Die Qualifikation für die globale Wirtschaft muß mit Bewußtseinsbildung verbunden werden
Für den weltweiten Wettbewerb um Arbeitsplätze, Investitionen und Marktanteile wird zunehmend auch die Bildungspolitik eingespannt. Dabei wird sie einerseits programmatisch aufgewertet - paradoxerweise zu einer Zeit, da Bildungsangebote in der Praxis privatisiert werden. Andererseits droht das Ziel des globalen Lernens seinen Sinn zu ändern: Es wird zur bloßen Anpassung an die Erfordernisse der globalen, wissensbasierten Wirtschaft. Welche Chance besteht unter diesen Umständen für das alte Ideal des ökumenischen Lernens, das Lernen für eine solidarische Welt?
von Dr. Klaus Seitz
Im Juni 1999 blickte die Weltöffentlichkeit nach Köln - auf das Gipfeltreffen der Regierungschefs der acht führenden Wirtschaftsnationen, den sogenannten G8-Gipfel. Einige der wichtigsten Fragen, die die Weltpolitik an der Schwelle zum neuen Jahrtausend bestimmen, standen auf der Tagesordnung. Doch während die Demonstranten auf den Straßen der Stadt gespannt auf die ersten Signale zur Lösung der Schuldenfrage warteten, verblüffte der G8-Gipfel zunächst mit einer bildungspolitischen Erklärung: Außerplanmäßig hatten sich die Regierungschefs dem Thema Bildung zugewandt und eine Köln Charter zum lebenslangen Lernen verabschiedet. Darin bringen sie zum Ausdruck, daß zur Bewältigung der Anforderungen der Globalisierung verstärkte Investitionen in das Bildungswesen notwendig sind. Die reichen Industrienationen bekräftigen zugleich ihre Absicht, die Entwicklungsländer beim Aufbau effizienter und moderner Bildungssysteme zu unterstützen. Offenbar hatte der Bericht zur desolaten Bildungssituation in den Ländern des Südens, den die britische Hilfsorganisation OXFAM gezielt wenige Tage vor dem Kölner Gipfel veröffentlicht hatte, seine Wirkung nicht verfehlt.
In der Köln Charter wird Bildung als Motor des gesellschaftlichen Fortschritts gepriesen. Sie sei unverzichtbar, um wirtschaftlichen Erfolg, gesellschaftliche Verantwortung und sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten. Auch die vor zwei Jahren erschienene Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusamnenarbeit und Entwicklung (OECD) Education at a Glance hatte die gesellschaftliche Funktion von Bildung - Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, sozialer Fortschritt, Verringerung der sozialen Ungleichheiten - ähnlich umrissen und größere Investitionen in die Fähigkeiten und Kenntnisse der Menschen gefordert. Die Köln Charter bekräftigt erneut, daß jedes Land angesichts der Globalisierung und der anbrechenden weltweiten Wissensgesellschaft den Weg hin zu einer lernenden Gesellschaft beschreiten müsse. Und die Regierungschefs der G-8-Staaten lassen keinen Zweifel daran, daß Investitionen in das Humankapital insbesondere aus wirtschaftlichen Gründen notwendig sind, da Bildung in einer wissensorientierten, globalisierten Ökonomie der Schlüssel zu Beschäftigung und wirtschaftlichem Wachstum sei.
Die letzte große Welle der Bildungsexpansion war Ende der siebziger Jahre verebbt; die Planungseuphorie der Bildungsökonomen, die Qualifikationserfordernisse aus einem angenommenen wirtschaftlichen Bedarf abzuleiten versuchten, war kläglich gescheitert. Seitdem herrschte lange Jahre Stille um den wirtschaftlichen Stellenwert von Bildung und Ausbildung. Mit dem Umbruch der Industriegesellschaften des Nordens in postindustrielle Dienstleistungsgesellschaften auf der einen Seite und den Erfordernissen der Globalisierung auf der anderen geht nun eine Aufwertung von Lernen und Wissen einher: Humankapital wird wieder als wirtschaftliche Ressource erster Güte gewertet. Vor über vierzig Jahren hatte der sogenannte Sputnikschock eine hektische Betriebsamkeit in Sachen Bildung ausgelöst; ähnlich scheint nun der Globalisierungsschock die Bildungsfrage wieder in den Mittelpunkt des politischen Interesses zu rücken. Doch ähnlich wie damals steht auch heute die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Ökonomien im Vordergrund.
