Wenn Diskretion unmöglich ist
Weil HIV/AIDS mit einem Stigma belegt ist, wollen viele Menschen sich gar nicht erst testen lassen. Deshalb verlangen Geberorganisationen absolute Diskretion darüber, wer sich hat untersuchen lassen und wie das Ergebnis ausgefallen ist. Das aber ist in dörflicher Umgebung gar nicht durchzuhalten zumal wenn ein HIV-positiv-Testergebnis zu Hilfsleistungen berechtigt.
von Susan R. Whyte, Michael A. Whyte und David Kyaddondo
Jeden zweiten Donnerstag werden in einem Krankenhaus im Osten Ugandas Hilfsgüter an »Klienten« ausgeteilt Menschen, deren HIV-Test im AIDS-Informationszentrum des Krankenhauses (AIC) positiv ausgefallen war. Das Büro, in dem man das Testergebnis erfahren und sich beraten lassen kann, liegt in der Nähe des Labors und eines der Haupteingänge des Krankenhauses. Der Platz ist sehr belebt; Leute kommen vorbei, um Patienten in der Ambulanz zu besuchen oder ins Labor zu gehen.
Da bleibt kaum Privatsphäre für die, die zum Programm »Freiwillige Beratung und Testen« (Voluntary Counseling and Testing; VCT) kommen, wie wir beim Warten auf einen der Berater erfahren konnten. Von Zeit zu Zeit öffnete jemand die Tür zum Büro und war überrascht, nicht den Berater, sondern einen fremden Weißen am Schreibtisch zu sehen. Ein junger Mann bat aber dennoch darum, ihm dabei zu helfen, »die Ergebnisse seiner Prüfung zu erfahren«. Als dieser ihm sagte, dass er auf den Berater warten müsste, kam er kurz danach mit einem Freund zurück, der auf Englisch erneut die gleiche Frage stellte, nur um ein weiteres Mal enttäuscht zu werden. Ein paar Minuten später platzte ein Krankenhausangestellter herein, der seine eigenen Ergebnisse sehen wollte. Er war sichtlich verärgert, als er erfuhr, dass er nicht einfach die Patientenkarten auf dem Schreibtisch des Beraters durchwühlen könne, um seinen eigenen Laborbericht zu finden.
Draußen im Hof hinter dem Krankenhaus waren Pfleger dabei, die Kleider für die Patienten auf ihren Stationen zu waschen. Sie sahen zu und wir sahen zu, wie sich die Menschen am Eingang des Vorratsraums versammelten. Die Klienten konnten daran erkannt werden, dass sie Plastiksäcke fest umklammert hielten, um darin ihre Hirse- und Sojamehl-Rationen zu tragen. Sie warteten geduldig, sprachen kaum außer, wenn sie leise jemanden grüßten.
Die Unterstützung für die AIDS-Kranken kommt von einer Nichregierungsorganisation. Deren Leiter war mit seiner Stellvertreterin gekommen, einer Frau, die verantwortlich für die Ausbildung der Dorfberater (village counselors VCs) war. Die Dorfberater standen ein wenig abseits, in den Händen ihre Kontrollbücher mit den Namen ihrer einzelnen Klienten. Der NGO-Boss war reichlich übereifrig und achtete persönlich darauf, dass die Klienten nicht in die Nähe der Waagen kamen, wo die Rationen der Lebensmittelhilfe gewogen und dann in Säcke abgefüllt wurden. Der Name jedes vortretenden Klienten wurde von dem zuständigen VC auf seiner Aufstellung und dann noch einmal auf einer anerkannten Kontrollliste überprüft. Es stellte sich heraus, dass einige der Leute, die Rationen abholten, selbst keine Klienten waren, sondern Kranke pflegten oder sich um die Waisen von gestorbenen Klienten kümmerten. Der VC bestätigte den Anspruch in solchen Fällen, gelegentlich verbunden mit einer kurzen Erklärung gegenüber dem Boss.
Der Leiter der NGO und seine Stellvertreterin befragten die VCs schroff zu ihrer Arbeit und ihren Kunden. Sie überprüften ihre Aufzeichnungen und beschwerten sich über die Protokollführung, fehlende Einträge und unzureichende Dokumentation der Hausbesuche bei den Klienten. Einige VCs hatten vergessen, ihre Klienten-Listen mitzubringen. Sie hatten sie deshalb in aller Eile mit Hilfe der Hauptliste rekonstruiert, die sie sich von einem Krankenhausberater ausgeliehen hatten. Vom Leiter der NGO wurden sie dafür scharf kritisiert: Sie dürften unter keinen Umständen die Namen der Klienten in anderen Dörfern sehen, Anonymität müsse absolut gewahrt bleiben.
