Kohlevorkommen in China, die sich in Zukunft noch verstärken wird. In allen anderen Regionen hat die Kohle einen eher untergeordneten Stellenwert. Die erneuerbaren Energien liefern hingegen in fast allen Regionen einen hohen Anteil an der Energieversorgung. Dies ist hauptsächlich auf die traditionelle Biomassenutzung, aber auch auf große Wasserkraftwerke zurückzuführen. Beide Optionen sind in der Regel mit sozialen und ökologischen Problemen verbunden - man denke nur an den geplanten Drei-Schluchten-Staudamm in China.
Während die meisten Staaten versuchen, Erdöl möglichst nicht mehr für die Stromerzeugung zu nutzen, hat dieses im Nahen Osten - zurückzuführen auf den Überfluss an Erdöl und Erdgas - den höchsten Anteil an der Stromproduktion. In Lateinamerika fällt der hohe Anteil erneuerbarer Energien an der Strombereitstellung auf. Dahinter stehen einige der größten Wasserkraftwerke der Erde, wie Itaipú an der brasilianisch-paraguayischen Grenze oder Tucuruí in Amazonien. Vor allem die amazonischen Kraftwerke verursachen umfangreiche ökologische, soziale und gesundheitliche Probleme - wie Zwangsumsiedlungen von Indios und Caboclos, weiträumige Überschwemmungen und die Ausbreitung von Malaria. Brasilien nutzt neben der Wasserkraft einen vergleichsweise hohen Anteil von Biomasse auf moderne Weise: Das Alkoholprogramm macht seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts Alkohol als Ersatz für Benzin als Treibstoff nutzbar.
Die sichere, preiswerte und umweltgerechte Versorgung mit Energie ist für die Entwicklung eines Landes von entscheidender Bedeutung. Wie das geschehen kann, ist jedoch von Region zu Region verschieden und kann nur lokal bestimmt werden. Wieviel Energie für die Armutsminderung und die Entwicklung eines Landes nötig ist, kann nicht pauschal gesagt werden. Ebenso wenig konnte man Richtwerte dafür etablieren, welche Mindestleistung installiert werden muss, um den Lebensstandard über ein gewisses, an Verbrauchsgrenzen orientiertes Maß zu heben, oder dafür, welche Energiedienstleistungen wo bereitgestellt werden müssen. Da Armut und Wohlstand immer auch relativ sind und von Lebensstilen und Bedürfnissen abhängen, kann aus natur- oder ingenieurwissenschaftlicher Sicht weder ein eindeutiger Mindestwert noch ein Richtwert für die Energieversorgung bestimmt werden.
Aber Armutsbekämpfung, Gleichberechtigung, Bevölkerungsentwicklung, Ernährung, Gesundheit, Wasserversorgung, Bildung, Qualifizierung, Umwelt, Klimawandel, wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheitsfragen - sämtlich Aspekte von nachhaltiger Entwicklung - stehen in direktem Zusammenhang mit Energie. Armutsbekämpfung und Entwicklung können daher nur in den seltensten Fällen ohne die Berücksichtigung der Energiefrage erfolgreich betrieben werden. Diesem Aspekt wird leider oft zu wenig Rechnung getragen.
aus: der überblick 04/2001, Seite 17
AUTOR(EN):
Dirk Wolters:
Dirk Wolters ist Projektleiter der Abteilung Energie im Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Zusammen mit C. Boeser und T. Schörner hat er 2000 das Buch "Kinder des Wohlstands. Auf der Suche nach neuer Lebensqualität" veröffentlicht.