Vor allem im Kernland der ersten industriellen Revolution, in Großbritannien, hat man schnell erkannt, daß es einer pädagogischen Revolution bedarf, um die eigene Stellung als Wirtschaftsstandort behaupten zu können. Weil die alten Standortvorteile aus der Zeit der stofflichen Ökonomie im Gefüge der neuen wissensbasierten Weltwirtschaft keine Geltung mehr haben, setzt New Labour auf eine neue Bildungsoffensive. Die britische Regierung folgt darin den Empfehlungen des renommierten Soziologen Anthony Giddens, der Direktor der London School of Economics und Berater von Tony Blair ist. Im Mittelpunkt des von Giddens propagierten "Dritten Wegs" zwischen Sozialismus und Neoliberalismus steht die Aufwertung des Humankapitals.
Die proklamierte Bildungsoffensive geht wider Erwarten nicht zwangsläufig mit einer Erhöhung der staatlichen Bildungsausgaben einher - in der Regel steht gar eine drastische Kürzung der staatlichen Bildungsinvestionen an. Im Norden wie im Süden versuchen die Staaten, ihrer gewachsenen bildungspolitischen Verantwortung durch einen Umbau der Bildungsstrukturen Rechnung zu tragen. Paradoxerweise mündet dies häufig in eine Privatisierung weiter Bereiche des Bildungswesens. Mit der Dezentralisierung des Bildungswesens geht die Überführung des öffentlichen Bildungssystems in einen Dienstleistungssektor einher, der zunehmend marktwirtschaftlichen Mechanismen unterworfenen wird, was derzeit in so unterschiedlichen Ländern wie Schweden und der Türkei beobachtet werden kann. Bildung wird als Ware begriffen, die auf einem privaten Markt gehandelt wird. Hinter den allgegenwärtigen Slogans von der "lernenden Gesellschaft" und dem "lebenslangen Lernen" verbirgt sich der Beginn einer gigantischen Kommerzialisierung von Bildung und Weiterbildung. Die Globalisierung verschärft den internationalen Wettbewerb, und marktkonforme Qualifizierungsprogramme werden als entscheidende Faktoren gesehen, um in diesem Wettbewerb bestehen zu können.
Wenn heute von der Internationalisierung der Bildung die Rede ist, sind in den einschlägigen Dokumenten vor allem zwei Dinge damit gemeint: zum einen die Förderung von Schlüsselkompetenzen der internationalen Kommunikation, darunter in erster Linie Fremdsprachenkenntnisse, und zum anderen die wechselseitige Anerkennung von Bildungsabschlüssen zwischen den Staaten. Internationale Bildung zielt auf die Vermittlung von Qualifikationen, die die heranwachsende Generation braucht, um den Anforderungen gewachsen zu sein, die ein internationalisierter Arbeitsmarkt und eine globalisierte Wirtschaftswelt an sie stellen.
Dieses pragmatische Konzept einer internationalen Erziehung hat mit der idealistischen Tradition, wie sie insbesondere im Rahmen der entwicklungsbezogenen Bildung und des ökumenischen Lernens vertreten wird, zunächst wenig gemein. Während diese sich der Förderung der weltweiten Solidarität und der Völkerverständigung verschrieben hat, zielt jene in erster Linie auf die Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Diese unterschiedlichen Ziele müssen nicht zwangsläufig zueinander in Widerspruch stehen; schon der klassische Liberalismus hat die These aufgestellt, daß die wechselseitige Abhängigkeit, die sich aus dem internationalen Handel auf einem freien Weltmarkt ergibt, der beste Garant für die friedliche Kooperation zwischen den Völkern sei.
Wenngleich die heutigen Konzepte eines globalen Lernens, wie sie in den entwicklungspolitischen Organisationen und den kirchlichen Bildungseinrichtungen vertreten werden, dem Leitbild der weltweiten Solidarität verbunden sind, so verdanken sie sich doch ursprünglich ganz anderen Impulsen: Das Programm einer global education wurde in den sechziger und siebziger Jahren in den USA entwickelt, als US-amerikanische Politiker und Manager höchst besorgt waren über den provinziellen Bewußtseinsstand der amerikanischen Jugend. Die spärlichen internationalen Kenntnisse der amerikanischen Bevölkerung schienen den Anforderungen, die an eine politische und ökonomische Weltmacht gestellt werden, nicht länger angemessen. Die Förderung internationaler Bildung war eingebettet in die Bestrebungen der USA, ihre hegemoniale Stellung in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht auszubauen. Bezeichnenderweise lassen sich in der preußischen Kulturpolitik gegen Ende der Epoche des Imperialismus ähnliche Argumente zur Begründung einer "weltpolitischen Bildungsarbeit" belegen: Bei einem "Weltvolk", so erklärte der preußische Kultusminister C.H. Becker 1917, zählten Auslandskenntnisse zum unverzichtbaren "Rüstzeug".