Die beschriebene Szene macht einige grundlegende Probleme deutlich. Ugandas Staatsdiener im Gesundheitswesen stehen an vorderster Front im Kampf gegen HIV/AIDS. Sie treten mit den Menschen in Kontakt, die Behandlung in Gesundheitsstellen im ganzen Land suchen. Sie trifft die Wucht der Kritik am Zustand des staatlichen Gesundheitssystems am heftigsten. Gleichzeitig sind sie umworbene Pförtner und Schlüsselpersonen im ständigen Kampf gegen Krankheit. In ländlichen Gebieten sind Ärzte rar; der staatliche Gesundheitsdienst wird von Krankenhausbeamten, Krankenschwestern, Hilfskrankenschwestern und anderem, nicht ausgebildeten Personal aufrecht erhalten. In der Regel fehlt es an qualifizierten Arbeitskräften; in den Distrikten Tororo und Busia ist weniger als die Hälfte der eingerichteten Arbeitsplätze besetzt. Die Gehälter sind völlig unzureichend, zumal hinter jedem im Gesundheitswesen Beschäftigten in der Regel eine Großfamilie auf Unterstützung wartet.
Ländliche Gesundheitsstationen stellen üblicherweise Unterkünfte für die Angestellten, so dass viele an ihren Arbeitsplätzen wohnen. Auf diese Weise werden sie Teil der lokalen Gemeinschaften. So wurde etwa die beratende Hebamme in dem anfangs beschriebenen Krankenhaus zur Vorsitzenden des Kommunalrates gewählt. Die Gesundheitsberater besuchen die örtliche Kirche oder Moschee, haben Schulden bei den Ladenbesitzern, pachten Farmland und betreiben kleine Geschäfte, um ihre Löhne aufzubessern. Ihre Angestelltenhäuser sind häufig voll mit Verwandten und Nachbarn aus ihren Heimatdörfern, die einen Zwischenstopp bei ihnen machen, wenn sie zu Behandlungen ins Krankenhaus kommen. Sie sind eine zusätzliche Last für das schmale Budget dieser Haushalte.
Vor diesem Hintergrund bekommt die Tatsache, dass Ugandas Gesundheitssystem stark von ausländischer Finanzierung abhängig ist, eine besondere Bedeutung. Seit dem Beginn der AIDS-Epidemie hat die nationale Politik alle möglichen ausländischen Hilfen zugelassen: von internationalen Organisationen, bilateralen Spendern und NGOs. Sie leisten Beiträge zu einer Vielzahl von speziellen Programmen, die zusätzliche Arbeit für das Gesundheitspersonal bedeuten. Für das Gesundheitspersonal haben diese aus dem Ausland finanzierten Programme drei praktische Konsequenzen: Erstens bürden sie den Gesundheitsstationen neue Aufgaben auf, ohne dass dafür neues Personal eingestellt wird. Zweitens geben sie manchmal Finanzierungshilfen, besonders für die bei den Gebern ziemlich beliebten Outreach-Programme, mit denen bisher unerreichte Zielgruppen angesprochen werden sollen. Drittens bieten sie die Möglichkeit, an Workshops teilzunehmen, Seminare und Trainingsveranstaltungen zu besuchen, die neues Wissen vermitteln, und wecken Hoffnung auf Beförderung und attraktive Aufwandsentschädigungen.
Der staatliche Gesundheitsdienst setzt die fremdfinanzierten Programme um. Zusätzlich zu seinen Patienten muss er nun noch die »Klienten« der einzelnen Programme betreuen, etwa Menschen, die als HIV-Positive in das Programm »Vorbeugung gegen die Übertragung von der Mutter aufs Kind« (Prevention of Mother to Child Transmission; PMTCT) oder in das VCT-Programm aufgenommen wurden, zusätzlich auch noch Personen, die von NGOs in Verbindung mit anderen Aktivitäten betreut werden. Die Gesundheitsarbeiter kennen ihre Patienten und Klienten unterschiedlich gut. Einige sind Nachbarn, Verwandte oder sogar Kollegen. Andere sind Einzelpersonen oder Familien, die sie im Laufe der wiederholten Kontakte besser kennen gelernt haben. Wieder andere bleiben Klienten, mit denen die Kontakte bloß sachbezogen und seltener sind.