Die Skepsis, die viele Pädagogen aus dem Süden der europäischen Diskussion um ein "globales Lernen" entgegenbringen, hängt mit der historischen Erfahrung zusammen, daß die kolonialen wie die neokolonialen Mächte ihre Herrschaftsansprüche immer wieder mit dem Deckmantel weltbürgerlicher Ideologien umgeben haben. Ist das Globale Lernen zuletzt auch nur ein hegemoniales Konzept, mit dem die selbsternannten Kosmopoliten des Nordens ihr Ansinnen, sich die Welt wirtschaftlich, politisch oder kulturell anzueignen, humanistisch verklären?
Keinesfalls leiten nur die Staaten des Westens unter dem Druck der wirtschaftlichen Globalisierung eine internationale Neuorientierung des Bildungswesens ein. Vor allem in den ostasiatischen Nationen steht die Bildungspolitik im Zeichen der Globalisierung. Der japanische Nationalrat für Bildungsreform hat schon im Jahr 1987 den Umgang mit den Folgen der Internationalisierung zu einem zentralen Leitproblem der anstehenden Bildungsreform erklärt. Und auch Singapurs Informationsminister George Yeo bekräftigt den Stellenwert von international ausgerichteter Bildung mit dem Argument: "Wir können keine Handelsnation sein, wenn wir nicht zugleich Kosmopoliten sind."
Während sich Entwicklungs- und Friedenspädagogen noch darum bemühen, dem Begriff des Globalen Lernens im bildungspolitischen Diskurs zur Geltung zu verhelfen, hat sich im Sprachgebrauch der Wirtschaft und der kommerziellen Bildungs-Dienstleister bereits eine andere Bedeutung von global learning durchgesetzt. Das wird hier nicht als pädagogische Förderung von globaler sozialer Verantwortung, sondern als long distance learning begriffen. Hier bedeutet Globalisierung des Lernens, daß ich mir an jedem beliebigen Ort via Internet von privaten Bildungsagenturen überall auf der Welt Lernmodule ins Haus holen kann. Der Terminus ist bei Lichte betrachtet zynisch, wird doch die überwiegende Mehrzahl der Weltbevölkerung von der Nutzung entsprechender Lernsysteme weitgehend ausgeschlossen bleiben. Trotz der fulminanten Wachstumsraten des Internet werden nach dem jüngsten UNDP-Report auch im Jahr 2001 höchstens 700 Millionen Menschen über die technischen und finanziellen Möglichkeiten verfügen, dieses Kommunikationsnetz zu nutzen. "Bildung für alle" im Sinne der Empfehlung der Weltbildungskonferenz in Jomtien (1990) wird sich mit dergleichen technologischem Rüstzeug jedenfalls nicht annähernd erreichen lassen.
Die Begründung für die umfassende Bildungswende, die in den nächsten Jahren unter dem Etikett des "lebenslangen Lernens" ansteht, beschränkt sich jedoch nicht allein auf wirtschaftliche Argumente. Daß ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Bildung und Beschäftigung besteht, könnte der Öffentlichkeit in Zeiten des "jobless growth" auch kaum mehr plausibel gemacht werden. Jedenfalls ist heute ein erfolgreicher Bildungsabschluß in keinem Land der Welt mehr ein Garantieschein für eine adäquate Erwerbstätigkeit. Die Charta des G8-Gipfels bringt daher zusätzliche Argumente ins Spiel: Bildung soll auch zum Abbau sozialer Ungleichheiten und zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts beitragen.
Die Grundlagen, auf die sich dergleichen Erwartungen stützen, sind höchst zweifelhaft. Bildungssoziologische Studien machen darauf aufmerksam, daß das Bildungswesen in der modernen Gesellschaft in der Regel Differenzierungsprozesse beschleunigt und Ungleichheiten verstärkt. Zwar mag ein öffentliches Schulwesen im günstigsten Fall Chancengleichheit gewährleisten und somit Karrierechancen ein Stück weit von Herkunft, Schichtzugehörigkeit und Einkommen entkoppeln. Indes produziert das Bildungssystem gerade gesellschaftliche Unterschiede, wählt Karrieren aus und verteilt Statuspositionen. Diese soziale Auslesefunktion ist ein grundlegendes Kennzeichen des modernen Bildungswesens.
Die weltwirtschaftliche Entwicklung hat die Ungleichheiten in der Verteilung der weltweit erwirtschafteten Werte und Einkommen in dramatischer Weise verschärft. Die Kluft zwischen den Nutznießern und den Leidtragenden der ökonomischen Globalisierung vertieft sich von Jahr zu Jahr; ohne sozialpolitische Ausgleichsmechanismen auf globaler Ebene ist eine Kehrtwende undenkbar. Die Erwartung, daß Bildung unmittelbar dazu beitragen könnte, der Zunahme ökonomischer Ungleichheit Einhalt zu gebieten, ist verfehlt.
Bildung taugt auch nicht als Instrument des Krisenmanagements, wenn es darum geht, der gesellschaftlichen Desintegration entgegenzusteuern. Individualität und Mobilität, Eigennutzdenken und Leistungskonkurrenz werden auf dem Markt, auch auf dem Bildungsmarkt, als Tugenden gefeiert. Da wirkt es reichlich absurd, wenn den Schulen die Aufgabe zugedacht wird, die desintegrierende Wirkung des sozialen Wandels durch Appelle an Solidarität und Gemeinschaftsbewußtsein zu kompensieren. Bildung wird kläglich daran scheitern, Werte zu vermitteln oder gar herzustellen, die in der Gesellschaft nicht gelebt werden. Und abgesehen davon wird sich, allen Hoffnungen auf ein universelles Weltethos zum Trotz, der weltgesellschaftliche Zusammenhalt nicht über einen Kanon an gemeinsam geteilten Werten stiften lassen.
Doch die Erwartungen an die kompensatorische Funktion der Bildung sind groß. Seit Mitte der siebziger Jahre dringt langsam ins Bewußtsein, daß die meisten großen Probleme, mit denen sich die Weltgemeinschaft am Ende dieses Jahrhunderts auseinandersetzen muß, globalen Charakter angenommen haben. Seitdem überschlagen sich die Forderungen nach einem Beitrag der Pädagogik zur Bewältigung globaler Krisen. Ob es sich nun um Studien des Club of Rome, um die Agenda 21 der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung von 1992, um die Beschlüsse des Weltsozialgipfels von 1995 oder um die Jahresgutachten des wissenschaftlichen Beirates der deutschen Bundesregierung zu globalen Umweltveränderungen handelt - der Ruf nach mehr und besserer Bildung als einem der Schlüsselinstrumente zur Bewältigung globaler Probleme ist allgegenwärtig. Mehr Umweltbewußtsein und mehr ökologische Handlungskompetenz, mehr Menschenrechtsbewußtsein, mehr soziale Verantwortung, mehr Sensibilität für Geschlechterfragen, mehr Risikoakzeptanz und mehr vorausschauendes Denken sind gefragt, um das Versagen der Politik auszubügeln.
Den Pädagogen mag diese ungeahnte Aufwertung nach Jahren des bildungspolitischen Dornröschenschlafs zunächst schmeicheln - auch wenn die tatsächliche Politik dazu im Gegensatz steht, wie die Streichung von erziehungswissenschaftlichen Lehrstühlen, die Kürzung von Bildungs- und Forschungsetats oder weniger Neueinstellungen von Junglehrerinnen und Junglehrern zeigen. Doch mit dem humanistischen Bildungsideal hat die Forderung nach einer lernenden Gesellschaft nicht mehr viel gemein. Schon der Lernbericht des Club of Rome aus dem Jahr 1979 führte auf den heute beschrittenen Holzweg: Das Dilemma, so hieß es dort, bestehe darin, daß die schleppende Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten mit der exponentiell wachsenden und selbstverschuldeten Komplexität der Folgen menschlichen Handelns nicht mehr in Einklang stünden. Der Mensch müsse daher lernen, sich der komplexen ökonomischen und technologischen Entwicklung anzupassen.