Geduldige Kommunikation ist ein Qualitätselement von Pflege. Die Autorin einer Studie über diesen Aspekte erzählte vor einiger Zeit, dass Diskretion nicht eingehalten werden könnte, wenn andere Patienten sich in einem kleinen ambulanten Beratungsraum drängen. Einer der anwesenden lokalen Chiefs bemerkte, dass Vertraulichkeit immerhin etwas ganz neues wäre. »Wer hat vor der Krankheit AIDS schon je von Diskretion gehört?«
AIDS hat Aufmerksamkeit auf diesen Aspekt gelenkt. Die Bedeutsamkeit von Vertraulichkeit, eine Beziehung gegenseitigen Vertrauens, in der private Angelegenheiten diskutiert und geheim gehalten werden können, ist zu einem Hauptgedanken in der Philosophie der Beratung und der Untersuchungen in Uganda geworden. Damit die Patienten Vertrauen aufbauen, müssen die Tests freiwillig sein.
Vertraulichkeit ist eine Mischung von Vertrauen und Diskretion. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist jedoch der Begriff Vertraulichkeit häufig synonym mit dem Begriff Anonymität. Klienten, die kommen, um sich testen und beraten zu lassen, sollen unerkannt bleiben, ohne Namen, besondere Identität, Charakter oder Merkmale. Ziel ist, dass der anonyme Patient sich als Person für den Blick der Öffentlichkeit auflöst; sie soll das Individuum nicht länger identifizieren können. Vertraulichkeit bedeutet auch, dass der Informationsfluss beschränkt wird. Aber die Person bleibt eine Person. Sie steht in Beziehung zu Menschen, durch die Vertraulichkeiten enthüllt werden können.
Wie schwierig das im Alltag ist, zeigt die folgende Szene. Bei der Begleitung eines afrikanischen Freundes zum HIV-Test, stießen wir auf einen uns ebenfalls gut bekannten Gesundheitsarbeiter. Auf die Bitte, er solle dieses Zusammentreffen vergessen, um die Anonymität unseres Freundes zu wahren, antwortete er: »Auch wenn ich sehen würde, wie du meine Ehefrau zum Testen begleitest, kann ich keine Notiz davon nehmen oder etwas darüber sagen.« Später weigerte sich seine erkrankte Frau, einen HIV-Test machen: »Sie lehnt ab, sich hier im Krankenhaus testen zu lassen«, sagte er. »Jeder kennt sie.«
Das Dogma der Anonymität bedarf aufwändiger Geheimhaltungsmaßnahmen bei der Protokollierung. Der Leiter der NGO, der die Gesundheitsberater der Dörfer bei der Nahrungsmittelverteilung im Krankenhaus ausschimpfte, weil sie die Listen der Patienten aus anderen Dörfern eingesehen hatten, wollte unbedingt Anonymität herstellen. Aus diesem Grund ist das Verfahren im AIC-Büro höchst umständlich. Klienten erhalten eine Identifikationsnummer und werden in einem Registrierbuch festgehalten. Auf einer Doppelseite werden in Spalten das Datum, die ID-Nummer, das Testergebnis, das Geschlecht, der Beruf, die Bildung, die Religion, das Dorf und der Name der Mutter, nicht aber der Name der Person selbst, aufgezeichnet. Diese Registrierbücher sind nahezu heilige Objekte. Sie enthalten Informationen über Hunderte Klienten. Positive Testergebnisse werden in roter Farbe notiert: REACTIVE. Zusätzlich zu diesem Register gibt es ein anderes Buch, in dem die ID-Nummern und die Namen der Klienten aufgelistet werden, so dass es faktisch eine Liste der HIV-positiven Klienten gibt. Jeder Klient, der sich testen lässt, erhält eine rosafarbene Karte, die er aufbewahrt; auf der Karte steht kein Name, nur das Testdatum und eine Nummer. Wenn Klienten wegen einer Behandlung zurück kommen, oder wenn sie eine Weiterempfehlung an eine NGO bekommen möchten, die materielle Hilfsgüter austeilt, müssen sie dem Berater die rosafarbene Karte vorlegen. Dieser überprüft dann anhand des Registrierbuches, ob der Test positiv war. In solchen Fällen steht dort der Code »für weitere Unterstützung«. Er zeigt ein positives Testergebnis an und bewirkt damit das Recht, einer NGO für positive Personen beizutreten oder das Angebot auf materielle Unterstützung wahrzunehmen.
Dieses aufwändige Verfahren steht im Gegensatz dazu, dass die Menschen unter den Augen der Öffentlichkeit vor dem AIC-Büro warten müssen. Jeder, der vorbei geht, kann sehen, wer da auf den Bänken sitzt. Da die Berater auch ihren regulären Pflichten als Krankenhauspersonal nachgehen, müssen Klienten außerdem oft auf den Stationen und in den Abteilungen nach ihnen suchen. In einem Krankenhaus, in dem der beliebte Berater gleichzeitig Zahnarzt ist, sieht man häufig Klienten vor dem Zahnarztbüro sitzen, während er Zähne zieht. Danach nimmt er dann den lumpigen Plastiksack mit dem heiligen Registrierbuch darin und begleitet seine Klienten zum AIC-Büro. Die belebten Korridore und Warteräume des Krankenhauses sind öffentliche Bereiche, da gibt es so gut wie keinen nicht öffentlichen Bereich. Selbst im AIC-Büro stecken ständig Leute ihren Kopf zur Tür herein oder kommen hinein, um mit dem Berater zu sprechen. In der Praxis lässt sich die Anonymität derjenigen, die sich testen lassen möchten, nur schwer bewahren. Nur wer es sich leisten kann, zu einem entfernten Test- Zentrum zu fahren, kann mit Anonymität rechnen. Vertraulichkeit hinsichtlich der Ergebnisse der Tests ist so leichter zu bewahren. Das ändert sich aber, wenn die positiv getestete Person die materielle Unterstützung in Anspruch nimmt, zu der sie berechtigt ist.
Die Zahl der Klienten, die sich freiwillig beraten und testen lassen, ist in Uganda nach einem ziemlich schwachen Start steil gestiegen. Nach dem, was wir in zwei Distrikten im östlichen Uganda herausgefunden haben, steht der Anstieg der VCT in Verbindung mit Projekten, die Menschen mit positiven Testergebnissen eine Art von Unterstützung anbieten. Gesundheitsarbeiter berichten sogar von Klienten, die ein positives Testergebnis haben wollten, um eine Berechtigung für Unterstützung zu erhalten. Im Gespräch mit ugandischen Kolleginnen erzählte eine für ein NGO-Programm tätige Krankenschwester eine ganze Reihe solcher Geschichten über raffinierte Klienten, die bei mehr als einem Programm Lebensmittel und Medizin abholten oder die unberechtigterweise Karten erhalten hatten, nach denen sie positiv waren. Sie behauptete, jemanden entdeckt zu haben, der sich für 10.000 Schilling (knapp 5 Euro) ein gefälschtes Testergebnis von einem Labortechniker gekauft hatte. Solche Geschichten unterstreichen, dass Beglaubigungen und Berechtigungskontrolle beim Testen auf HIV und bei der Beratung nicht überflüssig sind.
Diejenigen, die materielle Unterstützung brauchen, können ihren positiven Status schwer geheimhalten. Nur wer es sich leisten kann, in eine Privatklinik zu gehen, und wer die Plastiksäcke mit Sojamehl, die Seifenstücke und kostenlose Medikamente nicht benötigt, kann seinen positiven Status zumindest für eine Weile verheimlichen. Arme Leute müssen offen darüber reden, um Hilfe zu bekommen. In solch einer Situation wird das Prinzip der Anonymität fraglich, weil die Inanspruchnahme von Kranken zustehenden Leistungen fast ausnahmslos öffentlich geschieht. Wer sich nicht ausweist, kann keine Hilfe bekommen. Trotzdem gibt es Menschen, die es vorziehen, ohne Hilfe zu bleiben, als alle erfahren zu lassen, was der Test gezeigt hat.
aus: der überblick 02/2005, Seite 37
AUTOR(EN):
Susan R. Whyte, Michael A. Whyte und David Kyaddondo
Susan Reynolds Whyte und Michael A. Whyte sind Professoren am Institut für Ethnologie an der Universität Kopenhagen.
David Kyaddondo ist Dozent am Institut für Sozialarbeit und Soziale Verwaltung an der Universität Makerere in Uganda. Die Forschung wurde im Rahmen des Tororo-Gemeinde-Gesundheitsprojekts durchgeführt, das an das Kinder-Gesundheits- und Entwicklungs-Zentrum an der Universität von Makerere, angegliedert ist. Finanziert wurde die Untersuchung durch die dänische Entwicklungsorganisation Danida.