Diese Variante globalen Lernens kann man als "globalistisches Modell" vom "ökumenischen Modell" unterscheiden. Die ökumenisch inspirierte pädagogische Tradition stellt dem instrumentell verkürzten Verständnis vom globalen Lernen die Utopie einer anderen, einer verantwortlichen Weltordnung als Leitvorstellung entgegen. Ökumenischem Lernen kann es gerade nicht um die bloße Anpassung der Lernenden an die selbstgeschaffenen Zwänge der Globalisierung gehen, sondern darum, die Kompetenz dafür auszubilden, aktiv an einer ethisch begründeten Gestaltung der globalen Verhältnisse teilzunehmen. Und anders als beim globalistischen Konzept wird das ökumenische Denken von der Anerkennung der Pluralität der Perspektiven, der dialogischen Auseinandersetzung um gemeinsame Lösungen geleitet. Insbesondere sollen auch jene Stimmen zu Gehör gebracht werden, die sich im globalen Wettbewerb nicht erfolgreich zu artikulieren vermögen. Die ökumenische Vision von der Einen Welt erhebt nachdrücklich Einspruch gegen die herrschenden globalen Verhältnisse und plädiert für eine andere Globalisierung, eine Globalisierung der Solidarität. Dem globalen Lernen wird dabei die Aufgabe zugedacht, die Augen und das Gewissen für die Unzulänglichkeit der bestehenden Ordnung zu öffnen und die Lernenden zur Gestaltung einer anderen, gerechteren Form des menschlichen Zusammenlebens zu ermutigen.
Ernst Lange befand sich vor dreißig Jahren mit seinem Appell, dem die entwicklungsbezogene Bildung der Kirche bis heute verpflichtet ist, noch im Widerspruch zum Zeitgeist: "Das christliche Gewissen muß sich einleben in den größeren Haushalt, in den es von Anfang an herausgefordert, in den es von Anfang an orientiert war, den Haushalt der bewohnten Erde". Mittlerweile ist die Erfahrung, in einem globalen Dorf zu leben, zum Kern der Selbstbeschreibung unserer Epoche geworden - und genau dies wird heute, ganz anders als zu Langes Zeit, als Problem, Verunsicherung oder gar Bedrohung empfunden. Die Erfahrung, daß nichts, was sich auf unserem Planeten abspielt, mehr ein örtlich begrenzter Vorgang ist, scheint sich gewissermaßen hinter dem Rücken der ökumenischen Bewegung durchgesetzt zu haben. Im Zeitalter der Globalisierung kokettieren die global players mit dem Anspruch, die wahren Weltbürger zu sein, und Ferntouristen geben die echten Ökumeniker, die sich im gesamten entgrenzten Globus zu Hause fühlen.
Ökumenische Didaktiker machen zu Recht darauf aufmerksam, daß die Ausbildung eines weltbürgerlichen Bewußtseins nicht automatisch mit der Zunahme der weltweiten Mobilität einhergeht. Die Ergebnisse der interkulturellen Austauschforschung lassen ebenso wie die vorliegenden sozialpsychologischen Studien über Einstellungsänderungen im Ferntourismus vermuten, daß die Ausbildung von interkultureller Kompetenz, das Aufbrechen ethnozentrischer Weltbilder und die Motivierung zum entwicklungspolitischen Engagement sehr voraussetzungsreich sind und zusätzlicher, reflektierender Lernerfahrungen bedürfen. Die Internationalisierung von Ausbildung, Kommunikation, Arbeits- und Konsumentenmärkten allein stiftet so gesehen noch keine globale Gemeinschaft, zumal nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung unmittelbar an ihr Anteil hat.
Mit der Konzentration auf ethische Gewissensbildung, die auf die Universalisierung der christlichen Nächstenliebe zielt, läuft das ökumenische Lernen indes Gefahr, in einer gesellschaftlichen Nische zu verharren. Die Bedeutung konkreter Handlungskompetenzen und Schlüsselqualifikationen, die zum Bestehen in einer globalisierten Lebens- und Arbeitswelt befähigen, wird von der idealistischen Tradition des globalen Lernens unterschätzt. Während kein Mangel an anspruchsvollen Lernzielkatalogen herrscht, die unter dem Stichwort der "Weltverantwortung" uneinlösbare ethische Anforderungen an das Individuum formulieren, sind didaktische Konzepte eher die Ausnahme, die die Ansprüche ökumenischen Lernens mit den Kernaufgaben allgemeinbildender und beruflicher Schulen verbinden - nämlich kulturelle Basistechniken und Schlüsselkompetenzen zu vermitteln. So nimmt es auch nicht Wunder, daß sich die entwicklungsbezogene Bildung trotz des Engagements von Kirchen, nichtstaatlichen Organisationen und Basisgruppen kaum im Bildungssystem zu etablieren vermochte und im bildungspolitischen Kontext noch immer als Gesinnungspädagogik belächelt wird.
Die geringe Bedeutung des entwicklungspädagogischen Diskurses offenbart sich zum Beispiel derzeit in dem von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung aufgelegten Modellprojekt "Bildung für eine nachhaltige Entwicklung". Mit diesem Projekt sollen die bildungspolitischen Forderungen, die sich aus der Agenda 21 ergeben, mit erheblicher Verspätung in Deutschland eingelöst werden. Das Programm blendet die entwicklungspädagogische Dimension weitgehend aus und stützt sich statt dessen auf die Errungenschaften der Umweltpädagogik, der es weit eher gelungen zu sein scheint, Anschluß an die Anforderungen der Schulentwicklung zu halten und der eher zugetraut wird, Konzepte für praxisrelevante Qualifikationen für das 21. Jahrhundert bereitzustellen. Auch eine jüngst in den USA vorgelegte Studie zum Stand der global education in 52 Ländern der Welt führt vor Augen, daß von einer umfassenden Verankerung des globalen Lernens als Querschnittaufgabe in den Curricula von Schule und Lehrerbildung nicht die Rede sein kann.
Das ökumenische Anliegen wird in der anstehenden Bildungsreform nur dann eine Rolle spielen können, wenn es gelingt, die Sensibilisierung für die internationale soziale Frage mit der Vermittlung jener elementaren Fähigkeiten und Kenntnisses zu verbinden, die die Lernenden für ihre persönliche und berufliche Lebensbewältigung in einer komplexer gewordenen Welt brauchen. Dieses Anliegen verfolgt beispielsweise das von Japan ausgehende Global Issues in Language Education Network, das für didaktische Modelle wirbt, die das Lernen von Fremdsprachen mit einer weltoffenen Erziehung verbinden. Bemerkenswert sind auch die Bemühungen des BMZ, entwicklungspolitische Bildung im beruflichen Schulwesen in Deutschland einzuführen. Und es wäre zu prüfen, inwieweit die ermutigenden Erfahrungen, die seit einigen Jahren im Zuge der SOCRATES-Programme der Europäischen Union mit einer internationalen Kooperation von Hochschulen und Schulen gemacht werden, auch für den weltweiten, ökumenischen Kontext fruchtbar gemacht werden können. Diese Programme zielen gleichermaßen auf die Förderung der innereuropäischen Verständigung wie auf die fachliche Qualifizierung der beteiligten Schüler und Studentinnen und könnten somit ein Vorbild sein für die Verknüpfung fachlichen und ethischen Lernens.
Es ist demnach anzuraten, nach vermittelnden Positionen zu suchen zwischen den Polen einer pragmatischen und einer idealistischen Antwort auf die Anforderungen der Globalisierung an das Bildungswesen. Im Zuge der globalen Vernetzung eröffnen sich enorme Chancen für die Menschheitsentwicklung, sofern es gelingt, den Reichtum der menschlichen Kreativität und Lernfähigkeit zu entfalten. Zugleich markiert die gefährdete Lage der Welt eine anspruchsvolle Bildungsaufgabe. Die Möglichkeit, die Globalisierung zukunftsfähig zu gestalten, ist das "weltgeschichtlich umfassendste Lernprojekt" (Franz Nuscheler).
Doch Bildung kann weder als Hebel der Gesellschaftsreform noch als Politikersatz oder als Mittel für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit unmittelbar in die Pflicht genommen werden. Hier irren die pädagogischen Weltverbesserer ebenso wie die Strategen des Globalismus, die der Bildung die Aufgabe zuweisen, die Versäumnisse der Politik und die sozialen Nebenfolgen der Deregulierung zu korrigieren.
aus: der überblick 04/1999, Seite 83
AUTOR(EN):
Dr. Klaus Seitz:
Dr. Klaus Seitz ist Erziehungswissenschaftler. Er war von 1992 bis 1998 Geschäftsführer des Ausschusses für entwicklungsbezogene Bildung und Publizistik (ABP) der Evangelischen Kirche in Deutschland.